Ein simulierter Reiseradlerkünstlertesttag #UmsLand

Ist es die Undurchquerbarkeit der Stadt mit ihren vielen Bordsteinen; den wenn vorhandenen, dann unsinnigen, gar perversen Radwegeführungen; die schnellen Landstraßen am nördlichen Stadtrand; die für Radlerinnen und Radler absolut tabue Ost-West-Hauptachse, die einen dazu zwingt, auf stark überflanierte Wege an den Bächen vorbei am Biergarten und am Schwimmbad zu nehmen? Spießrutenlauf, dein Name sei Zweibrücken.

Zu Beginn der Pandemie gab es ein paar schöne Radtouren, die mich durch die nähere Umgebung führten. Straßenbegebenheiten wie in den 1980ern. Wenig Verkehr, gute Hauptstraße, Rücksicht für ein zwei drei Wochen. Bis zum Rückkehr der sogenannten Normalität.

Die letzten Monate vergingen wie im Flug. Den April und Mai hatte ich mit Buchschreiben verbracht. Zwar nicht fertig geworden und gewiss auch kein Bestsellerformat, aber ein Buch nach meinem Geschmack. Eins für die Halde. Für die Zukunft, wenn das Leben mal stagniert und es nichts mehr zu tun gibt für einen Draußendurchdieweltblogger wie mich. In den letzten Monaten hatte ich ein bisschen das Gefühl, dass der Moment schon gekommen ist, des nichts mehr zu tun Habens draußen in der Welt. Dass ich mich zurückziehen könnte hinter die heimische Tastatur, um alles aufzuschreiben, dass ich die Dinge ins Reine bringe, meinen Frieden mache, einschlafe nach und nach.

Nun fährt der Kunstreaktor wieder hoch. Und mit ihm der (Rad)reisereaktor. Alles was ich getan habe in den letzten zwanzig Jahren geschah unterwegs. Im Sattel des Fahrrads. Nachdem diesen Frühling Zweibrücken-Andorra als virtuelles Projekt recht zufriedenstellend lief, hatte ich noch Radlantix angehängt, und ich glaube, das Buch wird auf der Île de Batz enden, irgendwie mysteriös harukimurakamisch. Radlantix ist sicherlich mein ungewöhnlichstes Blogprojekt, weil sämtliche Blogeinträge frei erfunden sind und man dennoch das Gefühl hat, die Reise habe tatsächlich stattgefunden.

Die Vernunft ließ mich alle Termine absagen und alle Reiseideen einstampfen, die weiter weg führten. Sogar den für diesen Sommer geplanten dritten Abschnitt des UmsLand/Bayern-Projekts habe ich auf Eis gelegt. Über 500 Kilometer Anreise, um in Zwiesel oder in Rosenheim wieder in die Runde um Deutschlands größtes Bundesland einzusteigen ist ja doch ein Brett. Zugfahren mag ich nicht. Zu groß der Stress, Mitmenschen nahe zu kommen, mich mit Maskenverweigerern und sogenannten Covidioten rumzuärgern. Zudem scheint der Direktzug namens Dachstein, der von Homburg durchrauscht bis nach Österreich nicht mehr zu existieren. Bleibt nur noch, vor der eigenen Haustür zu bloggen.

Ein zweites UmsLand/Rheinland-Pfalz. Dieses Mal ohne Unterbrechung der Tour, etwa 16 Tage am Stück Ende August. Die erste Reise im Jahr 2017 mit viel Pressetamtam stand ja nicht gerade unter einem guten Stern. Der Vater lag im Sterben. Und so kam es auch, dass ich drei Tage vor Tourende abbrechen musste. Erst 2019 fortsetzte und erst vor ein paar Tagen habe ich überhaupt die Tourkarte ‚geschrieben‘, sprich die GPS-Tracks der geradelten Strecke in eine Umap integriert.

