Habe ich je den Hund der Rezeptionistin des Campingplatzes Cambrils vorgestellt? | #zwand20

Auf Keramik steht der Straßenname Carrer dels Hotals neben einer abgebildeten folkoloristischen Figur

Habe ich mich je vorgestellt? Als ich gestern die ersten Einträge zum aktuellen Projekt #zwand20 anschaute, kamen mir Zweifel, ob es stimmig ist, wie ich dieses Buch ‚aufziehe‘. Allgegenwärtig von Anbeginn die Figur Ich. Ich bins, Dein Erzähler. Nimm Platz auf dem virtuellen Gepäckträger. Du kannst mir vertrauen. Wir radeln durch Frankreich bis runter nach Andorra. Du hast doch zwei drei Wochen Zeit, oder?

Auf den beiden Radtouren Zweibrücken-Andorra 2000 und 2010 befinden wir uns auf dem Rückweg.

Blick von einer Terrasse hinab auf einen Campingplatz. Grünes Zelt neben Reiserad mit roten Taschen im Nebel
Aufbruch im Dauerregen auf dem Campingplatz Cambrils in den Pyrenäen.

13. Mai 2010. Der Campingplatz in Cambrils ist sehr sauber. Er liegt auf einer planierten Terrasse oberhalb einer Weide. Ich höre Kuhglocken. Abends quaken Frösche. Ich stecke mitten in den Wolken in einem Bergdorf in den südlichen Pyrenäen. Diese Stille! Sehr sehr selten fahren Autos durchs Tal. Das Waschhaus ist blitzeblank geputzt und beheizt, was auch nötig ist, denn hier oben ist es nicht gerade warm. Als ich gestern Abend ankomme, ist die Rezeption verwaist, zwar abgeschlossen, aber der Schlüssel steckt außen. Die Einfahrt vergittert, daneben eine kleine Tür für Fußgänger. Offen. Ich schiebe das Reiserad rein, elend müde und erschöpft. Harte Serpentinen aufwärts schuftete ich seit etwa Organya über die schmale, kaum befahrene Straße. Der Platz ist so gut befestigt, dass ich kaum die Heringe in den Boden bekomme. Nur zwei großen Haken aus Titan, die ich für solche Fälle dabei habe, kann ich mit Steinen in den Boden meißeln.  Man kann die leichten, breiten Heringe aus US-Army-Beständen auch als Klappspaten verwenden. Den Rest des Zelts befestige ich mit Steinen. Mittlerweile ist auch die Rezeptionistin wieder da. Sie deutet aufs Handy. Kein Netz hier. Man muss auf die andere Seite des Tals, um zu telefonieren.

Die Berge lassen mich nicht los. Folgte ich zunächst dem Rio Segre auf der Hauptstraße abwärts, erwarteten mich kurz hinter Organya wieder Serpentinen. Tausche Dieselrußgestank gegen kaum befahrene, happige Gebirgsstraße. Das kleine Dorf mag bald tausend Meter hoch liegen. Die umliegenden Gipfel haben um die 1500 Meter laut Karte. Mit der Rezeptionistin radebreche ich auf französisch, englisch und katalanisch übers Wetter, das Tal, die Leute, das Handynetz und …

… habe ich je den Hund der Rezeptionistin des Campingplatzes Cambrils vorgestellt? Das brave, gescheckte Tierchen heißt Pippo. Die Frau redet auf so herzige Weise mit dem Hund und erwähnt dabei immer wieder seinen Namen, was das Hundchen schwanzwedelnd quittiert. Es ist zu drollig.

Den Bergen entrinnen im Jahr 2020. Kurs Süd. Knallhart. Ich habe meine Tourpläne geändert und zücke meinen Geheimplan aus der Tasche, den ich mir vor Beginn dieser dritten Reise nach Andorra zurecht gelegt hatte. Was würdest du tun, Herr Irgendlink, wenn du Zeit ohne Ende hättest, Geld in Maßen, wie würdest du zurück reisen, wenn du das Ziel erreicht hast? Per Auto mit Frau SoSo wie im Jahr 2010 (sehr wahrscheinlich). Nicht fliegen, nicht mit dem Zug! Eventuell auf die schnelle, dreckige Art durchs Rhônetal radelnd nach Hause? All diese Möglichkeiten gaukelten vor dem Tourstart in meinem Kopf, aber hinter den Kulissen des Machbaren ist stets noch etwas anderes, etwas mächtigeres, etwas, was dich insgeheim in seinen Bann zieht. Danach musst du suchen im Leben. Das musst du zulassen.

Und es leben, wenn es geht. Und wenn es nicht geht, lebe es in der Phantasie.

Die Ruinenstadt Belchite südlich von Zaragossa steht schon seit bald dreißig Jahren auf der Landkarte meiner zu erradelnden Ziele. Luftlinie gerade einmal gut 200 Kilometer südwestlich von Seo d’Urgell.

Zettel mit Klammer, handgeschrieben: Einkauf für Journalist F., Tante Ute, die Frau Mama und mich (ich will auch was abhaben.
Einkaufen während der Pandemie mit einem Hinweis am Wagen, dass man für mehrere Leute einkauft, um nicht als Hamsterer abgestempelt zu werden.

Der gestrige Tag war anstrengend. 8. April 2020. Zweibrücken. Mittwochs in Zeiten der Pandemie ist mein Einkaufstag. Ich zwinge mich, bewaffnet mit Mundschutz und Desinfektionsspray, hinaus ins Getöse, um für Journlist F., Tante U., die Frau Mama und mich einzukaufen. Dieses Mal sagte die Tante ab. Journalist F. ist stationär im Krankenhaus, benötigt einzig Nikotinkaugummis aus der Apotheke und Kleinigkeiten aus seiner Wohnung. Die Frau Mama braucht Brot und ich habe Milch, Bier, Hefe und ein paar Kleinigkeiten auf dem Zettel. Soweit so gut. Leichter Fall. Edeka des Vertrauens in einem moderat bevölkerten Vorort, aber denkste, du hast die Rechnung ohne den Osterhasen gemacht. Überall Autos, Menschen, Gewimmel, fast wie im Normalbetrieb des Landes. Journalist F. und ich pflegten in solchen Zeiten ausufernder kollektiver Konsumexzesse immer zu lästern, die Leute denken, es gibt nie wieder etwas einzukaufen und rennen sich gegenseitig die Köpfe ein und nun, da ich dies erinnere, denke ich, jetzt ist es so weit. Sie denken es nicht nur, es ist auch möglich, dass es wirklich bald nichts mehr einzukaufen gibt.

Der fette Vorhang der Realität lüftet sich und dahinter tauchen neue Denkweisen, neue Lebensmodelle, neue Routen und Abzweige auf. Es war nicht schön im vorosterlichen Gemetzel. Eine Minute vor Ladenschluss erreiche ich völlig außer Puste, per Radel mich aufs Klinikgelände schleichend, die UKS-Apotheke, um Journalist F.s Warenkorb mit Nikotinkaugummi zu komplettieren. Unterwegs proppenvolle Landstraßen, Autos schlangenweise.

Als bestünde die Welt aus tausend Viren und hinter tausend Viren keine Welt.

