Im Regen radelnd, die innere Regenbogenflagge gehisst – Tag 20

Von Eggebek in den Auwald

Es ist und bleibt wohl wie am ersten Tag: Eine Irgendwohin-Tour. Wobei der gestrige Tag 20, ein Dienstag, zu den stabileren gehört. Nachdem ich Kurs auf Eggebek und Umkehr gesetzt hatte und Eggebek auch erreichte, war der nächste Schritt logisch: weiter südwärts. Doch je ferner die Zukunft, desto ungewisser. Soll ich einfach weiter radeln? Soll ich in den Zug steigen? Freund L. anrufen, der gerade in Hamburg ist und schauen, ob ich mit ihm im Van ein bisschen südwärts fahren kann? Das klingt verlockend. Er könnte mich nähe Würzburg absetzen und ich würde nach Osterburken radeln und ab dort in der ellenlangen S1, die einmal als die längste S-Bahnstrecke Deutschlands galt, vielleicht ist sie das noch, bis Homburg ausbaumeln.

Müsste mich dann herumtreiben, bis L. vielleicht kommenden Montag retourniert und könnte noch Samstag in Neumünster zur Lesung und Ausstellung von Freund R.. Der würde sich vielleicht freuen!

Der Abend bei M., dem Freund meines Vaters, war goldrichtig. Im Vorfeld hatte ich Bedenken, war aufgeregt, schließlich hatte ich M. und seine Familie, die Frau, die Tochter, den Sohn  vermutlich nur ein zwei drei Mal in Kindertagen gesehen. Ich erinnere mich kaum und eigentlich auch nur daran, dass wir 1978 im ersten Wohnwagenurlaub in Dänemark bei ihnen vorbei geschaut hatten. M. schwärmte an diesem Abend allen vor, die er am Telefon hatte oder die ein und aus gingen, dass da einer an seinem Abendbrottisch sitzt, den er fünfzig Jahre nicht gesehen hatte. So viele waren es nun zwar nicht, aber es kommt fast hin. Irgendwie Sympathie auf den ersten, ne zweiten Blick und ich sage, ich hätte ihn von meinem Vater als Freund geerbt. Er erzählt wie sie sich kennen lernten, nämlich 1976 in A. Er kam per Zug als Aushilfslehrer zur dortigen Landwirtschaftsschule und mein Vater holte ihn vom Bahnhof ab. Dann Freundschaft. Einmal versuchte mein Vater ihn zum Tauchen zu bewegen, aber es ging nicht an ihn ran. Zu kalt das Wasser, zu düster der See, zu eng die Tauchklamotten. Nunja und mein Vater war auch kein Schönwettertaucher. Viele alte und neue Geschichten und über allem gaukelte der Tod und die Vergänglichkeit. M., seine Frau, starb im selben Jahr wie mein Vater. Nach zwei Jahren Krebs und Metastasen.

Morgens zum Frühstück meine Kinderfreundin C. mit am Frühstückstisch. Sehr herzige, vertiefende Gespräche. C. zeigte ein Video von einem Buben, dessen Mutter und seine beiden Drillingsgeschwister sie psychologisch betreut. Kind in Badewanne, das bei ihr einziehen möchte in der Hoffnung auf ein besseres Leben, ich weiß nicht, so rührend, dass mir ganz warm ums Herz wird.

Gegen zwölf wieder auf dem Sattel. Radele südwärts. Tags zuvor hatte ich in Tarp, dem Nachbararot am Bahnhof geschaut, ob ich dort womöglich weiter komme, und ja, das geht, aber meine Bahnapp lässt nur ein Fahrradticket bis zum Ende des Verkerhsverbunds zu. Ich finde auf Teufel komm raus nicht heraus, wie ich ein Langstreckenticket der DB kaufen könnte. Auch am Automaten gibts vermutlich nur die Verbundstickets, die in Hamburg enden. Ich habe keine Lust mich durch drei Verbünde bis Kassel zu buchen und dann den dreifachen Preis für die Radmitnahme zu zahlen. Es ist ohnehin nervig mit Rad in der Bahn und im Grunde genommen, das weiß ich jetzt, bin ich nur deshalb hier und die Reise verlief nur deshalb so, weil mich das Bahnfahren mit Radel und die Ticketungewissheit abschreckte.

Rückenwind. Das Navi routet gut. Nur einmal muss ich für 100 Meter durch den Wald schieben über einen zerfahrenen Moorweg, der zwar als Radroute ausgewiesen ist, aber eigentlich unfahrbar. Beim Militärstandort Jagel, nicht schön, ein paar Kilometer entlang der Bundesstraße, setzt Regen ein. Einsamer Soldat in Tarnkleidung auf weitem Feld an dystopisch wirkender Außerortsbushaltestelle. Rucksack. Der Mann wirkt verdrossen oder angepisst wegen des Regens. Flieger donnern durch die Wolken. Man sieht sie nicht. Ich suche einen Unterstand, eine Bushaltestelle (nein, die Soldatenhaltestelle gegenüber des Standort-Eingangs hatte keine Hütte) und auch im Dorf gibt es keinen Unterstand, radele also über Sandwege weiter ins nächste Dorf. Die neuen schneeweißen Schuhe, die mir M. geschenkt hatte sind nun schon sehr gebraucht und abgenutzt, halten den Regen aber besser ab als meine alten Schlappen. Im nächsten Dorf endlich ein Häuschen. Radel und ich passen rein. Koche Kaffee, esse etwas, mache Lebensmittelinventur, räume das Radel auf, verkabele Geräte zwecks Laden der Batterien. Die Tristesse und die Dauernavigation zehren an den Akkus. Der Son kommt kaum nach mit Laden. Für Handy UND Gopro reicht es definitiv nicht, was ich mit dem Nabendynamo einfahre, aber eben, besser als nix und bei jedem Fetzen Sonne, kommt die Solarzelle raus. Am Tag 20 keine Sonne. Wirklich nicht?

Das Bübchen aus dem Film von C. geht mir nicht aus dem Kopf. Was für ein mieser Start ins Leben: Schlaganfall im Mutterleib, die Mama überfordert, psychisch angeschlagen, Alleinerziehende. Im Kindergarten gemobbt, epileptische Anfälle als Folge des Schlaganfalls, aber so ein munteres Kerlchen. Da kommen mir die Tränen, da wünsch ich mir, ich könnte helfen oder die Menschheit machen, dass sie von Natur aus aus freiem Herzen immer allen hilft und keinen ausgrenzt oder mobbt. Wir sind keine Guten, gewiss, aber es gibt Gute, zum Glück. Hoffe, das Gute gewinnt, tritt um Tritt in die Pedale, mantrisch kurbelnd, die innere Regenbogenflagge gehisst.

