Tag 123 – die Strecke

Ich bin soeben auf einem schönen wilden Nachtplatz bei Terron sur Ainse gelandet, gegenüber von einem Sportplatz, schreibt Irgendlink kurz nach neun Uhr. Am Telefon erzählt er von den Holländern, die ihm das Zelten dort erlaubt haben. Sie bringen ihm Eier und Brot. Das Wetter hat gehalten, doch die Wiese ist noch klitschnass vom Regen der letzten Nacht. Und das Radel sieht nach seinem heutigen Schlammbad aus wie … aber halt, das erzählt euch Irgendlink besser selbst.

>>> Wildzeltplatz zwischen Harcigny und Plomion – Wildzeltplatz bei Terron sur Ainse: zum Kartenausschnitt von heute: bitte hier klicken!

Liveschreiben # 2 – wie man einen Eintrag, den man nicht geschrieben hat, nachträglich in das live geschriebene Buch integriert.

Das geht leider nicht.

Ich habe es versucht mit einem Beitrag über das Crask Inn in Schottland. Über die Orkneyinseln, Shetlands, Norwegen, Schweden, Dänemark, Niederlande, Deutschland und Belgien schleppe ich eine Idee mit, wie ich das Ding doch noch elegant in das Buch integrieren könnte. Mache ich‘s am Wetter fest? In den Niederlanden hatte ich bei Sturm ähnliche Bedingungen wie im Crask Inn. Das wäre vielleicht ein Anknüpfpunkt? Mache ich es an der Geographie fest? Bei der Rücküberquerung des Breitengrads, auf dem das Crask Inn liegt, hätte ich eine gerade, von Menschen gemachte Linie, die als hanebüchener Rettungsanker dienen könnte, über die Ereignisse dort zu berichten.

In den Tiefen des elektronischen Notizbuches schlummern einige Ansätze, eine Geschichte nachträglich zu integrieren. Keiner war mir gut genug. Und am Ende, nun in der Champagne, am fünftletzten Tourtag, komme ich zu der Erkenntnis: lass es einfach sein.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Liveschreiben # 12 – Auflösen der fiktiven Ebenen, die sich im Laufe des Berichts ergeben haben.

Stammlesende wissen es: in diesem Blog, das eigentlich von der Reise um die Nordsee handelt, haben sich im Laufe der Zeit jede Menge fiktive Ebenen angesammelt. Es gibt Verkehrsminister, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, und denen ich alle möglichen Mängel am Radwegenetz auf flapsige Weise angehängt habe, es gibt eine mysteriöse Gottheit, die vor zig Milliarden Jahren das Universum erschaffen hat und die den Irgendlink und alles, was geschieht auf dieser Welt, bis ins Feinste vorausgeplant hat. Der Lauf der Atome berechnet bis zu Perfektion. Es gibt einen aufblasbaren Butler und das Clownfrühstück. Wie löse ich nun diese vielen „Stussebenen“ am Ende des live geschrieben Buchs wieder auf? Noch immer unterwegs in den letzten vier Tagen der Reise, gibt es verdammt viel Literaten-Pflichtarbeit. Noch einmal soll hier der naive, tagebuchschreibende Junge zu Wort kommen, um die Verkehrsminister- und Clownebene zu lösen.