Wieder zu Hause. Am heimischen PC schaue ich mir auf der Google-Karte die Strecke Richtung Belchite an. Zunächst würde ich dem Fluss folgen wie im Jahr 2010 bis nach Organya und schließlich abzweigen auf die kleine Seitenstraße, die sich entlang zweier Stauseen schlängelt in Richtung Ponts, etwa 70 Kilometer. Eine ganz normale Tagesetappe. Google hat die Strecke tatsächlich fotografiert. Die alte Straßenführung windet sich wie ein Wurm um die neue, begradigte C-14. Dankbar nehme ich das Angebot wahr und halte mich von der Hauptstraße fern, so gut es geht. Zweige unterhalb der Mauer des Oliana-Stausees ab auf die weniger befahrene LV-5118. Ich verlasse das Gebirge, flankiere kahle frühlingshafte Felder. Google scheint die Gegend in irgendeinem der vergangenen Frühlinge fotografiert zu haben – das passt zum Jetzt.
In kalkigen Stein gehauene Passagen wechseln mit krüppelig bewachsenen mediterranen Wäldchen, stets kurvenreich, so typisch für die iberische Halbinsel. Die Trasse ist meist der Höhengegebenheit angepasst, also ein quälendes Auf und Ab, tendentiell aber abwärts. Nach dem Oliana-Stausee folgt der Rialb-Stausee. Der Fluss ist terrassiert. Das ganze Land ist terrassiert. Die Felder sind terrassiert. Wie monströse Spinnfäden kreuzen Starkstromleitungen. Zwei Wasserkraftwerke in kurzer Folge. Seit einigen Kilometern ein Lastwagen vor der Linse. Mann, Mann, Mann, warum überholt der Google-Fotograf den nicht!? Das Fahrzeug verstellt die Sicht auf die Straße. Ich klicke mich voran, ohne überholen zu können. Schon zieht ein Kleinwagen an uns vorbei und überholt auch gleich noch den Laster. Ein Viehtransport, erkenne ich in einer Kurve. Wir passieren einsame Gehöfte, derb gemauerte Gebäude, deren unverputzte Ziegelwände wie Gefängnisse wirken, es wahrscheinlich auch sind: Ställe. Schweinegeruch hie und da. Das Wetter: pralle Sonne. Nachmittags über zwanzig Grad. Ich muss Sonnencreme auftragen. Die Nase hängt in Fetzen. Deutliche rote Ringe an den Beinen. Seit Andorra trage ich die kurze Radelhose, streife allenfalls morgens zum Aufwärmen die wollenen Beinlinge über, die ich vom Vater geerbt habe. Ach Vater. So lange schon tot. Kilometerweit kurbele ich sentimental durch die karge Gegend.  Gedanken über Schweine auf dem Weg zum Schlachthof, den längst verstorbenen Vater, den Tod im Allgemeinen. Durst reißt mich aus dem trüben Gedankenstrom. Trinken, Junge, viel trinken bei der Hitze!

Abends stehen über 76 Kilometer auf dem Tacho. Beim Mirador Panta biege ich ab und erreiche nach ein paar hundert Metern einen großen Parkplatz mit Aussichtspunkt. Kreisförmige Autospuren auf dem unbefestigten Platz. Die Jugend der Gegend, die sich hier trifft und aus Langeweile und Imponiergehabe Spuren radiert? Oder etwa ein echter Moorlander? Ich muss schmunzeln. Momentan steht nur ein Auto hier. Es ist unheimlich still. Ich bin müde. Ruhe eine Weile, freunde mich mit dem Ort an. Schließlich schiebe ich das Radel einen Pfad hinauf durchs Gebüsch bis zu einem Feld, an dessen Rand ich das Europennerzelt aufbaue. Blick auf die Staumauer des Embalse de Rialb. Leider finde ich nur eine spanische Wikipediaseite, die Auskunft gibt über das Bauwerk. Immerhin verstehe ich, der See ist etwa 1600 Hektar groß und die Staumauer misst fast hundert Meter. Dass es ein Kraftwerk ist, ist klar. Überall Draht und Strommasten, Umspannwerke usw. Ich koche Reiseessen vor dem Zelt, Couscous, eine halbe Zucchini, eine Tomate, Tomatenmark und viel Butter, Pfeffer und Salz. Dazu ein 0.25er Fläschchen San Miguel. Prost!

Ponts gibt nicht viel her, wenn man den Namen in die Suchmaschinenmaske eingibt. Noch nicht einmal eine Wikipediaseite widmet sich dem kleinen Ort. Auf der Google-Karte sind aber Geschäfte, Restaurants und andere kommerzielle Dinge gelistet.

Rings um Ponts:
Ein Modellflugplatz
Motocrossplatz
LKW-Werkstatt
Autowerkstatt
Polizeidirektion (? (Commisario de Destricte de la Policia …))
Monestir de Santa Maria de Gualter, eine Ruine? Touristenparkplatz, Stromleitungen allüberall. Thujabäume am Parkplatz, betonumrandete Trafostation. Alleinestehendes Mülltonnenensemble beim Klosterparkplatz.
Rinderfarm
Mirador de Torreblanca
Mirador Panta (Notizen, 8. April 2020, spätabends)

Ich verbringe den Abend recherchierend am Rechner, mache Notizen, öffne etliche Webseiten, meist von Wikipedia, oft auf Katalanisch. Fertige Screenshots aus der Google-Streetview, speichere sie im Projektordner zwand20 auf der heimischen Festplatte. Ich weiß nicht, ob ich sie legal verwenden darf hier im Blog. Vermutlich nicht. Verflixtes Urheberrecht. Vielleicht merkt sich der geneigte Leser, die geneigte Leserin einmal ein Passwort, nur für den Fall, dass ich den urheberrechtlich bedenklichen Inhalt einem ausgewählten Kreis zeigen möchte: MUTABOR.

Dieser Artikel kommt ohne die Bilder und Screenshots aus.

Heute Tag 24 der Reise. In der Karte ist dieser Artikel beim Mirador Panta oberhalb der Staumauer des Elektrizitätswerks von Rialb gelistet. Im Jahr 2010 starten wir am Tag 24 bei ekligem Wetter in Cambrils, während der Tag 24 des Jahres 2000 auf dem osterlich recht bevölkerten Campingplatz in Amberieux, nördlich von Lyon beginnt. Ich habe der Karte eine weitere Ebene hinzugefügt, in der ich den fiktiven Rückweg über Belchite eintrage. Im Ebenenmenü kann man sie einblenden.

Und nun? Die Reise im Konjunktiv? Conditional Traveler? Hätte hätte Fahrradkette, müsste müsste Nordseeküste. Die Pandemie zwingt einen in eine Warteschleife aus Könntes und Wolltes. Ich hab da mal noch einen kleinen T-Shirt-Shop vorbereitet. Hemden in Zeiten der Corona.