Nach dem Bushäuschen weiter im Nieselregen, zu früh, der Regen nimmt wieder zu, rette mich in ein Edekacafé im nächten Dorf, Erdbeerspaghettikuchen: wie Spagehttieis muss man sich das vorstellen, dazu Kaffee. Lasse ein paar Milchportionen mitgehen beim Bestecktisch. Zucker gibts und Milch und Löffel und Tücher. Sollte ich öfter tun. Dann brauche ich mit der Portionierung beim Eigenkaffee nicht immer zu jonglieren. Die Steckdose neben dem Tisch funktioniert nicht. Egal. Hatte bei M. alle Geräte und Akkus aufgeladen. Das Lademanagement ist nicht zu verachten. Mit drei Kabeln und Steckdosenmöglichkeiten musste ich dennoch nachts aufstehen, um schon Volles auszustöpseln und noch Leeres einzustöpseln.

Erst nach 17 Uhr ist das Wetter stabil, kann ich endlich richtig loskurbeln. Noch 70 Kilometer bis zu meinem angedachten Ziel, ein Erlebniswald östlich von Neumünster. Ich wäre um 21:30 etwa dort, sagt das Navi. Unterwegs immer wieder stoppen zum Fotografieren. Die Kimberquelle. Plötzlich ist es bergig und ich kurbele in kleinen Gängen. Sehr schöner Ort, würde ggf. dort wild zelten, aber es scheint ein Wasserschutzgebiet zu sein. Das Wasser schmeckt nach Eisen. Zuvor den Nordostseekanal in Rendsburg überquert. Besser gesagt unterquert. Die Schwebefähre war außer Betrieb. Dort führte eigentlich meine Route entlang. Also kurbele ich zur nächsten eingezeichneten Fähre, aber da ist keine. Ja ja, da ist tatsächlich keine Fähre, erklären mir Leute auf der Straße, das ist ein Tunnel. Jetzt erst erinnere ich mich, dass ich mit der Liebsten da mal durch bin. Drüben auf der Südseite Wasser bei einem WC im Park. Dann hoch zur Kimber und zu meinen Schleswig-Holsteinischen Alpen. An einer Stelle in einem Dorf hoch oben hat man einen kurzen weiten Blick über grünes, meist bewaldetes Tiefland. Ich habe umgeroutet zu einem näheren Zeltplatz westlich von Neumünster. Bereitgestellt von einem Kanuverleih. Stelle mir vor, das es belebt sein könnte, dass eine Kanugruppe dort übernachtet, Naturschutzgebiet Aukrug. Im Ort zuvor gibts mehrere Campingplätze und mit ihnen Campingplatz-Amüsementsvolk. Viele Leute auf der Straße. Im Kopf sehe ich mich ohne Ruhe unter Menschen, doch schon zwei Kilometer nach dem Dorf herrscht Stille, bin ich mitten in der Natur, kann das Navi den Zugang zum Platz erst im zweiten Anlauf berechnen, radele ich einen Waldweg bis zum Fluss, der sich zu einem Pfad verjüngt und dann bin ich da, ein winziges Wieschen, kaum 50 qm groß am Rand eines frisch keimenden Maisfelds. Nur ein Schild: Sei willkommen, Wander und Radel und eine Sitzbankgarnitur mit Tisch. Ich bin alleine und das ist gut so.  Im Wald tutet eine  Bahn. Der Wind zaust heute sehr laut in den Bäumen. Ich weiß nicht, woher er kommt.                                                                                                                                                                                                                                                                                                        

Tag sieben – Glückliches Gedenken, friedlich im Fahrradsattel voran kurbelnd

4:45 Uhr. Perversfrüh. Gut geschlafen auf einer Wiese nördlich von Nienburg in der Nähe von Drakenburg. Die Autobahn, etwa einen knappen Kilometer entfernt südöstlich rauschte die ganze Nacht. Ein komisches Konzert untermischt mit Vogelzwitschern, das ähnlich vehement aber in anderer Frequenz den Raum beherrscht. Ab und zu gebrochen vom Bellen eines Rehs. Blök blök. Die wiederum hätten das Potenzial, es mit den schneidenden Geräuschen aufgemotzter Motorräder und Automotoren aufzunehmen. Schienengeräusche. Die Bahnlinie hinter mir scheint stiilgelegt. Das hatte ich bei der Lagerplatzsuche am Abend schon vermutet. Ab Nienburg schuftete ich mich den D9 und Weserradweg hinaus, entlang des Flusses vorbei an Hafen, Sportanlagen, lungernden Menschen in Grünanlagen. Ein Polizeiauto blockierte den Weg, zwei Polizisten, ein Junge mit Fahrrad. Darf ich vorbei? fragte ich, ja, schieben sie. Was nicht einfach war, denn zwischen Auto und Zaun und Hecken waren nur ein knapper Meter Platz. Hundert Kilometer-Marke geknackt. So „fleißig“ war ich glaube ich noch nie auf einer Radeltour. Sieben Tage, nur der erste und der sechste Tag mit jeweils 90 und 97 km lagen unter der magischen Marke, die dennoch nichts bedeutet.