Liebes Tagebuch. Gestern war es endlich so weit. Stell dir vor, ich konnte den deutschen Verkehrsminister Dr. Karl Theodor August zu K. endlich dingfest machen. Der bekennende Hobbyclown hatte sich zusammen mit seinem düsteren Freund Fríëđølîñ in einer Ferienanlage versteckt, wo sie bei Schunkelmusik allabendlich frivole Witze vor betagtem Publikum vortrugen. Der arme Kerl kann von seinem Ministergehalt – unglaublich, nur 200 Euro pro Stunde verdient er und dann gehen noch Steuern ab – leider nur mehr schlecht als recht leben. Deshalb verdient er sich in den Ferien etwas als Clown hinzu. Allerdings seine Leidenschaft. Der alte Trick, den mir mein aufblasbarer Butler James beigebracht hat, funktioniert noch immer. Verkehrsminister August war so dumm, mir zu glauben, dass ich ihm eine Gratis Fußverlängerung mache. Es war ein leichtes, ihm eine Betäubungsspritze zu setzen. Nun stehen seine Schuhe, zu einem Kreuz geformt, am Staßenrand südlich von Cambrai (siehe dazu Szintillas Blog) . Das Abendlich wirft ihren unheimlichen langen Schatten über die weite Ebene und taucht die letzten Stoppeln, die vom Kurzhalmweizen übrig sind, in ein rötliches Licht. Blöderweise konnte Fríëđølîñ, ein pfiffiger, dunkel gekleideter Typ, entkommen. Er sinnt auf Rache. Ich schreibe diese Zeilen auf dem Marktplatz von Busigny. Bin mir nicht sicher, was der Mann im schwarzen Anzug im Schilde führt, der betont gelangweilt neben dem Brunnen steht. Er trägt eine Sonnenbrille und hat offenbar ein Funkgerät. Manchmal hebt er die Jacke ein bisschen an, wohl, um sich Luft zuzufächeln. Aber warum spricht er dann mit seiner Achselhöhle. Dass er nur Zeitung liest, nehme ich ihm auch nicht ab. Der kann doch gar nicht den Artikel lesen, das Blatt ist beschädigt. In der Mitte klafft ein großes Loch, durch das er mich unentwegt anstarrt.

Liebes Tagebuch. Ich muss nun weiter ziehen.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Leben im Gallert

Dunst. Wie durch eine beschlagene Brille sehe ich das Land. Vom Gold der abgeernteten Felder ist nur noch fahles Gelb übrig. Am Horizont vereinzelt Häuser, die beinahe wie eine Fata Morgana schimmern. Hortensien verblassen vor Ziegelsteinmauern, die gegen nikotingelb tendieren. So muss sich das Leben eines Parasiten in einer Qualle anfühlen. Leben im Gallert. Ein Quallenparasit wird wohl nie ein guter Fotograf werden wegen des dunstigen Lichts. Nichts ist wirklich trocken, nichts ist wirklich nass. Alle Kleider, das Zelt, das Radel, ich – sind beschlagen. Soll um die dreißig Grad heiß werden. Gewitterneigung ab Nachmittag. Dazu das triste Land. In der Nähe von Busigny frage ich einen Rennradler über einen Étang, einen Teich, auf den ein Schild hinweist. Ob es ein Badesee wäre? Natürlich nicht. Nur ein sumpfiger Tümpel voller Molche. Die Gegend böte nichts, sie sei toute monde triste, sagt der Junge. Ich bin versucht, auf eine kleine Hasstirade einzustimmen, aber weil ich ein netter Mensch bin, sage ich, dass es nur aufs Licht ankommt und auf die Stimmung und dass diese seine Heimat sicher auch ihre schönen Seiten habe. Im Frühling zum Beispiel.

Ich muss an die Meseta denken, die ich im Winter bei Frost im Nebel durchquert habe, wahrlich kein schöner Anblick, dieses ach so herzige Kleinod des Camino, das von vielen Pilgern in den höchsten Tönen gepriesen wird, Mohnblumen, aufschießendes Getreide, bunt und frisch, all das existiert nicht im Winter. Tristesse ist dann, wenn die Natur ruht.