Es gibt kein Anhalten, kein Zurück, es gibt nur noch das Weiter | #zwand20

Mann stützt sich au ein Reiserad neben einem Passhöhenschild Porte d'Envalira 2408. Ringsum liegt hoher schnee. Die Straße ist geräumt

Maschinengewehrgeballer mitten in der Nacht. Endzeitstimmung. Träume vergessen. Hin und her wälzen. Aufstehen. Es dämmert. Wieder ein sonniger Tag, vermutlich. Wie heißt das aktuelle Hochdruckgebiet? Die ewige Sonnenstimmung geht mir langsam auf den Sack. Wir haben April! Es sollten hohe, graue Wolken von Westen übers Land ziehen, die ab und zu Regen, Graupel, Schnee bringen. Aprilwetter adieu. Das ist Maiwetter. Wenn nicht sogar Juniwetter. Fast 25 Grad in der Südwestpfalz. Die lehmige Erde reißt auf, zeigt ihre Wunden. Knoblauch stirbt von Oben. Ich muss täglich gießen. Die Obstbäume blühen. Kaum Insekten, geschweige denn Bienen. Kaum noch Vögel. Nur noch dieser wolkenlose, erbarmungslose Himmel mit dem Schönwetterschmeicheln, das mich umlullt.
Erst kommt das Virus, dann kommt die Angst, dann kommt der Lockdown und hinter allen Mauern pulst die Militärmaschine. Ich habe nie mitgeschrieben, wenn Maschinengewehre ballerten. Der Truppenübungsplatz ist nah. Es kam hin und wieder vor. Vielleicht ist es normal? Fiel mir nur im Standardbetrieb dieser, bis vor Kurzem pulsierenden Welt nicht auf? Dass tagsüber der Flugverkehr von Ramstein übers Land donnert ist vielleicht auch normal? Es klingt nur momentan etwas dramatischer, weil die zivile Welt ruhiger geworden ist, weil die Luftstraße, die von Benelux übers einsame Gehöft nach Osten führt, momentan kaum beflogen ist, weil alles Zivile am Boden bleibt, weil niemand mehr fliegen kann, darf, will …

Campingplatz Gran Sol, 12. Mai 2010. Der Platzbesitzer beginnt um acht Uhr früh mit schweren Maschinen an seinem Schwimmbad zu arbeiten. Ich bin noch total müde. Nicht erschöpft, wie zu erwarten wäre, nur unheimlich müde. Erschöpfung wäre eigentlich der erwartbare Zustand nach der gestrigen Etappe … gegen 20 Uhr erreichte ich Seo d’Urgell, suchte nach den Bildstandorten aus dem Jahr 2000, fand die Platanenallee mitten in der Stadt, an der ich damals das letzte Kunststraßenfoto gemacht hatte und schon war ich wieder raus aus der kleinen Stadt auf der N 260 südwärts. Keine Spur von Erschöpfung, keine Spur, dass ich tagsüber 1700 Meter hinauf geklettert war bis zur Porte d’Envalira. Passfahren liegt mir nunmal. Ich kann mich wunderbar in Serpentinen festbeißen, sie durch stoische Langsamkeit und mit viel Geduld bezwingen, ganz im Gegenteil zu Auf- und Abstrecken, bei denen man nicht weiß, woran man ist, kaum oben, schon wieder unten und so weiter und so fort. […] Bis L’Hospitalet konnte ich im zweiten oder dritten Gang fahren. Mäßiges Verkehrsaufkommen vor zehn Uhr. Pfropfenweise überholten mich Kolonnen langsam fahrender Fahrzeuge, meist LKW oder träumende Touristen mit einem Rattenschwanz von Dränglern. Fast unerträglicher Dieselrußgestank. Vielleicht wäre es gesünder gewesen, wenn ich mir in Ax-les-Thermes zwei Päckchen Gauloises Caporal gekauft und sie im Laufe der Tages auf Lunge geraucht hätte.
Hätte hätte Raucherkette.

Ein reißender Gebirgsbach zwischen städtischem Bebau mit hohen Schutzmauern
Rio Envalira

Ich habe es geschafft. Zweibrücken-Andorra 2010 ist Geschichte. Um 15:24 stehe ich neben dem Schild ‚Porte d’Envalira 2408 m‘ Das Thermomenter zeigt 6 Grad. Die Sonne scheint. Von Unwettern blieb ich verschont. Tag 22 des Kunstprojekts (im Jahr 2000 stand ich schon an Tag 17 hier oben). Ich bitte einen Mann, ein Gipfelfoto von mir und Fahrrad neben dem Schild zu machen. Seine Kinder tollen im Schnee. Der Mann ist Niederländer. Das hatte ich zunächst nicht bemerkt, da er ziemlich gut französisch spricht. Ab nun geht es nur noch abwärts. Andorra ist eigentlich eine schiefe Ebene. Das Land besteht aus ein paar Flusstälern, die sich in La Vella treffen. Keuchte ich die letzten Höhenmeter im ersten Gang durch die dünne Luft, 5 bis 8 km/h langsam, geht es nun rasant mit bis zu siebzig Sachen abwärts. Soldeu, Encamp, Skiorte. Auffällig die vielen Baustellen und mit ihnen Divisionen von Betonmischfahrzeugen, aufwärts im ersten Gang dieselrußstinkend mir entgegen, abwärts als langsames Hindernis ebenso dieselrußstinkend, sonor motorbremsend vor mir. Andorra ist ein Phänomen. Oberflächlich betrachtet ist es ein gigantischer Supermarkt, in dem man allerlei nutzloses Zeug kaufen kann. Zollfrei oder -reduziert heißt das Zauberwort. Ich denke, ein Großteil des Verkehrs rührt vom Tagestourismus all der Komm lass uns mal schnell tanken, Zigaretten und Kaffee kaufen-Leute. Im alten Tagebuch fabuliere ich, dass man die Geschäfte in den Fels gemeiselt hat, sie mit teuren Uhren, elektronischen Gadgets bestückte, eine Glaswand davor, Zigaretten stangenweise, Nutella in 5 Kilo-Packungen, alles in gigantisch, verbilligt … kaufmichtot. In der Tat hatte ich in den Geschäften Probleme, Nahrungsmittel in normalen Portionen für den Tagesbedarf eines Reisenden zu kaufen.

Futuristisch anmutender Glasbau mit spitzem Turm, der einem Pyrenäengipfel ähnelt. Im Glas spiegelt sich der leicht bewölkte Himmel.
Schwimmbad Caldea in Andorra.

Ich fotografiere mich durch die Hauptstadt. Überall Baustellen. Glas und Stahl und Beton neben einem abschüssigen Gebirgsbach, der sich über zahlreiche Katarakte durch ein enges, oft von Betonmauern gefasstes Bett zwängt. Die spanische Grenze bei etwa 700 Höhenmetern. Und weiter abwärts bis nach Seo d’Urgell. Was ich morgens als radlerischen Bausparvertrag Rate um Rate einzahlte in Erster-Gang-Fahren, erhalte ich abends mit satter Dividende ausbezahlt.

2020. Die Sonne steht hinter milchigem Himmel. Acht Uhr früh. Schwingt das Wetter um? Der Tag soll heiß werden. Mittwoch. Eigentlich Assistenztag. Normalerweise würde ich mich mit Atemschutzmaske hinaus wagen in die Welt und für den Freund Journalist F. einen Wocheneinkauf machen. Seit Freitag ist er im Krankenhaus. Erhält Infusionen mit Antibiotika. Es wirkt, sagte er am Telefon vorgestern. Heute keine Einkäufe. Nicht für ihn. Für mich? Ein Packen Toastbrot. Ein Liter Frischmilch. Hefe. Bier.

Die Reise ist zu Ende. Auch die vorliegende virtuelle Umsetzung der Radeltour 2020, die niemals stattgefunden hat? Welches Resümee kann ich ziehen? Spaß hat es gemacht. Anstrengend war es. Zufrieden bin ich. Müde. unheimlich müde. Ein echter Pausentag täte Not.

