Zerfetzte Wahlplakate in Vaudencourt (groß durch Draufklick)
Schwarze Katze in Vaudencourt und Lore Nr. 718 an einer alten Kohlelire in Mancieulles in groß auf pixartix_dAS bilderblog
Und ewig grüßt die Straße: Km 7500 in Mancieulles
Artist in Motion
Zerfetzte Wahlplakate in Vaudencourt (groß durch Draufklick)
Schwarze Katze in Vaudencourt und Lore Nr. 718 an einer alten Kohlelire in Mancieulles in groß auf pixartix_dAS bilderblog
Und ewig grüßt die Straße: Km 7500 in Mancieulles
Muster. Wo du nur hinschaust in der Welt, gibt es Muster. Sie zu erkennen ist die Aufgabe des aufmerksam durchs Leben Gehenden. Denn sie bilden eine Art Rückgrat, an dem sich Nerven, Sehnen und Muskelstränge winden. Was wird bleiben von der schnell durchradelten Gegend zwischen Arras und Saarbrücken? Dass die Champagne nicht nur Wein ist, hatte ich erwähnt, dass sie im Gegenteil sogar viel eher Getreidefelder ist, flach, staubig, überhitzt im Sommer. Braun, klebrig und fast menschenfeindlich im Herbst hatte ich auch erwähnt. All das stimmt nicht. Es kommt immer auf den Zeitpunkt an, zu dem man eine Gegend durchradelt. Den Jahreszeitpunkt wie auch den Tageszeitpunkt. Das günstige oder ungünstige Licht, die eigene innere Verfassung. Die Richtung ist auch wichtig. Das wusste schon Flann O´Brien in Der dritte Polizist. Gehst du in die falsche Richtung, zieht sich der Weg ohne Ende, gehst du in die richtige, dann fliegt er dir entgegen. Die erweiterte Richtungsbetrachtung nach Irgendlink setzt einen drauf: es gibt nur richtige Richtungen und verfälschte richtige Richtungen. Bei einer verfälschten richtigen Richtung hast du ein Problem mit deiner Einstellung. Du selbst bist ein Teil des Wegs. Das Ziel ist weder der Weg, noch das Ziel, sondern du.
So oder so ähnlich vor mich hindenkend in den Endphasen von „Ums Meer 2012“ kurbele ich das obere Ainse-Tal hinauf nach Grandpré, wo ich einen holländischen Radler aus Vlissingen treffe. Kaum kann ich mich erinnern, wo die Stadt liegt. Eine Eigenart des zurückgelegten Wegs ist, dass man die Dinge durcheinander bringt, sobald sie nur ein paar Tage zurückliegen. Es gibt tatsächlich nur die Gegenwart, in der die Dinge wahr sind. In der Zukunft sind die Möglichkeiten wahr und in der Vergangenheit wird das Echte mit dem Möglichen zu einer phantastischen Masse verquirlt, in dem wiederum alle Möglichkeiten der Welt liegen, aber nur für den, der durch die Zeit reisen kann.
Der Holländer und ich hatten den gleichen Weg. Von Vlissingen via Breskens und Belgien nach Boulogne, hilft er mir auf die Sprünge. Grandpré sonntags Flohmarktstimmung. Autos parken in allen Gassen am Straßenrand und Menschen laufen kreuz und quer. Auf dem Markt vor der Kirche (in der Bildcollage zu sehen) trudeln sie durcheinander, kaufend, feilschend, quatschend. Ein Händler beschallt den ganzen Platz. Dudelsackmusik, so dass ich sentimental werde, mich für den Moment zurückversetzt fühle nach Edinburgh, das ich durch den Tunnel einer umgewidmeten Bahnstrecke an einem ähnlich sonnigen, aber kühlen Tag erreichte. Menschen im Park, Sonnenanbeter vor reflektierenden Mauern, Congas und ein echter Dudelsack. Das Gemurmel, kollektiv, unverständlich, einlullend. Ich hab wahrlich viel gesehen auf meiner Runde um die Nordsee.