Jaja, ich glaube, ich habs im Griff, ich bin nicht verbissen, will nichts, habe kein Ziel und habe dennoch immer wieder Ziele. Markierungspunkte, die sich ergeben im Laufe des Tages. Oft wäre ich auch gerne daheim. Oft bin ich gerne da wo ich gerade bin. Im Sattel ist mein Daheim, denke ich, richte mich von einem Wohlfühlpunkt des Lebens zum nächsten Wohlfühlpunkt des Lebens neu ein. Immer im Jetzt ist genau richtig. Sei es in einer Stadt an Fachwerk vorbei flanierend, vor einer alten Mühle, sie bestaunend, neben einem Spielplatz rastend und ja, gestern sah ich das erste Reet gedeckte Dach. Ich bin nun der Küste recht nah. Im Kopf oft nichts oder sich wiederholende, mantrische Worte. Unfug manchmal. Kaum Böses, Schimpfworte oder gar Wut, eher rein nüchtern kommentrierendes oder Wortspielereien. Manchmal denke ich eine Einkaufsliste: Brot, Bier, Bananen, Nudeln, Tütensuppen, fünf Dinge und später in einem der meist kleinen Edeka- oder Rewe-Läden vergesse ich dann doch das eine oder andere. Ich kaufe oft ein. Zwei drei Mal am Tag bin ich in einem Laden. Das Radel sperre ich meist nicht mehr ab, weil das alte Schloss hakt und ich Angst habe, dass es nicht mehr aufzubringen ist. 25. Juni gestern. Seit vier Tagen ist der Neffe der Liebsten gestorben bei einem Tauchunfall und das nimmt mich auch mit. Der Tod reist immer mit, oft denke ich an längst gestorbene, meinen Vater, Stefan (Journalist F.), Hagen, der IT-Tausensassa; denke ans Übel der Welt, den miserablen Zustand im großen Konflikt, von dem ich nun gar nichts mitkriege und auch die Menschen um mich. Ich halte mich zurück mit näheren Kontakten, denn vertiefende Dialoge brächten mir die schiefe Weltenlage ins Gemüt. Eine Lullifulli-Einfachreise ist das ohne bösen Input. Der große Konflikt heißt die gefühlt massive Zunahme von Kriegen, und die Berichte darüber. Das macht etwas mit der informierten Gesellschaftsmasse, lässt sie sich polarisieren, Stellung beziehen ohne Ahnung zu haben. Als träte man in jeden Straßenstreit zwischen Wildfremden ein und würde Partei für den einen oder anderen nehmen. Der Junge bei den Bullen auf dem Radweg gestern: Was hat er getan? Weshalb halten sie ihn fest, kontrollieren ihn. Ist er böse? Oder ist es Routine? Oder haben sie den Falschen? Keine Ahnung, worum es geht und doch ein Bild, das einfachste im Fall:  Drogenverkauf, Drogenbesitz, Drogenkonsum. Oder: ein Spanner, ein Exhibitionist, ein mutmaßlicher Räuber? Oder: Opfer eines Überfalls?

Ich weiß es nicht und trotzdem entstehen Bilder und sie machen mich sehen, genau so und so ist die Welt.

Ich arbeite wieder. Gutso. Schreibe diese Zeilen. Grob gehacktes Zeug. Eigentlich habe ich vor, die Tage eins bis vier auch noch zu rekonstruieren. Sitze im Schneidersitzbüro. Blick durchs Gaze des Zelts. Eine Stechmücke umsurrte mich, hab sie verscheucht und den Reißverschluss zugezogen. Die Wiese ist perfekt. Uneinsehbar. Hinter einer Hecke zum Radweg, der etwa 100 Meter weiter westlich liegt. Im Osten ein Weizenfeld, nicht reif genug, als dass heute früh die Mähdrescher anrücken könnten. Keine Ballen auf der Wiese, so dass auch der Abräum-LKW nicht auffährt. Ein verwaister Hochsitz, okay, Jäger sind immer eine Gefahr in der panoptischen Welt – Tag vier, der noch zum Aufschreiben wäre mit dem Thema: die panoptische Welt an der Fulda. Merks dir – im Norden die vermutlich verwaiste Bahnlinie mit der so merkwürdig sinnlos wirkenden Brücke, die über die Felder führt und im Süden die lästige Autobahn. Der Lärmpegel nimmt zu mit jeder Stunde in den neuen Tag.

Vier Tage möchte ich noch schreiben und einen Artikel für den Metalabor-Reader 10. Hab mich gewundert, warum Büttner zur Einreichung von Artikeln aufrief, obwohl das Labor doch erst im September ist (Nachtrag, 1. November 2025: vielleicht hatte ich mich geirrt mit dem Metalabor-Call for Entrys). Tag drei wird der Artikel. Freundlichkeit kann die Ursache für alles Mögliche sein. Wo war ich an Tag drei? War es nicht Tag vier oder fünf, an dem Freundlichkeit die Ursache von etwas war? Oder bin ich nicht immer freundlich, jeden Tag, so gut es geht. Außer in aufbrausenden Momenten. Wenn Lärm zu lästig.

Gestern früh beim Fährhaus schrieb ich geschützt vorm strengen Westwind in der dortigen Schutzhütte. Auf der Wiese beim Anleger liegt ein überdimensionierter Rettungsring aus Beton, eine weiß rot bemalte Betonskulptur, die immer wieder Leute anlockt für Fotos. Vier Radlerinnen und Radler, die mir in Beverungen schon begegnet sind. Ich erkannte sie, weil sie über das Selfie auf der großen Bank redeten. Eine der Frauen hatte Knieprobleme und musste sich hinaufwuchten lassen auf die Touristenattraktion in Beverungen.

Nach schreiben bis fast elf Uhr endlich los. Keine Ahnung wie weit kommen wegen Winds und irgendwie auch einer gewissen Erschöpfung. Kein einziger Pausentag bisher. Aber wie erwähnt, ich bin entspannter denn je bei einer Tour. Raspel schickte seine Adresse und Telefonnummer in Oldenburg. Das mache ich wahr. Ein Fediversumskontakt und wohl auch ein Interner fürs jährlich stattfindende Fedicamp im Wendland. Ich werde es dort hin wohl nicht schaffen. Das Fedicamp ist Mitte Juli und ich liebäugele, schon gegen übernächstes Wochenende wieder in die Pfalz oder Schweiz  zurück zu kehren. Wegen? Der Liebsten, des Tods ihres Neffen, wann wird er beigesetzt? Frau Mama. Garten. F.s Tod. L.s Gedenktag. Es gibt viele gute Gründe. Dennoch: Gedenktage werden die Zeit in Stücke zerlegen. Dabei ist Gedenken doch immer und überall möglich. Und wo ist Gedenken intensiver, wenn nicht glücklich im Fahrradsattel voran kurbelnd.

Im Gegenzug stehen den zerlegten Zeiten unformatierte zukünftige Zeitabschnitte entgegen mit weiten Visionen wie etwa rauf nach Dänemark. Eine Nacht auf Fünen, einmal zum großen Strand von Römö, nach Skagen und zum versunkenen Leuchtturm und ja, auch das Herz Norwegens (eine etwa 600 Kilometer lange Radtour im Süden Norwegens. Ich hatte sie so getauft, weil die Route in etwa der Form eines Herzens entspricht) und letztlich das Kap.