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Der Plan: Während des Stadtradelns werde ich wie ein ganz normaler Mensch meinem Beruf nachgehen (Bloggen und Kunstschaffen im Sattel) und dabei das Rad nutzen (als ob ich das nicht schon seit zigtausenden Kilometern so mache). Stadtradeln ist eine deutschlandweite Aktion mit der Absicht, Radinfrastruktur zu verbessern und die Menschen spielerisch wettkämpferisch zum Umdenken zu bewegen, zum Umsteigen von Motormobilität auf Muskelmobilität.  Das Stadtradeln findet schon seit ein paar Jahren statt. Zweibrücken nimmt als Kommune heuer erstmals Teil. Ein bisschen stolz bin ich schon, das sich in diesem Quasimodo unter den Radlerstädten doch schon über hundert Menschen angemeldet haben. Trotz hoher Bordsteine und unmöglicher Radwegeführungen.

Problem: in diesem Jahr bin ich noch keine dreihundert Kilometer weit geradelt. Nicht dass ich unfit wäre. Die letzten Wochen plage ich mich jedoch mit unerklärlicher Müdigkeit, die mich manchmal auch tagsüber zum Ruhen zwingt. Unlust loszuradeln.

Muss aber wieder in den Flow kommen, wenn ich die zweite Rheinland-Pfalz-Umrundung machen möchte. Auch Schreiben, den täglichen Blogbericht, der unweigerlich zum Kunst-Reiseprojekt gehört, muss ich erst wieder üben. Was ich hiermit tue, sonntagsmorgens um 4:44.

Der gestrige Tag offenbarte das womögliche Problem. Der Körper ist fit. Aber der Geist verweigert. Den lieben langen Morgen verbrachte ich damit, mir vorzustellen eine knappe 100-Kilometer-Tour in den Pfälzer Wald zu machen. Ziel Saarbacherhammer. Baden, rumliegen, pausieren und dann über die Eselssteig und die Rheinland-Pfalz-Radroute wieder zurück. Es wurde spät und später. Der Mittag ging. Immer noch daheim. Die Müdigkeit übermannte mich. Im Kopf baute ich eine Barrikade nach der anderen. Das ist beim Losradeln immer so faszinierend, dass man sich die Route vorstellt, wenn man sie schon kennt. Der Ekel vor dem Durchqueren der verqueren Stadt; schon das paarhundert Meter lange Stück Landstraße direkt vor der Haustür, ein erstes Linksabbiegen auf einer Strecke, auf der viel Verkehr herrscht und man mit hundert durch eine Siebzigerzone zu rauschen pflegt. Abstoßend. Immerhin hatte ich gegen 13 Uhr die Radlerhose angezogen, stellte mir diese oder jene Steigungsstrecke vor, die zu bewältigen wäre, gähnte, fläzte mich im Gartenstuhl unter dem Nussbaum, überlegte zu schlafen, riet mir selbst aber, ‚quäl dich du Sau‘, saß schließlich doch auf dem Radel, bog links ab, überlebte die Stadt und draußen, südlich nach Frankreich zu radelnd, wurde mir plötzlich leicht um die Beine. Die Kilometer flogen dahin, alle Möglichkeiten waren zurück aus dem Nirvana jenseits der selbst gebauten Barrikaden.

Es ist alles in Ordnung mit dem Körper, diagnostizierte ich. Herz pumpt. Lunge jault, Beine fliegen rund.

Menschen, die auf dem Berg leben, sterben im Tal, sagte ich einmal. Schaffen es einfach nicht mehr zurück. Bleiben im Straßengraben liegen. Gutso. Wenn es bloß nicht in der unsäglich hektischen Stadt geschieht. Es ist die Enge, die Hektik, die einem auf die Pelle rückenden Mitmenschen, die mich so müde machen, die mich in die Knie zwingen. Sobald ich freies Land unter der Kurbel habe, läuft es prima.

Abends zurück, will ich eine Art Tourtag-Simulation. Zur täglichen Arbeit des Reisekünstlers gehört neben Radfahren und Dingen erleben, über die er schreiben kann auch Kommunikation, sowie Lebenserhaltung, sprich Zeltlager aufbauen und Essen kochen. Da es keinen Sinn ergibt, im heimischen Garten das Zelt aufzubauen, lasse ich mir beim Kochen Zeit (gibt lecker Zucchinisuppe mit Ingwer und Backerbsen, sowie Salat) und verschiebe den Blogartikel (diesen hier) auf frühmorgens.