Eine innere Stimme sagt mir aber, du darfst jetzt nicht aufhören. Bei normalen Reisen in ‚echt‘, wäre es kein Problem, du könntest nach ein zwei Wochen und der typischen post-tourischen Tristesse wieder in den Alltag zurückfinden. Nicht so hier und jetzt. Das IST der Alltag. Wenn du jetzt aufhörst mit dem Schreiben, mit dem Kopfreisen, dann wirst du womöglich verrückt. Da kann man sagen was man will: handele so, wie es die Lesenden gerne sehen würden; handele, wie es der Markt verlangt, triff eine kluge Entscheidung. Hör auf. Lass es!
Es gibt keine Kreuzung an dieser Stelle des Buches. Ich kann nicht nach links, nach rechts oder gar zurück. Ich muss weitermachen. Den Alltag inmitten einer Pandemie meistern so gut es geht. Das Hirn auf Wanderschaft schicken. Ich erinnere mich an eine einzige Etappe, die rein physisch etwa den Zustand spiegelt, in dem ich mich gerade befinde – nicht anhalten können. 2001 rund um die Schweiz. Nachdem ich ab Brig über den Simplon nach Domodossola in Italien geradelt war, folgte das Centovalli. Eine enge, schmale, sehr gewundene Talstraße, die nicht sehr angenehm zu radeln war. Ständig plagte mich die Angst, von einem der nicht gerade zimperlich überholenden flotten italienischen und Tessiner Autos zerquetscht zu werden. Zwischen Felswänden, Mauern und in Tunneln gab es keinerlei Möglichkeit, anzuhalten und mal eine Pause zu machen. Nicht einmal zum Pinkeln. Das relativ kurze Stück, etwa zwanzig, dreißig Kilometer war ein einziger Spießrutenlauf. Vielleicht lässt es sich mit dem derzeitigen Status dieses noch offenen Blogbuchs vergleichen? Es gibt kein Anhalten, kein Zurück, es gibt nur noch das Weiter. Das Augen zu und durch.

Eng ist er geworden, der Alltag. Ich bin fast nur noch am Hof, fälle Holz, mache Garten, erledige längst überfällige Feinarbeiten, Dinge, die ich schon lange einmal hätte tun sollen. Es ist eine Zeit der Fellpflege auch, denke ich. Im galoppierenden Voranschreiten des pandemischen Alltags liegt auch eine unheimliche Form von Ruhe.

Wo stehe ich nach diesem 22ten Reisetag? Im Jahr 2000, mit reisenetappen auf dem Rückweg, habe ich das Rhonetal erreicht. Wildzeltend unter pfirsischbäumen erwache ich in der Nähe von La Roche de Glun nace Valence. 2010 erlebe ich den Schwimmbadbau auf dem Campinplatz Gran Sol, südlich von Seo. 2020 dito Gran Sol, aber im heimischen Bürostuhl. Große Sonne folgt dem gestrigen Supermond. Es wird ein heißer Tag heute. Ich muss Bier kaufen.

Den Marker dieses Artikels setze ich in der Projektkarte auf das Centovalli in Norditalien und dem Tessin. Und: natürlich gab es auch Möglichkeiten anzuhalten auf der schmalen Talstraße. Es ist nur ein Bild.

Andorra verzeichnet heute 545 Infizierte auf der weltweiten Pandemiekarte.

 

Mein inneres altes Muttchen auf dreibeinigem Schemel | #zwand20

Leere, breite, von Schnee geräumte Passstraße scheint bei einer Linkskurve hinter Warnschildern beiderseits und einer Leitplanke in den hellblau bewölkten Himmel zu führen.

6:51 Uhr erwacht. Mit Gehörschutz geschlafen. Das Zelt steht direkt neben den Stromschnellen der Ariège. Ich bin gehörig nervös. Wie wohl auch im Jahr 2000, als ich auf dem selben Campingplatz nächtigte und mich anschickte, die Pyrenäen zu überqueren. 1700 Höhenmeter stehen bevor. Vor zehn Jahren glaubte ich zunächst, es seien nur 1300, da ich Pas de la Casa als höchsten Punkt interpretierte.  Pas ist Pass. Der Skiort ist mit 2000 Höhenmetern in der Karte verzeichnet. Die Passhöhe heißt aber Porte d’Envalira. Sie ist 2408 Meter hoch. Die Vermutung, dass es nun, zehn Jahre später auf der Hauptstraße viel Verkehr haben wird und das wolkenverhangene Tal machen mir Sorge. Kopfgebäude. Manchmal kommt mir die Tour vor, als sei sie nur eine Erinnerung. Als fände 2010 gar nicht statt. Als wäre das alles nur in meinem Kopf. Gegen diese Vermutung, diesen Anflug von Wahn, sprechen allerdings die über 2000 Bilder auf dem iPhone und der D 300, die ich in den letzten 21 Tagen gemacht habe. Alle fein mit Datum und Uhrzeit versehen. Die Bilder des Telefons haben sogar GPS-Koordinaten. Sitze im Zelt, trinke Kaffee. Acht Uhr früh. Will nicht da raus. Will es doch […] (aus dem Tagebuch Zweibrücken-Andorra 2010).

Die Zeit ist ein Teufel. Der Raum ist es auch. Vor allem, wenn der Raum sich in die Vertikale ausdehnt und man mit einem fast fünfzig Kilo schweren Reiserad einen Gebirgspass erklimmt. Ich erinnerte mich, dass die Hauptstraße nach Andorra früh morgens recht ruhig ist. Kaum Verkehr, relativ breit, so dass man einen Radler mit gebührendem Abstand überholen kann. Gegen viertel vor neun bin ich auf der Straße passiere den heißen Brunnen mitten in Ax, der im Jahr 1995 so viel Wasser führte, dass man darin baden konnte wie in einer Badewanne. Nun ist der Wasserstand zu niedrig. Ich bin sowieso zu nervös, um noch einmal in Badehose in das recht große Becken zu hüpfen. Die Straße ist ruhig und sie bleibt es bis elf halb zwölf – merk’s Dir, falls du je noch mal hinaufkurbeln willst. Der frühe Radler fährt in Ruh‘. Schon gleich hinter Ax-les-Themes geht es steigungsmäßig gut zur Sache. Über einen Prolog aus Serpentinen erreicht man eine Art Hochtal bei Mérens les Vals, wo die Strecke wieder flacher wird bis l’Hospitalet. Etwa halb zwölf passiere ich den Ort, gut 1400 Meter hoch. Noch knapp tausend Höhenmeter bis zum Pass. Im Jahr 2000 schaffte ich etwa 400 Höhenmeter, egal wie steil die Strecke ist. 2010 sind es nur noch 300. Ich bin schwerer, älter, behäbiger, ruhe mehr in mir selbst. L’Hospitalet près de l’Andorre ist der letzte Ort vor der andorranischen Grenze, zugleich höchst gelegener Ort der Ariège. Nun windet sich die Passstraße serpentinös, teils mit bis zu zwölf Prozent Steigung, bis zum Skiort Pas de la Casa, dem einzigen Ort Andorras nördlich des Pyrenäen Hauptkamms.

Ein Berghaus aus Natursteinen mit Krüppelwalmdach, frontal gesehen ist über und über mit Graffiti bemalt
Graffiti am Abzweig zum Col de Puymorens

Unterwegs am Abzweig zum Col de Puymorens steht ein einsames Haus, über und über mit Graffiti besprayt inmitten einer Schneelandschaft. Kurze Verschnaufpause in Pas de la Casa. Es gibt einen Straßentunnel. Der war vor zehn Jahren noch nicht. Gutso. Weniger Verkehr. Aber denkste. Es herrscht reger Einkaufsbummel-Pendlerverkehr. Im Skiort gibt es viele Einkaufscenter für Schnickschnack jeglicher Couleur. Fast ist es schwer, einen Lebensmittelladen zu finden.