Ein Kap-Erlebnis gabs gestern: Unterm Kanal, also der Kanalbrücke in Minden, die sehr breit ist eine Art Nordkaptunnelgefühl. „Mensch unter etwas von Menschen Gebautem, das Wasser obendrauf hat“, um es mal salopp zu sagen. Und eigenlich sind es sogar zwei Kanalbrücken, eine alte aus Stein und eine neue aus Stahl. Unter der Brücke stelle ich das Radel ab und steige die Treppe hinauf, die zwischen den beiden Kanalbrücken nach oben führt. Mal eben kurz zur Aussichtsplattform. Man sieht: Kanal. Jemand sagt: da gehts nach Berlin.  Wegen des Winds, der in diese Richtung weht, bin ich verlockt, den Kurs zu ändern. Zum Glück steht das Radel unten vor der Treppe und müsste erst da hoch. Ein feiner Kipppunkt der Reise ist das. Es fehlt wenig. Das bedeutet aber auch Freiheit. Später lässt der Wind nach und ich irre auf den vielen Radwegen umher, verliere den Weserradweg, bzw. es gibt verschiedene Routen und ohne Brille erkenne ich die Symbole nicht. Es fehlt ein Konzept, finde ich. Fernpunktangaben. Nienburg ausgeschildert hätte ich mir gewünscht. Stattdessen hangele ich mich von einem 15 Kilometer entfernten Ort zum nächsten, vielleicht 12 Kilometer entfernten Ort. Ein Rennradler erklärt mir grob den Weg nach Nienburg und das Geheimnis scheinen die wenigen Brücken zu sein, die man nutzen kann. Letztlich nehme ich am Abend die Bundesstraßenradwege, was zwar laut und dreckig ist, aber es fühlt sich nicht mehr so schlimm an wie tagsüber im Vollverkehr.

Dieser Lagerplatz: Hab etwas länger gesucht. Wie so ein Hund, der sich, bevor er sich hinlegt ein paar Mal im Kreis dreht. Oder machen das Katzen? Ein erster guter Platz war nahe der Autobahnbrücke. Kaum einsehbar, Fluss nah und zugänglich, was gut gewesen wäre, denn ich fühlte mich klebrig, hätte gerne den Duschsack gefüllt und mich gewaschen. Aber der Lärm. Hier weit weg vom Fluss, gibt es kein Wasser. Aber egal: nachts hab ich mich wohl selbst gereinigt. Fühle mich jedenfalls recht gut jetzt. Gegen acht soll es regnen. Bin froh, dass ich den Hintern hochgekriegt habe und gleich das Zelt noch trocken abbauen kann. Sonne sollte es vielleicht noch auf ein kurzes Hallo schaffen durch die seichten Morgendunstwolken.

Tag sechs – von Hängemattenhängmanövern, Rattenfängern und Alternativlosigkeiten

Artikel vom 25. Juni 2025, bearbeitet und veröffentlicht am 1. November 2025

Großenwieden. Die künstliche Verknappung der Zeit. Alternativkosten. Die natürliche Verknappung der Zeit. Wenn ich Essen koche, kann ich nicht schreiben, ja, auch Essen selbst ist etwas schwierig, denn das Kochen auf dem Trangia-Kocher erfordert Konzentration. Anwesenheit. Aufmerksamkeit. Auf dem Tisch liegen alle möglichen Ausrüstungsgegenstände, Nahrung, Kochzeugs, Pfandflaschen, Kaffeebecher. Am Fährhaus Großenwieden konnte ich gestern mein Zelt aufbauen. Wollte eigentlich noch weiter bis jenseits von Rinteln, etwa 15 Kilometer und mich auf einer Wiese installieren irgendwo zwischen Heuballen. Geriet aber mit dem Fährmann ins Gespräch und mit seinem Kumpel, der durchblicken ließ, dass öfter mal Leute auf der Wiese zelten würden. Man könne sogar den Schlüssel für die Toilette bekommen, im Tausch gegen den Personalausweis. Ich aß ein Eis. Die beiden saßen beieinander im Fährhaus, tranken ihr Feierabendbier, debattierten das Wetter: Dass es nächsten Montag wieder dreißig Grad werden soll. Kaum zu glauben bei der Tristesse, die mich heute umlullte, Wolken, kaum Sonne und dazu ein heftiger Wind, der – den Krümmungen der Weser seis gedankt – zum Glück nicht den ganzen Tag von vorne kam.

Es radelte sich ganz gut. Auch bei Gegenwind schaffte ich es, mit 14 bis 17 Kilometer Pro Stunde voran zu kommen.

Wozu die Eile? Zeit, Zeit, Zeit, das alte Dilemma. Mittags rief ich Freund Fliegerhorst an, dass ich „in der Gegend“ sei, obschon Hameln ja noch bald 400 Kilometer von seinem Wohnort itzehoe entfernt ist. Er freut sich. Ich kann jederzeit kommen. Und das ist auch gut so, das Jederzeit. Denn die Tour lässt sich nicht kalkulieren. In Gedanken sehe ich mich oft schon an der Küste. In Dänemark gar, auf Fünen vielleicht. In Gedanken besuche diesen und jenen Menschen, den ich am Wegrand kenne. Die KünstlerfreundInnen Horst und Irene Schmidt habe ich auch kontaktiert, ob sie ggf. in Norden in Ostfriesland, ihrer zweiten Heimat sind. Ich könnte einen Abstecher machen. Sind sie, antworten sie. Aber erst nächste Woche. Das ist also etwas für den Rückweg. Faszinierend ob all der „Losigkeit“ meines Seins, der Ungebundenheit, des Voranbummelns, dass ich mir dennoch Zeitfenster baue, mich, wenn auch nur leicht, damit unter Druck setze. Wenn Horst und Irene Schmitt, dann nicht Fliegerhorst, weil die einen westwärts und nächste Woche besuchbar sind, der andere nordwärts und eigentlich immer. Also wenn H.I.S, dann auf dem Rückweg.

Ha. Rückweg. Wenn ich schon kaum den Hinweg – wohin denn auf einer Irgendwohin-Tour – planen kann, wie erst den Rückweg? Auf Mastodon meldet sich Raspel aus Oldenburg, ich könne vorbei schauen. Kurz Karte geschaut: Oldenburg liegt nur etwa 80 Kilometer „Umweg“ – ha, Umweg auf einer Irgendwohin-Tour?!