Hiermit wäre dann der gestrige, simulierte Reiseradlerkünstlertesttag abgehakt. Und irgendwie gelungen. So kann es funktionieren. Ende August werde ich aufbrechen UmsLand Rheinland-Pfalz. Dieses Mal gegen den Uhrzeigersinn.

Ein eigenartiger Artikel, der aus dem Ruder lief und erklärt, warum Isomatten.

Überall Haufen voller Reisezeug. In der Küche die haltbaren Lebensmittel, Nudeln für drei Tage, Zwiebel und Zucchini aus dem Garten, Tütensoßen, Gewürze. In der Künstlerbude Schlafsack und Klamotten, Kocher, Handtuch, Waschzeugs. Im Atelier Zelt, Isomatte, die Wasseraufbereitung. Als bahnte sich eine größere Tour an und in der Tat wäre es gut möglich einfach drauflos zu radeln mit der Packliste, ähm, den Packhaufen. Tausende Kilometer weit.

Ich mache das manchmal, Reisesachen auf Haufen legen und träumen. Im Web sehe ich, dass Norwegen bereisbar ist. Entgegen der Annahme, man müsse vierzehn Tage Quarantäne absolvieren, bevor man sich im Land frei bewegen kann, listet die Visitnorway-Seite eine Karte mit Ländern, aus denen man touristisch einreisen darf, ohne zu quarantinieren. Alle angrenzenden Nachbarländer außer Schweden sind grün. Aus grünen Ländern darf man einreisen. Idealer Weise würde man über Hirtshals in Jütland nach Kristiansand schippern, denke ich bei mir. Kurze Strecke, wenig Zeit mit Menschen. Prima bewältigbar auf dem Deck der Fähre, dem Wind ausgesetzt, frischluftumspült, fern von potentiell Erkrankten.

Was so eine Pandemie doch im eigenen Kopf anrichtet. Manchmal denke ich, es ist alles nur im Kopf. Ich kenne keinen Erkrankten persönlich (zum Glück!), noch nicht einmal jemanden, der Erkrankte kennt kenne ich. Wenn es kein Internet gäbe, keine Zeitung, kein Fernsehen, keinen Marktplatz, keinen Tratsch … Informationen, so unsichtbar wie Mikroorganismen, befallen das Hirn und wirken. Beeinflussen einen, lassen einen Entscheidungen treffen. Das große Problem mit den Pandemieinformationen ist, dass ich sie nicht einordenen kann. Dass sie eine Mischung aus paradox und unvollständig sind, sowie schwer zu verstehen.

All die Zahlen! Dieses Land soundsoviele Infizierte, Tote und Genesene, jenes soundso, als ob das so einfach wäre. Warum listet das Land mit über einer Milliarde Menschen kontinuierlich stagnierende Fallzahlen und woanders steigen die Zahlen rasant an? Warum vergleicht man nicht die Gesamtzahl im Kontinent mit den vielen Ländern mit der Zahl des großen Landes im Kontinent jenseits des Atlantiks, sondern gaukelt sich vor, geschönt durch die Einzellandausgabe der Zahlen, es ist doch viel weniger schlimm hier als dort? Und wie riskant ist es, das Haus zu verlassen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit, einem Virus über den Weg zu laufen, es einzuatmen und wieviele Viren sind überhaupt schädlich und und und. Ich habe den Eindruck, andere Menschen können sich auf Basis dieser Informationen ein prima Bild der Lage machen, wissen genau, was ist und was nicht. Was haben die, was ich nicht habe? Das sind doch völlig aus Zusammenhängen gerissene Werte, wie kann man daraus etwas exakt genug berechnen, um eine Meinung zu bilden?

Ich wundere mich schon seit jeher, wie andere Menschen das schaffen, sich ein Bild zu machen. Wie sie sich eine Sicht der Welt schaffen. Im Fall der Pandemie: wie für die Einen wahlweise die Krankheit gar nicht existiert, die Anderen aber sie fürchten (von Außen gesehen muss das doch so wirken, als sei beides wahr). Ein Doublebindproblem. Was wissen die Einen und die Anderen, was ich nicht weiß. Was ist es in dem Informationsdschungel, was sie nicht verwirrt, mich aber in völliger Orientierungslosigkeit meinungslos und ohne vernünftiges Bild dastehen lässt?