Das Bild zeigt viel Teer einer sich windenden Straße, ein Auto. Im Drittel darüber sind zwei rote Tankstellen zu sehen vor leicht bewölktem Himmel.
Zwischen dem Ort Pas de la Casa und der 400 Meter höher gelegenen Passhöhe finden sich einige Tankstellen an der kurvenreichen Passstraße nach Andorra la Vella.

Durch den Ort führt eine kurze flache Strecke bis über die Grenze. Die letzten vierhundert Höhenmeter geht es noch einmal zur Sache bis zur Pforte der Envalira, jenseits derer der gleichnamige Fluss, Envalira, entspringt. Auf den Serpentinen jenseits von Pas de la Casa beginnt der wahre Wahnsinn. Tankstellen. Tankstellen ohne Ende bis hinauf zur Passstraße mindestens vier Tankstellen im Nichts des Gebirgspasses. Fremdkörper mit arabischem schwarzem Gold.  Lunge pumpt. Beine brennen. Hirn rumort. Ein eigenartiges Bild gepumpter Welt. Die füllen Flüssigkeiten, die sie um den halben Globus verschiffen oder durch tausende Kilometer lange Rohre pumpen in riesige Tanks an Orten, an denen solche Tanks nichts zu suchen haben und verkaufen das Zeug an Leute, die das Zeug verbrennen, um hier herauf zu fahren und es zu kaufen. Dieses Spezies hat diesen Planeten nicht verdient.
April 2020. Ich irre umher in der Zeit. In diesem Artikel schreibe ich über den gerade stattfindenden Reisetag des Jahres 2010. Bisher hatte ich in jedem Artikel die Tage zuvor ‚behandelt‘. Wie ich dies auch während der Reisen meist so gliedere. Morgens oder nachts schreibe ich die Erinnerungen an den Reisetag zuvor. Wieso ist das jetzt anders? Im Tagebuch 2010 erkenne ich einen ähnlichen Bruch. Das Buch kippt. Die Reise neigt sich dem Ende. Der Blick richtet sich nach vorne. Die Sorgen überwiegen die Unbeschwertheit des Erlebten. Im Tagebuch 2010 schreibe ich an diesem Morgen kurz vor dem Aufbruch:

Wie Nebelschaden am Berg, die sich langsam verziehen, gibt die Vergangenheit Erinnerungsfetzen preis. Manchmal glaube ich, dass die Erinnerungen bei genauerer Betrachtung eine Verknüpfung von verschiedenen Zeitebenen sind. (Der heiße Brunnen in Ax, ich erlebte ihn 1995, 2000 und nun erneut). Dass in dieser Reise sich die Vergangenheit, die Gegenwart und sogar die Zukunft begegnen (sich überlagern). Ich habe oft Deja-Vues; genau diesem oder jenem Menschen bin ich doch auch 2010 begegnet? Wir hatten das selbe Gespräch, ich stelle die selben Fragen, er gibt die selben Antworten.

Diese Tagebuchpassage lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Warum bringe ich die Zukunft mit ins Spiel?

April 2020. Die Nacht war löchrig. Vielleicht ähnlich löchrig wie die Nacht vor zehn Jahren auf dem Campingplatz von Ax-les-Thermes, in der mich das Getöse des Flusses wieder und wieder aus dem Schlaf riss, ich zudem sehr angespannt war und mich kaum beruhigen konnte. Hier und jetzt, im Jahr 2020, wieder einmal 10 Jahre sind ins Land gegangen, plagen mich nach dem 21. ‚Reisetag‘ die Gedanken an das Zurück oder das Weiter. Gegen Morgendämmerung erwache ich und drehe mich grübelnd hin und her. Aber das ist auch gut so. Der Schlaf, sei er noch so löchrig, ist ein Meister der Klärung. Man sagt, das Hirn würde im Schlaf unbewusst die Fäden, die einem im Alltag partout nicht entwirrbar scheinen, sortieren und für Klarheit sorgen. Ich stelle mir ein altes Frauchen vor, das auf einem dreibeinigen Schemel vor einem Spinnrad hockt und geduldig das Gespinst zu einem Faden eint. Immer nachts entsteht das Wollgarn unserer Zukunft, Meter um Meter, geknäuelt und fertig, um am nächsten Tag etwas klarer zu beginnen als tags zuvor.

Es ist kurz nach neun, als ich erwache und mir klar ist: die Sache mit Lind Kernig, der in einer fernen Zukunft auf dem Mond lebt und diese Reise fiktiv weiter schreibt, die lasse ich schön bleiben. Das passt nicht. Würde man Seidenfäden mit Nesseln verwinden? Es setzt mich unnötig unter Druck. Ich habe auch das Gefühl, es sind zwei verschiedene Projekte. Dieses Buch neigt sich dem Ende. Die dritte Reise per Fahrrad nach Andorra, die wegen der pandemischen Reisebeschränkungen unmöglich wurde und am heimischen Bürostuhl als virtuelles Blog-Experiment stattfand (jetzt rede ich schon in der Vergangenheit), steht für sich selbst. Ich bin zufrieden mit der eigentlich gescheiterten Radtour. Ich habe viel gelernt und ich habe mir das Schreiben wieder angewöhnt, das ich im Laufe der letzten beiden Jahre ziemlich vernachlässigt habe. Lind Kernig, sein Zukunftsroman der feinen Künste, ist eine andere Geschichte. Eine Geschichte, die es wert ist, verfolgt zu werden. Das wird mir klar als ich die Notizen lese, die ich mir zu dem Buchprojekt gemacht habe. Ich arbeite daran.

Wie geht es hier weiter? Nun, im Jahr 2010 befinde ich ich mich just mitten im Pass hinauf nach Andorra, werde gegen halb vier die Passhöhe erreichen und in atemberaubender Geschwindigkeit die schiefe Ebene namens Andorra durchqueren.

Blick in die Pandemie-Landkarte des Jahres 2020. Sie listet 525 bestätigte Infektionen. Das Land hat 78000 Einwohner. Der größte europäische Zwergstaat hat eine Fläche von 468 Quadratkilometern. Andorra hat zwei Staatsoberhäupter. Beides ausländische Amtsträger, so Wikipedia: Der Bischhof von Urgell teilt sich das Amt mit dem französischen Präsidenten.

Fast muss ich schmunzeln, als ich das lese, muss an eine Monty Python-Szene denken, in der ein schielender Expeditionsleiter alles doppelt sieht und sich auf eine Expedition zu den beiden Kilimandscharos begeben will.

Fast wie ich mit meinen beiden Zweibrücken-Andorras und dessen beiden Staatsoberhäuptern.

Mein inneres altes Muttchen auf dreibeinigem Schemel macht sich an die Arbeit, an der nahen Zukunft zu spinnen.

Den Kartenmarker des heutigen Blogeintrags lege ich auf den Heißwasserbrunnen in Ax-les-Thermes (Bassin des Ladres). Hoffentlich werde ich darin je wieder baden können.