Der gestrige Tag auf dem Weserradweg: Easy-Cycling. Sehr schöne Landschaft. In Hameln komme ich gegen halb sechs oder fünf, ich weiß nicht mehr so genau, gerade rechtzeitig zum ausgiebigen Glockenspiel, filme ein bisschen wie drei vier handvoll andere Menschen auch. Das Glockenspiel will und will nicht aufhören. Am Turm beim Rathaus ist eine Mechanik, die einen blechernen Rattenfänger en Miniature vorbei ziehen lässt. Auf einer Art Teller kurvt das Ensemble zum Spiel und als es fertig ist, wieder im Turm verschwindet, nach kurzer Pause ertönt das Spiel erneut und der Rattenfänger kommt nun mit den Kindern vorbei gezogen. So ähnlich. Vor einem Kaufhaus nebenbei macht ein schlicht gestrickter Junge eine abfällige Geste zu den Touristen, die das Spektakel filmen. Gut zu sprechen auf uns Ralderinnen und andere Touris ist hier offenbar nicht jeder. In einer Hütte, in der ich pausierte hatte jemand mit Edding geschrieben, Scheiß Touristen, haut ab – ohne Komma natürlich. Zwei Ebikende Damen verstricken mich in ein Gespräch, kommen aus dem nahegelegenen Ort Halle in Westfahlen, sind auf Rundtour mal das neue Ebike der einen ausprobieren. Ob ich öfter in der Hütte sei? Da sei so einer, nein nein, sie haben da nichts dagegen, der da öfter mal übernachtet und vielleicht bin ja ich derjenige? Ich sehe tatsächlich so aus, als würde ich auf der Straße leben. Seit einer Woche kein Haus von innen gesehen, keine Dusche, keinen Rasierspiegel. Vollbepackt. Obschon hier einige klassische Radreisende meiner Kategorie – guter alter Radreisender mit Gepäck in vier Taschen an Gepäckträgern – unterwegs sind. Das freut mich. Unter den vielen Bikepackern mit ihren spärlichen Lenkerrollen, Rahmentaschen und Arschraketen kam ich mir auf den hessischen Bahntrassenradwegen schon ein bisschen wie ein Dinosaurier vor.

Wir plaudern über dies und das, Ebike versus „Biobike“ ist immer ein Thema: was hab ich es doch so schwer, mutmaßen die Beiden. Aber nein, sag ich, die Unabhängigkeit von Stromnetzen hat ihren Preis. Mit Ebike müsste ich ja ständig in Hotels, mindestens jedoch auf Campingplätze. Neben der Hütte steht eine randalierte Bank bei dem schönen Platz an der Weser. Vandalismus-Vermutung liegt in der Luft, aber ich bin mir da nicht so ganz sicher. Schwer zu sagen. Ich sage, das sieht aus wie ein Hängemattenunfall. Die Lehne der Bank ist abgerissen und sie steht in Hängemattenlängeentfernung nicht weit weg von einem Pfosten. Ich erinnere mich, dass ich jüngst in der Schweiz durch solch ein gewagtes Hängemattenhängmanöver eine Parkbank zum Umkippen gebracht habe. Ein Glück, dass die Bank damals nicht kaputt ging.

Über das Gespräch vergesse ich, ein Foto aufzunehmen von einem Baum, der an einem Felsen hochwächst. Ein faszinierendes Ding. Vergiss nicht, den zu fotografieren, ich erinnere mich, sagte ich mir im Vorbeifahren, meinen Hüttenplatz schon im Visier, erst mal Pause, und ach nein, das vergisst du doch nicht. Der Baum wächst mindestens anderthalb Meter entlang des nackten Felsens und das Stück Stamm, das bloß liegt und sichtbar ist wirkt wie eine verlängerte Wurzel. Nach der Pause rolle ich unverrichteter Dinge weite. Adieu Baum. Es ist wie daheim: Wenn du einen Raum verlässt, um etwas zu suchen, vergisst du, was du suchen wolltest, sobald du die Tür passiert hast. Genauso ist es, wenn man sich mit zwei Radeldamen unterhält. Tattrig wie ich bin steckte ich beim Weiterfahren noch meine einzige Tütensuppe in den Mülleimer. Ich kann es mir nur so erklären: Vom Lebensmittelsack hatte ich sie beim Rumräumen auf den Gepäckträger gelegt, dort wo normalerweise der Müll festgeklemmt wird. Ich erinnere mich noch, dass ich mich wunderte wie kompakt sich das Ding anfühlt als ich es in die Tonne stopfte.

Raus aus Hameln ein korpulenter Bettler, umgeben von naja, Müll? Habseligkeiten? Ja klar, das ist kein Müll, was den Mann umgibt, das sind Habseligkeiten. Er sitzt unter einer Brücke und ich weiß nicht, wie er sich von dort je fortbewegen kann. Schon bin ich vorbei, halte ich an, krame Geld aus dem Geldbeutel, gehe zurück, gebe es ihm und er bedankt sich strahlend und im Weiterfahren komme ich mir blöd vor, dass ich nicht noch mehr gegeben habe und ich muss mal wieder an meine uralte Geschichte denken, die davon handelt, dass immer wenn sich zwei Menschen begegnern ein Kassensturz gemacht wird; du hast soviel, du soviel, alles addiert und durch zwei geteilt oder durch X, wenn man das ganze auf Menschengruppen bezieht. Ich denke daran, wie ich Elon Musk begegne, zack, um viele Milliarden reicher und er ist immer noch superreich. Muss schmunzeln.

Halb elf schon. Die Sonne scheint. Hinter mir brutzelt die Solarzelle, lädt das Handy, während ich hier im Schatten diese Zeilen schreibe. Für meine Verhältnisse bin ich spät dran. Meist schon gegen sieben acht neun gings los. Die letzte Nacht war wegen des zerrenden Winds am Zelt nicht so erholsam. Außerdem grummelte der Bauch. Gegen acht packte ich in windeseile alles zusammen. Das Klo vom Fährhaus war leider zu. Das mit dem Schlüssel gegen Personalausweis hatte nicht geklappt, weil der Fährmann heut gar nicht im Dienst ist. Nunja, man kann ja nicht mitten im Dorf wie so ein Hund. Weiß auch nicht, was ich gedacht habe. Hätte ja alles stehen lassen können und raus aus dem Dorf zu geheimem Ort, aber nein. Mit vollem Gepäck schaffe ich es geradeso zu einer Wiese hinter einem Schober. Ein Hoch auf Robbydogtüten! Der Gamechanger in Sachen Reisetoilettengang.