Ich habe mich vermutlich extrem verändert in den letzten Monaten. Mich selbst verloren, weiß nicht mehr wer ich bin, okay, das wusste ich auch vorher nicht, beziehungsweise, sehe mich ohnehin nur als eine Variable von Wesen, das mal so, mal so wirkt. Mich als Ich gibt es gar nicht. Sondern nur eine Annahme, die ich von mir selbst habe. Manchmal ist da etwas Stabiles, das mich Ich zu sein glauben lässt. Es deckt sich wohl in den wenigsten Fällen mit den Annahmen, die Menschen haben, mit denen ich es zu tun habe. Menschen, die mehr oder weniger kontinuierlich denken, ich sei ich; also ein fertiges Bild von dem Wesen haben, das vermeintlich ich ist. Paradoxes Sein und Nichtsein. Eigentlich verhält es sich ähnlich wie mit der Pandemie. Da ist jede Menge Information. Manches ist wahr, manches nicht wahr. Das gute und das schlechte Futter und beides nimmt man zu sich. Vermengt es, verdaut, bzw. interpretiert es und ernährt sich davon. Von Gift und guter Nahrung gleichermaßen.

Die Weigerung, Information zu verdauen und Rückschlüsse zu ziehen. Gezielte Meinungslosigkeit, bedingungslose Meinungslosigkeit, weil Meinung doch nur wischiwaschi ist (ist das nicht auch schon eine Meinung). Zu etwas Endgültigem durchdringen, einer finalen Wahrheit. Etwas Unumstößliches. Einer werden. Ich.

Kompliziert. Ich sollte zu den Stapeln an Reisesachen zurückkehren. Die sind greifbar. Man kann sie sich gut vorstellen und Reisesachen lassen keinen Interpretationsspielraum. Es sind Sachen, die so sind wie sie sind und keineswegs Variablen wie etwa Menschen, in denen dies oder jenes vorgeht. So schlicht wie eine Isomatte möchte man manchmal sein. Dann hätte man es geschafft. Dann hätte man eine Identität. Eine Farbe, eine Länge, eine Breite und ein Gewicht und keinerlei Meinung oder Ansicht. Ein völlig neutrales Etwas, das Nichteinfluss nimmt auf den Lauf der Welt, das niemanden manipuliert, nicht gierig ist, niemanden ins Verderben stürzt, keine Bestrebungen hat … keine Blogartikel schreibt.

Status Juli 2020

  • Mit einer vermauerten Tür aus der bis ins Ewige fortzusetzenden Serie ‚Dukommsthiernichtrein‘, startet der Irgendlink-Shop in den Juli.
  • Alle Künstlerauftritte 2020 mit meiner Radelgalerie wurden von Seiten der Veranstalterinnen abgesagt; private ‚Guerilla-‚, bzw. PopUp-Ausstellungen mit der Radelgalerie mache ich frühestens im August.
  • Ich kaufe nur noch mittwochs ein.
  • Gestern eine einzige Ausstellung besprochen – Parkingday in Saarbrücken mit Radelgalerie. Es wird eine tolle Aktion im September.
  • Angemeldet für die Offenen Ateliers Rheinland-Pfalz im September. Heimspiel. Weiß nicht, wie ich den Besuch von Fremden managen sollte. Halte mich seit Beginn der Pandemie bedeckt mit Mitmenschkontakten und treffe nur eine Handvoll Leute, die möglichst auch nur eine Handvoll Menschen treffen.
  • Sehr schwierig mit der Kunst gerade.
  • Im April ein Buch geschrieben mit bald 300 Seiten. Wenn ich es schaffe, mit Kunst kein Geld zu verdienen und trotzdem durchzukommen, wird es auch mit der Literatur gelingen.
  • Apropos Geld: Hab drei Poster mit den wichtigsten Kunst-Literatur-Hybrid-Projekten zu einem unschlagbar günstigen Bündel geschnürt. AnsKap, Gibrantiago und die Flussnoten.
  • Wärmstens empfehlen möchte ich auch den Sampler Dukommsthiernichtrein.