Ein winziger Hund zofft sich mit einem trägen Bernhardiner, der aus dem Seitenfenster auf der Rückbank eines Peugeot 205 schaut. Welch absurdes Bild. Als säße eine Kuh auf dem Rücksitz. Der Fahrer wirkt fast unsichtbar, steuert die schief hängende uralte Karre durch die Stadt. Eines der Muster der letzten Tage ist das Hundegebell. In jedem Dorf, vor jedem Hof, in jedem Vorgarten, den ich passiere, verbellen mich die Hunde. In größeren Ortschaften löse ich eine wahre Kaskade des Bellens aus. Vom Ortsanfang bis Ortsende könnte ein Blinder exakt meinen Standort bestimmen, nur anhand einer imaginären Skizze der jeweiligen Hundestandorte und wann sie zu bellen beginnen. Der Fremdkörper im ländlich französischen Idyll. Wenn man alles Hundegebell der letzten Tage mitschneiden würde und es als Soundfile abspeichern würde, könnte man eine wahre Oper des Hundebellens daraus basteln. Schon arbeite ich an einer Arie für Trompete und Hund, an einer Sinfonie für zehn Pinscher und einen Berner Sennenhund, an einer Kakophonie der sturzbachähnlich über mich herein brechenden Hundewarnrufe. Cascading Style Sheets – ein Ausdruck aus dem Webdesign, Cascading Dog Bells, die kaskadierend hierarchisch arrangierten Glocken des Hunds, fabuliere ich tollpatschig. Ein bisschen Quatschassoziation darf sein, oder?
Ein weiteres Muster sind die Soldatenfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg. Alle paar Kilometer findet man einen: Amerikaner, Engländer, Deutsche, Franzosen – mit Hinweisschildern in der jeweiligen Landessprache und darunter, auf Französisch, sind die Mahnmale europäischer Zwistigkeiten ausgeschildert. Hunderte, Tausende, Millionen Gräber. Steinkreuze, Eisenkreuze, Holzkreuze, Namen, Nummern, frisch gemähter Rasen, zigjährige Bäume. Dichte Hecken oder Zäune oder Mauern umranken die Felder. Es obliegt den jeweiligen Ländern, ihre Gräberdenkmäler zu pflegen. Beim deutschen Friedhof in Romagne mache ich Halt. An der schweren Eisentür am Eingang gibt es eine Art Briefkasten mit Gästebuch und einem Buch, in dem die Namen der armen Teufel, die hier liegen, verzeichnet sind. Mit der Grabnummer. Die Kriegsgräberfürsorge hat im Gästebuch auf jeder Seite ein Muster gedruckt, wie man es zu benutzen hat: Name, Adresse, Nation, Email und wahlweise einen Kommentar kann man eintragen. Oben auf jeder Seite steht Frau Mustermann. Internationale Einträge. Echt traurig, was unser Land mit den Überbleibseln der tollen Soldaten gemacht hat, schreibt ein Jan Wolf. Unsere guten Soldatengräber sollten besser gepflegt werden. Und wie zum Trotz schreibt ein anderer: Wir gedenken unserer gefallenen deutschen Soldaten weltweit (im Muster steht: wir gedenken der gefallen Soldaten aller Nationen weltweit). Die filigrane Kommunikation auf den toten Seiten toter Gästebücher an den Pforten toter Orte.