Alternativkosten, Kolateralkosten, verknappte Zeit. Wird mir das erst nun drängend? Ich hätte schon dreißig Kilometer geschafft während ich hier schreibe, und die alte Formel, die seit der Nordseeumrundung gilt, 70 Kilometer am Tag plus Kunst plus Schreiben ist doch genug. Während ich die Sachen zusammenpacke, kann ich nicht Essen, nicht schreiben, nur bedingt mit Leuten kommunizieren. Und umgekehrt, während ich schreibe, kann ich nur schreiben. Sonst nichts. Noch nichteinmal etwas anderes denken als das, was der Gedankenstrom gerade hergibt. Das macht es einerseits so einzigartig, andererseits so kompliziert.

Nun versuche ich mal die beiden Blogartikel per Hotspot hochzuladen. Das Haupthandy dürfte nun fast geladen sein und auf dem Schreibhandy habe ich satte 20 Prozent Akku verbraucht, um den Artikel zu schreiben.

Tag fünf – Birkenprassel-Lautmann-Kipppunkt

Von Dittershausen bis Wehrden.

Der Wind zaust die vier Birken, unter denen meine Hängematte baumelt. Weil die Bäume so nahe beieinander stehen, hängt die Matte entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit, sie schön stramm aufzuspannen, ziemlich durch. Was sich als recht bequem herausstellt. Nicht, dass ich es nicht gewusst hätte. Immer wenn ich die Matte verlasse, um am Radel etwas zu kramen, den Kocher etwa aus den Packtaschen zu holen, oder die Brille zu suchen, bläht sie sich auf wie der Spinacker eines Schiffs. Ich döse ein, bin recht erschöpft. Schon seit Tagen im Sattel und kein Tag verging mit weniger als 100 Kilometern Tagesleistung. Seltsamer Weise macht mir das Radeln gar nichts mehr aus. Wenn ich nicht müde würde, könnte der Körper ewig so weiter fahren. Langsam verstehe ich die Menschen, die sich am Atlantik aufs Rad setzen und kreuz und quer durch Europa kurbeln und erst am Schwarzen Meer wieder aufhören. Ein Transcontinental-Racer wird trotzdem nicht aus mir werden. Mir reicht es oft, zu wissen, wie die Dinge funktionieren, wie es „geht“, wie dieser oder jener Mensch, der mir als Absonderling, als ein großer „Unvorstellbar“ erscheint, so und so sein kann.

Einfühlung? Die Windböen hier an der Weser sind heftig. Mein Lagerplatz bei einer Grillstelle mit drei Hütten und einem Kneippbecken bietet eigentlich alles, um das hier auszusitzen. Birkenäste prasseln herunter, verfehlen mich knappt. Ob es weh tut, wenn einem Schlafenden ein etwa fingerdicker Birkenreisig auf den Kopf fällt? Dieser hier hat mich nur um ein paar Zentimeter verfehlt. Ich schubse ihn aus der Hängematte. Bin zu müde, um mir einer eventuellen Gefahr bewusst zu werden. Vom Weg Stimmen, Radelgeräusche, Ebikemotoren. Ulkige Schalke suchen Schutz in der Hütte. Immer wieder ziehen Regenschauer vorbei, tun so als wollten sie die Welt untergehen, aber kaum hat man sich in Sicherheit gebracht, sind sie schon wieder weg. Die Kerle scherzen zu mir herüber, frotzeln, dass sie mich jetzt „endlich geweckt haben“ und das ist eigentlich kein so guter Beginn für einen Smalltalk. Normalerweise wäre ich vielleicht zu ihnen rüber gegangen und man hätte über das Woher und Wohin, das Warum geredet, aber so lächle ich und tue so, als sei ich fremd, bin ich ja auch, aber ich tue so als wäre ich noch viel fremder. So, als würde ich ihre Sprache nicht verstehen. Insgeheim bin ich Franzose oder Pole, denke ich, bloß was, wenn einer französisch oder polnisch spricht? Je regrette, isch spreche kein Deutsch. Ah qui, vous etes francais? Endlich haben wir sie geweckt. Egal. Einer kneippt im Becken, die anderen labern altmännerlaut höhö und hoho aus voller Brust … nein nein Herr Irgendlink, die wollen dich nicht provozieren, die sind von Natur aus so. Frequenzpotente Kerle mit Bäuchen und grauen Haaren.

Ich Misanthrop, ich.

Die Tour, ich habe sie die Irgendlinksche Irgendwohin-Tour getauft (in Anlehnung an Radlerfreundin Radltante aka Frau Laut, die solch eine Zickzack-Tour vor zwei Jahren und auch dieses Jahr durch Deutschland machte) – kurz Hashtag irlirwo. Alles klar? Die Tour fußt auf wieder einmal gescheiterten großen Plänen und ist sozusagen das Überbleibsel eines Vorhabens, das nicht durchführbar schien: Mit dem Fahrrad durch Norwegen ans Nordkap. Die Königsdisziplin. Hätte hätte Fahrradkette, hätte ich schon gerne gemacht, muss aber nicht und es gibt Gründe, dass ich nun auf einer ziellosen Irgendwohin-Reise bin, statt straight mit engem Blick das Ziel Nordkap zu fokussieren. Letztendlich eine reine Terminfrage. Der durch Termine zerhackte Alltag lässt einfach keine zwei bis drei Monate theoretischen Opend Ends zu.