Bei einer Ruhebank ein halber Hund

Wieviele Meter mögen das sein bis zu dem schlanken Stahlträger, auf dem die alte Bahntrasse ruht, der eine kleine Durchfahrt zu dem Gehöft außerhalb der Stadt überbrückt? Deutlich hört man das Surren der Fahrradketten und Elektromotoren. Ab und zu quietscht sich ein eben dem letzten Winter entsprungenes, sträflich ungeschmiertes, altes Fahrrad voran. Es ist mächtig was los an diesem sonnigen Tag, obwohl erst Freitag.

Wie oft bin ich da oben schon vorbei geradelt auf altbekannter Strecke und nun hier, kaum zwanzig Meter entfernt etwas tiefer, zu Fuß unterwegs.

Eine völlig andere Gegend durchwanderten wir in der letzten halben Stunde. Nachdem wir das Auto in der Klosterstadt geparkt hatten, folgten wir dem erstbesten Wanderschild, das zu einer Klamm zeigte. Hofkopfklamm. Über Wiesen, vorbei an Gärten, raus aus dem Dorf und einem Feldweg folgend. Kein Anzeichen von einer Schlucht oder auch nur einem Tälchen, das die Bezeichnung Klamm erfüllen würde. Bei einer Ruhebank ein halber Hund. Ich scherze vor mich hin, das sei mehr als ein halber Hund, was da an braunen Haaren verteilt in der Wiese liegt. Etwas angeekelt setze ich mich auf die Lehne der nicht sehr sauberen Bank, was sonst nicht meine Art ist, aber ein bisschen Egoismus in vorverschmutzter Welt darf auch sein. Oder besser gesagt, nein: dürfte nicht sein! Eigentlich sollte ich die Bank nun putzen, um die vorgefundene Welt ein bisschen besser zu hinterlassen. Es ist eine Richtungsfrage im Kleinen, die hier zur Debatte steht. Putzt du und machst es besser oder schmutzt du mit im kollektiven Dahindriften durch die kaputte Welt.

Der Gedanke, etwas besser zu machen, was man nicht selbst zu verantworten hat, hat etwas von Bedingungslosigkeit. Abstreifen des Alltagskleids, das dir in einer das-war ich-nicht, das-geht-mich-nichts-an-Einstellung ein guter Schutz ist. Sich nackt machen, bedingungslos werden. Ein ungewöhnlicher, ein schwerer Weg. Die Regel ist genau umgekehrt: wenn du etwas in desolatem Zustand vorfindest, mache das Beste für dich selbst daraus, auch wenn du den Zustand dann nur noch verschlimmerst. Wenn vor deinem Mietshaus ein altes Möbelstück liegt, lege getrost ein weiteres hinzu und alle deine Nachbarn werden folgen, bis nach wenigen Tagen schon ein gigantischer Dreckhaufen vor der Tür liegt. Wenn irgendwo im Wald jemand Autoreifen oder einen Kühlschrank abgelegt hat, lege deinen eigenen alten Kühlschrank dazu. Schließlich kommt es ja nicht darauf an, ob die Entsorger nun einen oder zwei Kühlschränke mitnehmen müssen, wenn man sie denn ruft und die wilde Müllablage zur Anzeige bringt. Wenn du eine dreckige Parkbank voller Fußabdrücke und Hundehaare vorfindest, setz dich auf die Lehne und tue die Füße dahin, wo man normalerweise sitzt. Ich bin nicht bedingungslos an diesem Tag. Unsere Schuhe sind allerdings auch nicht dreckig. Und Putzzeug haben wir nicht dabei.

Die kaputte Welt der Verkommnung folgt einer einfachen, unbestechlichen Logik.