Über die angebliche Schäbigkeit des sehr gut gepflegten Friedhofs beklagt man sich, was ich erst verstehen kann, als ich ein paar Kilometer weiter durch einen amerikanisches Gräberfeld radele. Die D123 führt auf der Ostseite von Romagne auf einer prächtigen Doppelallee mitten durch das großzügige Areal. An den Einfahrten markieren schneeweiße Türme das Monument des Massentods. Was für eine elende Vergeudung von Menschenleben! Ich stelle mir all die jämmerlichen Einzelschicksale vor von träumenden, liebenden, hoffenden Männern, die sich allesamt überlegt haben, irgendwie davon zu kommen, baff, Granate, die übernächtigt, verschmutzt, durchnässt in den Schützengräben gelegen haben, zisch, Schrapnell, bei Kälte und Regen jahrelang unter Dauerfeuer, Kopfschuss, nie durchschlafen, Lungenriss, niemals waschen, raus da raus da raus da, Offensive, Bajonett im Bauch, einen Idioten womöglich zum Vorgesetzten, im Rücken die eigenen Leute, Maschinengewehrsalve, damit man auch ja angreift, wenn das Kommando kommt, sonst metzeln einen die eigenen Kumpels. War es so? Hundert Jahre her. Himmelnocheins, wenn man das Universum in all seiner zig milliardenlangen Existenz auf einen einzigen Tag projiziert, dann haben die armen Schweine, deren Überreste in den Gräbern verrotten zu exakt dem selben Zeitpunkt gekämpft, wie ich diese Zeilen schreibe. Wie lange sind hundert Jahre, wenn 13 Milliarden Jahre ein Tag ist?
Was habe ich es doch so gut, in einem befriedeten Kontinent zu leben. Vielleicht sollte ich mich bei den Kerlen, die meine Großväter waren, bedanken? Dennoch bleibt das schale Gefühl, ob das alles überhaupt nötig war.
In der Nacht, schon jenseits der Meuse, schlafe ich sehr unruhig am Rand eines Feldwegs irgendwo in den flachen Ländern Richtung Mosel. Ich kann vier rote Blinklichter sehen im Nordosten. Ob das die Kühltürme von Cattenom sind?
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Hier eine Collage aus Bildern der letzten vier Tage. Deutlich heben sich die Zufallstraßenfotos hervor – eine aufregende neue Fotografie für die serielle Kunststraßenarbeit. Sowohl schreiberisch, als auch radeltechnisch, als auch fotografisch probiere ich in der Endphase der „Ums Meer“-Reise ein paar neue Dinge aus: Mehr Zufall, mehr Hingabe, mehr Speed könnte das Motto lauten.
Bis jetzt geht die Rechnung auf, obschon ich nicht glaube, dass ich das, insbesondere die hohe Geschwindigkeit von etwa hundert Tageskilometern, lange durchhalte (groß durch Draufklick).
Hobbyclown August zu K. und sein düsterer Freund Fríëđølîñ. Ein Bild aus glücklichen Tagen in einem Ferienpark in Nordfrankreich.
Richtig glücklich klang Irgendlink soeben am Telefon. Die heutige Etappe sei sehr ruhig und schön zu fahren gewesen. Vielleicht weil es Sonntag ist.
Und schon morgen könnte er, wenn alles gut läuft, die deutsche Grenze überrollen …
>>> Wildzeltplatz bei Terron sur Ainse – Wildzeltplatz zwischen Billy und Vaudoncourt: zum Kartenausschnitt mit der heutigen Strecke: bitte hier klicken!
Warum ist es nur so verflixt schwer, in der Ewigkeit des Moments zu leben? Wenn Du eine Strecke von siebentausend Kilometer, zurückzulegen per Rad oder zu Fuß, in kleine Einzelstücke zerlegst, kommt dir das nicht sehr weit vor. Vor Beginn der Reise habe ich allen Lieben daheim erzählt, dass ich nur drei Wochen wegfahre. Eine normale Zeitstrecke von der Länge eines Sommerurlaubs. Das versteht jeder. Nach den drei Wochen radele ich weitere drei Wochen und so weiter Das habe ich mir selbst auch gesagt. Gleichzeitig hat dieser Trick Platz geschaffen für ein völlig neues Reise- und Zeitempfinden. Denn die Länge an Zeit, die vor mir lag, war dennoch da. So konnte ich das Experiment „Lebe im Moment“ über Wochen gut durchhalten. Es gab ja keinen Endtermin für die Reise. Anfang Juli hatte ich dennoch grob skizziert. Das Kind braucht einen Namen. Die Ewigkeit erreichst du, wenn du die Zeit vergisst. Aufhörst zu rechnen. Durchschnittswerte zu ermitteln. Zu zählen. Das Ende nicht siehst. Das Ende kommt nur dem in Endlichkeit denkenden endlich vor. Wenn Du aber keinen Begriff mehr hast, keinen Maßstab, mit dem du eine Zeitspanne bewerten kannst, hast du die selbstgebastelte Unendlichkeit inmitten der begrenzten Zeit.