Das Ende allen Birkenastprasselns. Ich packe zusammen, die Herren sind weg. Eine hustende Frau sitzt vor der Hütte. Kneippbecken verkneife ich mir, packe und stemme mich weiter gegen den Wind, der mich schon den ganzen Tag mal plagt, mal nicht. Die Fulda, der ich bis Kassel und darüber hinaus bis Hannoversch Münden folgte, macht nämlich zahlreiche Schleifen. Scherzhaft hatte ich einmal auf Mastodon getrötet, dass die Fulda aus tausend Saarschleifen gemacht wurde. Demeentsprechend habe ich immer mal wieder Gegenwind, mal Rückenwind. Oft seitlich. Es ist nicht mehr so heiß wie tags zuvor. Ein gutes Radelklima also. Bis zum Drei-laute-Herren-Kipppunkt, würde ich sagen, bin ich misanthropisch, nerven mich jedwede Menschen, halte ich mich wortkarg zurück, meide Kontakt. Ein kurzer Gruß hin und wieder, ein nettes Palim Palim für diejenigen, die die Fahrradklingel nicht hören. Mehr ist nicht drin an diesem Morgen. Die Stimmung entsprechend lethargisch. Ich bin nicht überzeugt vom Tag, von der Tour, von mir. Sinniere, was das Ganze soll, dennoch wachen Auges, Fotos und Filme mit der Gopro und auch ein paar Videologs. Am meisten sinniere ich, warum ich nicht darüber schreibe. Die Antwort: Das ist Urlaub. Echter Urlaub ohne Pflichten. Dennoch finde ich es schade, dass ich die vielen kleinen täglichen Erlebnisse eben nur erlebe, sie nicht festhalte in schriftlicher Form und mein Glaube an das Video-geloggte Wort ist noch nicht gefestigt. Es ist etwas anderes, ob du etwas schriftlich notierst oder es aufs Band sprichst.

Finde ich. Nach Birkenprassellautmänner-Kipppunkt gehts besser. Ich stemme mich gegen den moderaten meist Gegenwind nun. Seit Hann. Münden ist die Fulda zur Weser geworden. Scherzhaft frage ich mich, warum man nicht einfach eine Mauer zwischen der Werra und der Fuld gebaut hat, denn dann könnten beide ihre Identität bis zum Meer wahren und als Werra und Fulda dort ankommen. Analogie mit innerem Augenzwinkern zum menschlichen Hang, sinnlos Grenzen zu erreichten, jaja, darüber mal eine böse Kurzgeschichte schreiben, aber egal, bin doch Urlaub.

In Hann. Münden muss ich mich auch entscheiden, welche Seite des Flusses ich abwärts radele. Beide Seiten haben Radwege. An der Kreuzung sehen beide Möglichkeiten eher unverlockend aus, führen durch Industrie und Gewerbegebiete. Ich entscheide mich auf der Brücke über die Weser noch einmal schnell um und nehme den linksseitigen Radweg. Blick zurück nach Hann. Münden, das wahrscheinlich schön ist, aber meine Route hatte mich daran vorbei geführt. Eine Fußgängerbrücke aus Eisenfachwerk hinüber zu den Inseln zwischen Weser, kleiner Weser, Werra und Fulda war gesperrt und ich bin, wie erwähnt ja auch auf Misanthropietrip an diesem Tag. Da kann man nichts leiden.

Bundesstraßenradweg. Ich kenne es seit Hanau. Eine hessische Spezialität. Zumindest hatte ich bisher oft das Pech, zwar recht gute, aber direkt neben Bundesstraßen verlaufende Radwege zu erwischen. Ich schufte bis Lippoldstadter Fähre. Beim Anleger eine Bude mit Eisverkauf, Wurst in Dosen, Honig. Pause. Regenschauer. Ein Mann mäht, stoppt den Mäher, macht Kaffeepause. Er soll sich als Fährmann herausstellen und letztlich als Richtungsweiser, denn just radelt ein Paar heran, will zur Fähre, doch eine Tafel sagt unmissverständlich, dass die Fähre nur samstags verkehrt. Der Radlerpaarmann geht trotzdem zum Rasenmähmann, um sich zu erkundigen wie wo was und schon kommen sie zurück, ausnahmsweise würde er sie rüber bringen, ob ich mit will? Wo ists schöner zu radeln, frage ich, drüben sagen alle, nur gibts da eine 25 Prozent Steigung am Weg … na Herr Irgendlink, irgendwohin vielleicht?

Tu immer das, was fremde Radlerpaare und Fährmänner sagen. Ich fahre mit auf der schönen alten Seilfähre. Der Fährmann hat sie ein Leben lang betrieben. Nun ist er in Rente.

Der Radlermann versucht mich zum Abschied noch zum freichristlichen Glauben zu überzeugen – schon der zweite Mensch, Andreas, den ich zwischen Rüsselsheim und Frankfurt am Rheinradweg traf, wollte mich ebenfalls bekehren.

Drüben ists tatsächlich schöner. Keine Bundesstraße vor allem. Die 25 Prozent Steigung ist nur etwa 250 Meter lang. Alles andere geht als normal durch. In einem Dorf vor einer kleinen Traktorwerkstatt stehen noch zwei Oldteimer herum, die ich fotografiere. Wärste früher gekommen, hättste 25 Stück sehen können, sagt der Werkstätter. Es war nämlich Traktortüv heute. Nur die beiden sind noch nicht abgeholt worden. Einer der Traktoren ist ein Fahr, der andere eine Marke die ich nicht kenne, Typ Spessart.

Alle Traktoren haben übrigens bestanden.

Bad Karlshafen. Wasser bei einem Jungen geholt, der gerade sein Auto belud. Dann weiter und wieder auf die andere Seite. Die Lagerplatzsuche gestaltete sich insofern etwas kompliziert, dass es überall Campingplätze gibt. Zweischneidige Sache. Ich möchte nicht direkt daneben wildzelten, möchte aber auch nicht zwischen rumpelnden Wohnmobilen das einzige Zelt sein. In Beverungen beim Kanuclub sah es recht gemütlich aus, getrennte Plätze für die Zeltenden und die Campervans.

Dennoch radele ich weiter, Höxter nicht mehr weit. In Wehrden ein sauberes WC und 1,3 Kilometer weiter eine Hütte.