In Busigny verschicke ich eine Postkarte. Der Mann am Schalter verkauft mir Marken. Die sind sehr schön, sagt er, zeigt mir einen Bogen brauner Etwase, die ich ohne Brille nicht erkennen kann. Jeanne d‘Arc und schon reißt er eine ab, leckt lasziv die Rückseite, klebt sie auf die Karte. Unter den Achselhöhlen zeichnet sich sein Hemd dunkelblau. Immer wieder werde ich angesprochen auf der Straße wegen des Radels und des vielen Gepäcks. Und wenn ich sage, dass ich aus Deutschland komme, staunen die meisten Menschen so sehr, als sei es eine Weltreise, lumpige fünfhundert Kilometer, dass es mir fast peinlich ist, von der Siebentausend-Kilometer-Nordseerunde zu erzählen. In den Niederlanden ist man derart vollbepackt nichts besonderes, in Frankreich offenbar eine Seltenheit. In Deutschland wurde ich verhöhnt. Und auch hier rief man mir vorgestern hinterher, die Tour de France ist vorbei.

Kaum verlasse ich Busigny, wird die Gegend lieblicher. Weniger garstig kahle Agrarwüste. Mehr kleine malerische Wieschen, Auen, einzelne Bäumchen, Kühchen. Wie eine Spielzeugeisenbahnlandschaft ohne Spielzeugeisenbahn. Wie eine Nordpfalz, die man mit einem überdimensionalen Bügeleisen versucht hat, zu glätten. Will sagen: Die Gegend ist geschwungen, aber nie gemein steil. Was auch wichtig ist bei der Hitze. Obendrein habe ich Glück mit dem Verkehrslärm, erwische eine Kette von ruhigen Departementsstraßen, auf denen ich weitgehend alleine bin. In südöstlicher Richtung schufte ich Richtung Verdun. Der Festungsort, bekannt aus dem Ersten Weltkrieg, ist noch ungefähr hundertfünfzig Kilometer entfernt. Wenn ich Verdun erreiche, überschreite ich den Abholhorizont. Die Distanz nach Zweibrücken, in der man mich bequem per Auto abholen könnte. Ich muss nur das Zauberwort ins Telefon kreischen: Ich bin ein Künstler, holt mich hier raus. Kollege T. steht in den Startlöchern. Natürlich werde ich versuchen, die gesamte Strecke zurück zu radeln. Je nach Wetterlage oder bei einer Panne, habe ich jedoch nicht genug Zeitreserven.

Nach etwa 80 Kilometern befinde ich mich an ähnlicher Stelle, wie bei den Tagesetappen des Hinwegs. Zwanzig Kilometer südlich von Hirson auf einer frisch gemähten Wiese. Der besitzer „erwischt“ mich, als ich das Zelt aufbaue. Holt die Heuballen vor dem drohenden Gewitter ein und wir schwätzen ein bisschen. So erfahre ich, dass diese Wiese alljährlich im Mai Parkplatz für ein Motocross-Rennen ist. Oben am Hang stehen die Kassenbuden. Ein Blechkasten, den ich als mögliche Notunterkunft ins Auge fasse, sollte das Gewitter zu stark werden. Direkt neben dem Zelt entspringt sogar eine Quelle. Idealer geht es nicht fürs Wildzelten.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 122 – die Strecke

Ich gestehe, Irgendlink hat mich mit seiner Angst vor Gewittern ein wenig angesteckt. Als ich vorhin mit ihm telefonierte, hat er erzählt, dass er auf einer großen Wiese am Rand eines Waldes das Zelt aufgebaut habe. Und dass es regne. Und gewittere. Gerade eben habe es geblitzt. Er sei mit Einwilligung des Bauern da, auf einem Gelände, auf welchem alljährlich im Mai Motocross-Rennen stattfänden. Darum stehe das Kassenhäuschen noch. In das werde er flüchten, falls es heftiger gewittere.

Nun hoffe ich sehr, dass alles gut geht, das Gewitter schnell vorüberzieht und Irgendlink eine ruhige und erholsame Nacht hat.

News aus Los Angeles: Juhu, alles im grünen Bereich – auch mit unserm treuen Sponsor Sarcom! :-) (siehe unten: letzter Streckenartikel).

>>> Wildzeltplatz bei Estourmel – Wildzeltplatz auf dem Motocrossplatz zwischen Harcigny und Plomion: zum Kartenausschnitt von heute: bitte hier klicken!