Hundert Meter nach der dreckigen Bank zweigt der Wanderweg von der geteerten Strecke ab und stürzt sich in ein wildes Etwas, das auf schmalem Pfad entlang einer Erosionsrinne steil abwärts führt. Die versprochene Klamm. Nur etwa dreihundert Meter über Stock und Stein, aber das ist genug. Taugt zum Abenteuer. Wie schon vor zwei Wochen entdecken Frau SoSo und ich im Altbekannten das Neue. Im Nahen die Ferne und wir basteln unsere, pandemiebedingt eingeschränkte Welt neu auf engstem Raum. Es ist wirklich faszinierend, wie fremd und fern man sich daheim und im oft Durchquerten fühlen kann. Schon stehen wir vor dem einsamen Gehöft, das ich nur von der anderen Seite her kenne. Ein Hof von zweifelhaftem Ruf, auf dem stolz die Deutschlandflagge gehisst ist. Hier von unserer Seite dominiert eher das Wilde in der Behausung. Hinter einer abgebrochenen dicken Pappel wuchert Garten und Feld bis zum abblätternden Putz der Gemäuer. Das Gebäude strotzt vor Umbauten und man steht ehrfürchtig vor mehreren Generationen von Menschenträumen, die hier verwirklicht werden wollten. Unfertig, nie zu Ende gelebt. Wie in fast allen Menschleben, so schätze ich. Nie werden wir fertig mit unseren Plänen, die wir im Leben machen. Mit unseren Sichtweisen der Welt.

Vielleicht ist das der Kern dieses Blogartikels? Kaum zwanzig Meter entfernt, hinaufblickend zur oft beschauten und erradelten Bahntrasse. Der Blickwinkel und der Standort muss sich nur geringfügig ändern und alles sieht ganz anders aus. Das Bild kommt mir gerade recht, denke ich. Gerade recht fürs Finale meines Radlantix-Blogs, in dem es ja im Prinzip auch nur um Sichtweisen einer Welt geht, egal, ob ich nun in ‚Echt‘ unterwegs bin oder alles nur erfinde. Es handelt sich um mehr oder weniger präzise beschriebene Ansichten. Was wir letztlich erleben, ist eine andere Geschichte, die erlischt noch während sie stattfindet.

Ich habe genug gesehen. Ich bin zehntausende Kilometer kreuz und quer durch Europa geradelt. Ich weiß wie es läuft und dass eine Situation, ein Ort, wo auch immer, stets ähnlich zu etwas schon Erlebtem sein wird. Ich weiß, wie das ist, wenn jemand mit quietschender Kette, schwer schnaufend einen Bahntrassenradweg entlang radelt … oder wie es ist, einen Ort in besserem Zustand zu hinterlassen als man ihn vorfand.

Up-To-Date

Gerade zwei Artikel im Radlantix-Blog rausgehauen und nun bin ich wieder up-to-date. Es ist mitunter schwer, mit dem selbst gesteckten Tempo mitzuhalten. Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, die Reise in Echtzeit, bzw. in fingierter Echtzeit in Blogform darzustellen und das bedeutet, dass ich tagesnah erzähle. Ein Rhythmus, täglich morgens die Etappe des Vortags zu schreiben, hatte sich eingestellt und ich konnte ihn mehr oder weniger auch halten. Obschon mir manchmal die Ideen fehlten für den Artikel. Dann dauerte es etwas.

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Alle Artikel in Radlantix und in der Rubrik Zweibrücken-Andorra 2020 sind frei erfunden (relotiert). Eine Ausgeburt der Pandemie, die die tatsächlich geplante Liveblogreise vereitelte.

Nun neigt sich der Atlantik-Abschnitt meiner Reise dem Ende. Seit 54 Tagen bin ich bürostuhlreisend, wikifingierend unterwegs durch Frankreich und Spanien. Auf der Karte sind die Orte und die Strecke skizziert. So könnte es tatsächlich gewesen sein.

Heute gastiert der Artist in Motion auf dem Campingplatz in Huelgoat und tourt durch die Bretagne auf der Suche nach Kirchenkunst. Dann Roscoff. Dann Ende der Tour.

Wie soll es denn weitergehen?

  1. Folge dem Atlantikradweg
  2. Radele auf der ursprünglich geplanten Route über Paris nach Hause
  3. Hör auf
  4. Auf nach Bayern, aber in ‚echt‘ (beim Projekt /Bayern fehlt noch der nördliche Teil)
  5. Schreibe einen fiktiven Roman über einen Archäologen in der Zukunft, der in einer Mondkolonie lebt und auf abenteuerlichen Wegen zur Erde reist
  6. Schreibe einen Krimi namens Circulum Vertikalis
  7. Schaff was, kümmere dich um deinen Shop.

Wie auch immer. Ich mache ja am Ende doch, was ich will.