 

Männer, die nie ihr Geschirr selbst spülen mussten

Beitragsentwurf vom ersten Juni 2025, bearbeitet 21. Oktober 2025

„Die Welt krankt an alten weißen Männern, die im Stehen pinkeln …“, postuliere ich, „… und die ihr Geschirr nicht selbst spülen müssen und nie ein Klo geputzt haben.“ – „Nein nein, das ist abgeschmackt“, mildere ich mein Urteil, „nenn‘ sie nicht alte weiße Männer, denn das ist genau das, was sie wollen. Dann können sie schön in ihre Opferrolle schlüpfen, während sie röhrenden Auspuffs mit wehendem grauem Haar in ihren Cabrios in den Sonnenuntergang brausen. ‚Typen‘ reicht vollkommen. Ignorante Autoritaristen. Und ja, es sind fast immer Männer.“

Meine Hände im warmen Wasser der Spülschüssel. Licht in der Küche schummert. Das Becken ist voller Geschirr. Wasser schäumt. Zwischen Schüsselchen, Tellern, Besteck und ein paar Konservengläsern schwimmt eine Bürste und ein Schruppschwamm. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst spülen soll. Greife ein Messer, dann einen Kaffeelöffel, dann die hölzerne Kelle, an der die Nudelreste vertrocknet sind, scheitere an der Kelle, lege sie zum Einweichen zurück, nehme eine kleine gläserne Schüssel, in der eingetrocknetes Mehl sich noch nicht lösen will, scheitere auch damit, greife ein paar weitere Gegenstände vom Spülstapel, der seit Tagen steht, lege sie ins Wasser und erkenne.

Genau so sieht mein Hirn aus. Voller Gedanken, die alle gleichzeitig als Ketten von Seins und Tuns laufen. Im Hintergrund ein geheimisvoller cerebraler Peitschenschwinger, der die Herde antreibt, los, voran, macht schon, ohne zu erkennen, das ein jedes dieser zarten Gedankentierchen, die den Karren ziehen, seinen Raum braucht, seine Zeit, seine Aufmerksamkeit, um aus dem Chaos erlöst zu werden, um zu Ende gedacht zu werden.

Ich kann mich nicht konzentrieren. Beginne einen Blogartikel zu denken über alte weiße Männer, die ihr Klo nie selbst putzten, stelle mir diese Männer vor wie frisch Gewählte, die ihr Hitlerbärtchen frei auf der Stirn tragen, schmunzele, da kommt mir die unverputzte Wand im Keller der Frau Mama in den Sinn, „Mann, Mann, Mann, da müsstste doch auch mal dran arbeiten!“ Stelle mir vor, wie ich das Spezialgemisch an isolierendem Schlämmputz anmische, zuvor mich in Schutzkleidung, Brille, Staubmaske etc. gehüllt habe, die Mischung genau abwiege … herrjeh, dieser Gedankengang verliert sich auch wie so viele, ohne dass der dazu nötige Körper je in Betrieb genommen würde. Ein Reisekunstprojekt im Sommer drängt sich nach vorne, will geplant, gedacht und auf Möglichkeit geprüft werden. Auch dieser Gedankengang reißt ab. Zu groß. Ebenso wie verwaltungstechnisches Zeug, das mich ohnehin anekelt zu denken und zu tun. Dann schon lieber Geschirr spülen.

Zeit Zeit Zeit. Alles kostet Zeit. Kostet, schreibs in Anführungszeichen „KOSTET“, so weit ist es schon, dass du rechnest, Mann.

Wozu wozu wozu? Lass fließen. Hab Geduld. Nur so kannst du dem Chaos in deiner cerebralen Spülschüssel Herr werden. Wie auch in der echten.

Männer, die nie ihr Geschirr selbst spülen mussten. Geschweige denn den Tisch abräumen. Arrogante Kreditkartenzücker, die sich mit anderen arroganten Kreditkartenzückern auf Restauranttoiletten treffen, um sich stehend an Urinalen zu vergleichen: die Güte ihrer Anzüge. Armbanduhren blitzen. Scharf klingt ein Autoschlüssel in der Jackentasche, womöglich. Oberflächliche Gespräche zwischen Waschtisch und Toilette. Und dann zurück zum Tisch, wo das Frauchen wartet oder die Geschäftspartner, die Geliebte, ein Kreditgeber oder ein paar arme angestellte Hansels, die man mal beeindrucken wollte.

Mittlerweile ist das Spülwasser nur noch lauwarm. Ich werde es wechseln müssen. Es taugt bestenfalls noch als Vorspülwasser. Nehme in den eingetrockneten Töpfen je ein bisschen des Wassers, und entledige mich des Geschirrs, das ich als sauber gelten lasse rüber auf das Abtropfgestell. Bevor ich weiter mache, muss der Boiler erst aufheizen, kann ich ein bisschen abtrocknen und Platz schaffen auf dem Gestell, kann das lauwarme Spülwasser in den schwer zu bewältigenden, eingetrockneten Töpfen wirken, kann ich eigentlich auch unterbrechen und das finale Rettungsspülen auf ein Andermal vertagen.

Wie so ein Parallelgedanke über eine zu verputzende Wand, der Hand in Hand läuft mit einem Gedanken zu sommerlichem Reisekunstplan und anderen wichtigen Gedanken.

Mein Hirn ist eine Spülschüssel, in der das Wasser schmutzt und kühlt und es funktioniert deshalb nicht mehr richtig und ich muss alles rausräumen und neu einrichten und das geht am besten beim Radfahren, beim Ausüben einer linearen Tätigkeit, in der Eins aufs Andere folgt, Kilometer um Kilometer, Kreuzung um Kreuzung, Bergetappe um Bergetappe.

Dies ist der Beginn meiner Radeltherapie. Paar Tage her, dass ich die Spülschüssel leerräumte, ein paar Töpfe nur noch stehen ließ, das Radel sattelte und längere Tagestouren machte. Die erste, ringst um Pirmasens, war hektisch, Vatertag wars, die Welt ohnehin grundaggressiv, alkohlgetränkte Bollerwagenarmada, die aber mitten im Pfälzer Wald sich verlor oder gar nicht existierte. Je pfälzer der Wald, desto freundlicher die Menschen, postulierte ich.

Kehrte abends heim mit 140 Kilometern in den Beinen, erschöpft glücklich. Diagnostizierte da erst mein Spülschüssel-Hirn-Syndrom, beschloss, weiter zu machen und über allem gaukelte das Mies der Welt, die falschen am Ruder, aber daran kann ich ja nichts ändern. Betonköpfe, die rückwärtsgewandt eine fossile Ära hochleben lassen und alles Neue abwürgen. Typen, nenn sie Typen, die im Stehen pinkeln und sich des feinen Urinsprühs nicht bewusst sind, der die schneeweißen Hochglanzfliesen ihres Badezimmers benetzt und der sich zu einer klebrigen Kruste schichten würde. Typen, die nie Geschirr spülen mussten, weil sie arme Teufel dafür bezahlen, den Schmutz zu beseitigen. Das Geschirr. Die Urinsteine …