Die Faszien der Sozialisation | #zwand20

Ein breiter Gebirgsfluss fließt durch eine Stadt mit gut schützenden Hochwassermauern. Eine Brücke verbindet die beiden Stadtteile

Die Tage verlieren sich. Die Zeit verliert sich. Jedes Maß verliert sich. Es findet ein Reset statt, der alles, was per Sozialisation mühsam errichtet wurde und dich als Mensch ausmacht, auslöscht. Geht das nur mir so? Oder spüren andere auch, wie in diesen Tagen die Fundamente, auf denen das eigene Leben zu fußen scheint, wackeln, stürzen, zu Staub zerfallen?
Ich rede mit mir selbst, wie ich es auch auf längeren Reisen manchmal tue. Meist ganz banale Dinge wie: Wir gehen jetzt mal ein Sträußchen Petersilie pflücken im Garten und schneiden noch ein bisschen Minze. Ach, und wenn wir schon raus gehen, bringen wir Kartoffeln mit aus der Vorratskammer. Minzesoße wäre doch ein gutes Abendessen heute. Minzesoße und Kartoffeln. Es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, dass du anfängst mit dir selbst zu reden. Man müsste das mal wissenschaftlich untersuchen.

Dabei bin ich nicht so alleine wie sonst auf Reisen. Natürlich begegnet man auch während Pandemien Menschen. Hausmitbewohnern, Nachbarn. Man telefoniert, Emailt … es sind die Abläufe, die wegbrechen. Die feinen Konstrukte, die das Miteinander ausmachen, die man im normalen Betrieb gar nicht wahrnimmt. Die Faszien der Sozialisation. Ein unterschwelliges Gespinst aus Fetten, das scheinbar keine tragende Funktion hat, wie etwa Muskeln und Knochen, aber als bindende Schicht zwischen diesen liegt. Reibungsloses Miteinander. Ein Traum.

Camping Varilhes. Ich bin einer von sehr wenigen Gästen. Jenseits des Zauns brummt die Hauptstraße. Zehn Uhr früh. Die Sonne kommt raus. Direkt hinter dem Waschhaus fließt die Ariège., ruhig und schnell, etwa 30 Meter breit, ein typischer, gebändigter Gebirgsfluss wie etwa die Aare in Bern. Der Platzwart hat acht Jahre lang im ‚Forêt  Noir‘, gelebt. Forêt Noir, na,schnippst er mit den Fingern, wie heißt das auf Deutsch? Schwarzwald sage ich. Ouiii, Bàden-Bàden. Du musst total verrückt sein, zeigt er mit dem Finger auf mich, bei dem Gewitter zu radeln. Ich konnte mich in einer Waschanlage unterstellen, beruhige ich ihn.
Nie war ich froher, eine Autowaschanlage zu finden als am gestrigen Tag. Just als die ersten Tropfen das massive Unwetter einläuteten, konnte tauchte der Wellblechschuppen auf. Ich filmte das Unwetter. Regen in Bindfäden. Hagel, Blitz und Donner. In Thunder, Lightning or in Rain, shakespeart es in meinem Kopf.

Der gestrige zwanzigste Reisetag im Jahr 2010 beginnt mit zum Greifen nahen Pyrenäen im frühlingsgewittrigen Kleinstädtchen Varilhes. 180 Kilometer nordöstlich erwache ich am 20. Reisetag des Jahres 2000 in einem ockerbraunen Weinberg in der Nähe von Fortignan, am Rand der Bassins, die das Marschland vom Mittelmeer trennen. Vermutlich auf dem Gebiet der Gemeinde Vic la Garidole. Mit großen Tagesetappen befinde ich mich auf dem Rückweg, fotografiere weiterhin und notiere knapp die Standorte und Übernachtungsplätze in mein Journal. Die Kunst endet erst, wenn du wieder daheim bist. Fast bin ich ein bisschen dankbar, dass ich diese Minimaldisziplin im Jahr 2000 wahren konnte. Ich habe die Etappenorte aus dieser Reise in meiner Projektkarte als schwarze Marker eingezeichnet. Wie ich auch die Etappenorte der Rückreise 2010 ermitteln konnte und sie als ‚Crimson‘ (Purpur) farbene Punkte in die Karte setzte. Auch 2010 dokumentierte ich die Rückreise, per Auto nach Bern, in knappen Notizen.
Aber noch ist es nicht so weit. Ich notierte eine Beobachtungsszene ins Tagebuch.

Gestern kurzes Gespräch mit dem Bürgermeister von La Louvière. Von Norden kommend ist die Gemeinde der höchste Punkt, bevor  man das Arriègetal erreicht. Man blickt über eine flache, ländliche Ebene, die von dem Gebirge im Süden gerahmt wird (im Tagebuch steht nicht, worüber wir uns unterhielten, der Bürgermeister und ich; vermutlich aber nicht über das Folgende). Hundeverschissene Telefonzelle vor dem Campingplatz. Hundeverschissener Dorfplatz. Überall liegt Hundescheiße. Und riecht. Ein dickes Frauchen mit Spitz und ein mageres Frauchen mit großem Hund. Ein kräftiger Mann steht nackt am Fenster, jene typischen französischen Landhausfenster mit tiefer Brüstung. Er beobachtet.

Es ist der der 9. Mai 2010. Drei Hexen spuken, ach in meinem Hirn.
Und weiter im Tagebuch:

Hinweisschild Pech 0.5 D 120. Pfeil nach rechts.
Hinweisschild Pech 0.5

Ich beobachte. Wir beobachten. Wir beobachten die Frauen mit den Hunden. Wir beobachten einen androgynen Jungen wie er seinen uralten Lieferwagen repariert. Zwei Mal überquert der Junge den Platz. Wozu? Wir beobachten einander. Keine Ahnung, wer der Superbeobachter ist. Nicht der Nackte, noch ich. Der Superbeobachter ist der, der alles im Blick hat. Den Platz, die Leute, die Hunde, die Scheiße.

War an diesem Tag in dem kleinen Dorf etwa noch jemand? Jemand, der das alles aus seiner Perspektive notierte? Ein extrapolierter, alles überschauender Lind Kernig-Typ, der im Jahr 2410 an einem neunten Mai seiner Archivarbeit nachgeht und sich in belanglosen Geschichten verliert, die sich in einer längst vergangenen Zeit ereigneten.

2020. Nachts im Halbschlaf fabulierte ich an der Figur des Lind Kernig. Langsam wird es ernst, denn, wie schon erwähnt, möchte ich diesen Reisebericht ins Fiktive überführen, wenn ich meinen Erinnerungswanst, den ich mir vor zehn und zwanzig Jahren angefressen hatte, weggehungert habe. Ich habe ein bisschen Sorge, dass das nicht klappt, denn ich müsste, um täglich die ‚Reise‘ weiterzuschreiben, vollends in die Fiktion gehen und das, ohne ein Grundgerüst zu haben. So phantasierte ich im Bett hin und her rollend von einer postapokalyptischen Mondstation namens ‚Zwölfkuppeln‘ (Zweibrücken lässt grüßen), in der sich der Herr Lind Kernig langweilt und in den wenigen erhaltenen Dokumenten einer längst vergangenen Erde stöbert auf der Suche nach unterhaltenden Geschichten. Es manifestierte sich ein Bild einer gr0ßen, durchgetakteten Mondstation, in der sich zwar überleben ließe, aber nicht wirklich leben. Seelennahrung und Geschichten sind Mangelware. Bewegungsfreiheit auf diesem engen, künstlich geschaffenen Raum ist sehr eingeschränkt. Der Kontakt zur Erde und auch der Transport sind seit Jahrhunderten unterbunden. Niemand weiß, welche Bedingungen auf dem einst blauen Planeten herrschen. Im Prinzip eigentlich eine Fortsetzung der Maßnahmen der Pandemieeindämmung, die gerade im Jahr 2020 stattfindet als fiktive Geschichte, die auf dem Mond siedelt.