In der Nähe von Rethel stoße ich auf einen Bahntrassenradweg. Nicht befestigt und auch nicht in meine Richtung führend. Aber das Ding klingt verlockend, nach all den Kreuzbergen. Es führt nach Westen ins nächster Bachtal, etwa zehn Kilometer, von da aus könnte ich über die Straße bis ins Aisnetal gelangen, welches wiederum östlich weiter führt. Würde zwei Kreuzberge sparen. Wäre fünfzehn Kilometer weiter? Hmmm. Ich entscheide mich für fünf Kilometer Quälerei, komme schließlich an die Bach- und Flusstraßen in meine Richtung. Einkaufen in Rethel. Achtzehn Uhr. Drückend schwül.
Das obere Aisnetal ist wunderschön. Die Lagerplatzsuche erweist sich jedoch als schwierig. Ein Mann im Vorgarten schenkt mir zwei Flaschen Wasser, sagt, dass es Gewitter geben könnte. Das macht das Lagersuchen besonders schwer. Ich brauche einen Platz mit Notunterkunft in der Nähe, falls es zu arg wird. Am besten etwas mit Blitzableiter. Wie hanebüchen das doch ist. Ich habe als Kind zu viele Bücher gelesen, in denen steht, wie gefährlich Gewitter sind und wie man sich verhalten sollte: Nix metallisches am Körper, in der Hocke in einer Mulde kauern. Nicht am Waldrand, nicht unter einzelnstehenden Bäumen. Nachts habe ich genug Zeit, mir Gedanken um die Unwägbarkeiten der Spannungsausgleichs zwischen Himmel und Erde zu machen. Verdichtetes Halbwissen bringt mich irgendwann auf den Trichter, dass ich über Blitz und Donner eigentlich gar nichts weiß und die anderen, die die Bücher geschrieben haben, wissen auch nichts darüber, weshalb es am besten ist, sich gar keine Gedanken zu machen, denn der Blitz schlägt sowieso ein, wo er will und das muss kein Metall sein und auch kein höchster Punkt von irgendwas.
In Voncq wird die Landschaft geradezu malerisch. Fettes, farbenfrohes Abendlicht. Hinter einem Maisacker sehe ich einen Lagerplatz, fahre in den Feldweg daneben, versinke nach zwei Metern im Schlamm. Nur zwei Meter(!) und das Rad ist über und über verdreckt. Die Räder stecken unter den Schutzblechen fest. Ich muss es zurück zur Straße tragen. Mit den Fingern den Dreck entfernen. Mir deucht, hier hat es letzte Nacht viel geregnet. Weiter auf der D 14 mit schleifenden Rädern. Fluchend, gegen die Dämmerung ankämpfend.
Terron sur Aisne. Richtung Stade. Der Sportplatz ist oft eine gute Wildzeltgelegenheit. Schöne ebene Zeltfläche, frisch gemäht und für den Notfall gibt’s oft auch noch eine Tribüne oder ein Trainerhäuschen, in dem man sich unterstellen kann. Dieses Mal nicht. Mitten im Dorf. Ein paar Meter weiter eine frisch gemähte Wiese. Mein Lagerplatz! Die Sonne kommt nochmal unter den Wolken hervor. Gegenüber der Wiese sitzen Leute auf der Terrasse, die ich prophylaktisch frage. Niederländer. Sie sind zwar nicht die Wiesenbesitzer, aber ich hab mich immerhin angemeldet. Später bringen die beiden Männer mir einen Sack mit Broten und Eiern.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)