Gegen morgen schlief ich endlich wieder ein und erwachte kurz nach acht. Agil aus dem Bett. Die Sonne scheint im hier und jetzt. Solch ein Wetterchen gab es meines Wissens Ende März, Anfang April nie.
Ich stieg in die Gummistiefel, fütterte die Hühner. Luftmassen aus Süden ließen die Stadt wummern wie eh und je. Wen Südwind herrscht, drückt es den Stadtlärm wie Brei hinauf zum einsamen Gehöft. Ich war seit Tagen nicht mehr draußen. Noch nicht einmal auf der Landstraße oberhalb des einsamen Gehöfts. Was ich mit den Ohren erfasse deutet jedoch nicht darauf hin, dass die Leute es ernst nehmen damit, nur für das Nötigste aus dem Haus zu gehen. Alleine die vielen Motorräder, die am vergangenen Wochenende vorbei brausten … kann doch nicht sein, dass die Leute alle zum Arzt müssen oder dringend einkaufen oder in Wochenendschichten arbeiten?! Die aktuelle Situation ist wie immer für manche, und anders für viele. Die Manchen brechen den Vielen womöglich das Genick mit ihrem egoistischen Verhalten.

Doch zurück zu Lind Kernig. ‚Ein Zukunftsroman der feinen Künste‘ ist der Arbeitstitel des Buchs. Die Figur Lind Kernig wurde im Jahr 2012 von Bloggerfreund ‚Der Emil‚ erfunden. Ein Anagramm auf Irgendlink. Prächtiger Name, wie ich finde. Die Idee mit der Mondbasis und den perspektivischen Einflechtungen aus der Zukunft in dieses Blog, wuchs im Laufe der Zeit. Wie auch die Idee, eine Art künstlerischen Science Fiction zu schreiben. Problem: Ich habe so etwas noch nie gemacht, eine fiktive Geschichte geschrieben.
Im Grunde meines Herzens bin ich nur ein Beobachter, der den Alltag transkribiert. Deshalb liegt der Fall Kernig seit acht Jahren bei den Akten, im Archiv des ‚Kannst-du-bei-Gelegenheit-mal-Machens‘. Für irgendwann, wenn es keine echte Welt mehr gibt und der Alltag auf einen mathematischen Punkt zu schrumpfen droht. Auf der Festplatte suche ich dieser Tage alle Notizen zusammen, die sich über den Herrn Kernig finden lassen. Im Netz dürften weitere Ideen zu finden sein; in Kommentarsträngen fremder Blogs, sowie auf Twitter (der Herr Kernig hat sogar einen eigenen Twitteraccount).

Den halben Tag forschte ich nach den Bruchstücken meines Zukunftsromans der feinen Künste. Unmöglich, das alles auszugraben und zu sortieren. Ich sollte meine Energie darauf konzentrieren, einfach drauflos zu schreiben.

Es ist, so hoffe ich, wie mit dem Reisen in ‚echt‘ auch. Alles nur eine Abfolge von Begebenheiten, die man auf die Perlenschnur seines Blogges auffädelt.

Die Langsamkeit ist mein Freund. Möge die Geduld mit mir sein.

Der Marker des heutigen Blogeintrags sitzt in Varilhes. Ich gäbe viel darum, wenn die Reise hätte stattfinden können. Wenn ich, statt im Bürostuhl zu sitzen, jetzt das Radel satteln könnte, aufwärts, aufwärts, aufwärts in Richtung Porte d’Envalira.

Nachtrag: Der Emil schreibt in seinem heutigen Blogeintrag übrigens: ‚Zeit findet gerade jetzt nicht statt.‘

Fragezeichen, Telefonbuch und Waschmaschine, Dreigestirn der Gelüste spielwütig glücklicher Aufstrebmenschen | #zwand20

Aufgrauem Blech ist das Wort PAIN mit Schweißpunkten geschrieben

Aufgeschlagene Tagebücher, handgekritzelte Texte, Eierschalen, ein Salzstreuer – wie am Laufenden Band der eigenen Verwahrlosung könnte ich alle Gegenstände auf dem Künstlerbudenschreibtisch aufzählen. Eine Minute, Herr Irgendlink, du hast eine Minute. Alle Gegenstände, die du dir gemerkt hast und in dieser Minute aufzählst, räumen sich von selbst auf … der Schmutz vorm Maul des Ofens, eine zugestaubte alte Briefwaage, ein paar Kornkorken. Das Fragezeichen, vergiss das Fragezeichen nicht! Und das Telefonbuch! Das Fragezeichen und das Telefonbuch sind Klassiker. Die MUSS man nennen. Die kommen immer vor im Laufenden Band. Die Älteren werden die Show mit Rudi Carell aus den 1970ern kennen. Fragezeichen, Telefonbuch und Waschmaschine sind das Dreigestirn der Gelüste spielwütig glücklicher Aufstrebmenschen in frühlingsgrün strotzender Mittelschicht.

Vorbei, vorbei, vorbei. Alles geht den Bach runter. Die Welt verroht. Nicht erst seit der Pandemie. Die Verrohung höhlt die Gesellschaften schon seit Jahrzehnten aus. Außen Schönglanz, Pomp von der Stange, Statussymbölchen und Markenhörigkeit. Innen mit einem Dünnputz Härte und Egoismus versehen. So getüncht ist die gute Seele gewappnet gegen das Elend fernab in der Welt. Dergestalt karomustertapeziert im Gemüt lässt es sich gut hungern lassen, lässt es sich gut Staaten in Korruption versinken lassen, mit deren Machthabern der eigene Staat schöne Geschäfte macht. Die Solidarität unter den Einzelnen, von Mensch zu Mensch, ist nicht erwünscht. Wir teilen die Menschen dieser Erde in Uns und Die. Und Uns teilen wir notfalls weiter in Die, Die und Uns und so weiter, bis alle schön vereinzelt solidaritätsunfähig vor ihren Glotzen hocken und sich mitreißen lassen von den dargebotenen Stimmungen auf den Infokanälen dieser Welt.

Eine Bananenschale, ein Fresszettel, auf dem der Gartensaatplan aufgezeichnet ist, ein paar Stifte und noch ein Fragezeichen.

Mann, Mann, Mann, Kunstbübchen, gehst Du nicht ein bisschen weit mit dem Buch? Das ist ein Reisebericht, Herr Irgendlink, Junge, halt doch ein, komm denen nicht mit solch krudem Zeug. Ich halte Zwiesprache mit mir selbst; ich erwidere: Ta, ta, ta, es ist mein Buch, das muss so, das soll so. Ich habe keine Lust, mich zurückzunehmen und es ist meine Reise. Niemand muss folgen. Niemand muss das lesen. Ich schreibe es. Für mich? Noch nicht einmal. Für Niemanden? Auch nicht. Ich schreibe es. Einfach nur, ich schreibe es. Nicht weil ich es kann, nicht damit es gelesen wird, nicht, weil mir langweilig ist, nicht, um bewundert zu werden. Ich tue es völlig ohne Grund. Wie Reisen ohne Ziel.

Das Ziel löst sich im Laufe solcher Langstrecken-Fahrradtouren mehr und mehr auf. Anfangs noch fix, sagen wir einmal als Ort, von dem man eine Vorstellung hat oder auch nur als Wort, fängt das Ziel im Laufe der Zeit an zu springen. Die Könntes übernehmen irgendwann die Regie auf Reisen wie ich sie mache. Ich könnte links abbiegen, ich könnte rechts abbiegen, ich könnte geradeaus fahren oder zurück. Von Knotenpunkt zu Knotenpunkt fallen Entscheidungen und meist ergibt sich daraus eine Linie, die scheinbar auf ein Ziel hinausläuft. Die Strecken 2000 auf dem Weg nach Andorra und 2010 sind bei weitem nicht identisch. Das sieht man, wenn man sich die hellblaue Linie (2000) und die lila Linie anschaut, die die Abweichungen im Jahr 2010 darstellen. Je mehr man in die Karte hineinzoomt, desto deutlicher sieht man die Abweichungen. Wenn man die Linien millimetergenau gezeichnet hätte, würde man ein Gespinst erkennen. Wenn man exakt die Reifenspuren rekonstruieren könnte, müsste man eingestehen, in wenigen Punkten decken sich die beiden Strecken. Es ist ein Geschneidsel zweier Reifenspuren; der des breiten 26 Zöllers auf dem alten Mountainbike des Jahres 2000  und der des feinen 28 Zoll Reifens des fast neuen Trekkingrads des Jahres 2010. Nie ist etwas deckungsgleich. Es gibt so viele Radtourenspuren auf diesem Planeten wie es Melodienvariationen gibt.

Du schweifst schon wieder ab, Herr Irgendlink – Eine zusammengefaltete Solarzelle, ein zerknülltes Papiertaschentuch, eine leere Weinkiste, die Verpackung eines Schokoriegels, schon wieder ein Fragezeichen.

Lacaze. Ein älteres Ehepaar im uralten metallicblauen R4 stoppt und spricht mich an. Wie auch jener Mann kurz zuvor in Saint Sernin. Die Menschen halten einfach an, mitten auf der Straße, kurbeln die Scheibe herunter für ein kleines Schwätzchen. Woher, wohin. Das Bon Courage der Straßenmitte.

Ein weißer alter R4 im Profil. Auf seine Türen ist die Zahl 12 gesprayt. Die verbeulte Motorhaube ist auch besprayt und ragt ein bisschen nach oben.
Symbolbild eines R 4

Die erste der beiden Kladden, in die ich die Notizen der Reise Zweibrücken-Andorra 2010 schrieb, neigt sich dem Ende. 7. Mai 2010. Über den Col de Peyronnec auf 879 Meter erreiche ich Vabre, weiche von meiner Route 2000 ab, ich glaube, weil ich mich verirrte. Ich erinnere mich noch, dass es dämmerte, als ich einen Weiler namens Bombepanse durchquerte, dass es bedrohlich dunkelte und sich neben der engen Straße im dichten Wald oder auf abschüssigen Wiesen partout kein Zeltplatz finden ließ. Irgendwann hatte das Schicksal denn doch Einsehen. Einem kleinen Waldweg folgend fand ich nach diesem 18. Reisetag ein gemütliches Plätzchen unweit des Städtchens Roquecourbe.

Derweil hatte im Jahr 2000 schon die Rückreise begonnen. Da ich meine Bankkarte nicht mehr hatte, bestritt ich die Reise mit dem Geld der Reiseschecks, das eigentlich für den Rückflug gedacht war. Ursprüngliches Reiseziel war Gibraltar. Ich weiß nicht, ob ich weiter geradelt wäre, wenn ich genug Geld in der Tasche gehabt hätte. So trat ich zügig die Rückreise an, schuftete über Hauptstraßen via Puigcerda nach Bourg-Madame zurück nach Frankreich. Die zweite Pyrenäenüberquerung innerhalb von 24 Stunden. Dem Tal des Têt folgend auf einer Nationalstraße Richtung Perpignan. Außerhalb von Prades zeltete ich am Rand des Flusses – fast wie am Tag zuvor. Mein Faible für trockene Flussbetten?

Der neunzehnte Reisetag beginnt. Samstagfrüh. Nunja, Ihr seht es ja, das Hirn geht auf Wanderschaft. Der Körper sitzt und sitzt. Zwei verstaubte Aktivboxen. Die Ramones dudeln, ein schmiedeeiserner Schürhaken, ein weiteres Fragezeichen und ein leerer Becher Fruchtkefir.

Normalerweise esse ich kein Fruchtkefir. Fruchtkefir ist eindeutig ein Produkt aus Jounalist F.s Einkaufspalette. Wie Kunstmaler, so haben auch Konsumenten eine ganz eigene, eindeutige Palette. Die von Journalist F. kenne ich seit letzten Oktober, seit ich einmal wöchentlich für ihn einkaufe immer besser. Wie ich also in den Besitz von Fruchtkefir komme, ist eine tragische Geschichte. Sie handelt von Aktenbergen und Nichtzuständigkeiten, überlasteten oder unerfahrenen Ärzten, einem geradezuen Gewirre von Ärzten, die aneinander vorbei behandeln wie die Reifenspuren zweier Fahrradreisen im Abstand von zehn Jahren … lange Rede, in den Verwirrungen der medizinischen Behandlungen hatte man übersehen, dass Journalist F. katastrophale Blutwerte hat, die auf eine massive bakterielle Entzündung hindeuten. Irgendwann hatte eine Ärztin, die in der Charité geschult wurde endlich erkannt, wie brisant die Lage ist. Ein Wert, der normal bei vier liegen sollte, lag bei über hundert, weshalb man den Journalisten stationär aufnehmen müsse. So kam es, dass ich gestern seine Krankenhaustasche packe und weil keiner von uns beiden daran glaubte, dass das eine Sache eines kleinen Wochenendaufenthalts werden würde, hieß mich der Freund, den Kühlschrank nach Verderblichem zu fleddern, einzufrieren, was noch in die Truhe passte und den Rest mitzunehmen, um ihn selbst zu verzehren, den Hühnern zu verfüttern oder als temporäres Gästegefriergut in der Truhe meiner Frau Mama unterzubringen. So kam ich in den Besitz von Fruchtkefir.

Als ich die Krankenhaustasche fertig gepackt hatte, fiel uns ein, dass es ja nicht mehr so einfach ist mit dem Besuchen und öfter mal etwas vorbeibringen in der Klinik. Also Tasche umpacken und doppelt so viel von Allem  in den großen Reisekoffer quetschen. Der Reisekoffer ist ein hellblauer Kunststoffkasten, bedruckt mit Freiheitsstatue und weltweiten Sehenswürdigkeiten. Ein bedrückend groteskes Bild vor der eiskalten großen gläsernen Hauptpforte des Klinikums: kleiner Journalist F. in Rollstuhl mit Mundschutzmaske neben fast so hohem Reisekoffer. Wir lachweinten. Der Freund hieß mich, ein Bild zu machen, das er in einem Facebook-Eintrag verwenden wolle.

Herz in den Staub auf dem Künstlerbudenschreibtisch gemalt. Und ein Fragezeichen.

Der heutige Artikel wird in der Karte des Projekts Zweibrücken-Andorra vor der Hauptpforte des kosmodämonischen Uniklinikums gezeigt.

Das wenige Positive: Journlist F. ist Corona negativ getestet. Und er hat ein Einzelzimmer.