Freispüler und andere Lustigkeiten

Schon eine Woche her, dass ich den Zweibrücker Kreuzberg hinauf geächtzt bin. Nach fast vier Monaten Radtour um die Nordsee wieder daheim. Siebentausenssechshundertnochwas Kilometer, drei Platten, ein Tretlager, zwei Beinahestürze, ein beinahe Unfall, selbst verschuldet, zwei kritische Überholmanöver, viel Straßenlärm um viel. Und Stille.
Die Künstlerbude auf dem einsamen Gehöft ist eingestaubt. Überall Spinnweben. Ich muss an den Minicamping in der Nähe von Harlingen denken, wo die Tür zur Damentoilette mit einer Spinnwebe versiegelt war. Mann war da das Wetter schlecht.
Die Künstlerbude hatte ich zum Glück vor der Reise aufgeräumt, was sonst nicht meine Art ist. Das Auto hat keinen Tüv mehr. Derjenige, der es reparieren soll ist für drei Wochen krank. Der Internetanschluss funktioniert nicht mehr. Lebensader der Informationsgesellschaft. So verbringe ich die ersten Tage daheim damit, das Netzwerk zu reparieren, suche bis gestern, wie so oft, die Schuld bei mir selbst, bis ich erkenne, dass es ein Anschlussproblem ist, bzw. ein Problem an den Kompetenzgrenzen, jener Grauzone zwischen selbst und den anderen.
Eilvorbereitungen für das Kunstzwergfestival, welches am Wochenende 20-30 Dauergäste auf die Wiese hinterm einsamen Gehöft gespült hatte.
Welch krasser Lebenswechsel zwischen vier Monaten alleine, langsam, leise und dem Getümmel eines Kulturfestivals. Mit meinem bissig humorigen Freund Journalist F. scherze ich, telefonierend auf das Maisfeld hinter dem Küchenfenster blickend: diese Künstler sind wie Zombies. Wenn es dämmert erheben sie sich, die Arme nach vorne gereckt aus dem Maisfeld und du kannst verflixt nichts dagegen tun. Sabbernd die Zähne fletschend kommen sie langsam auf dich zu. Das Lächeln am Ende der Leitung. Drei ebenso schöne, wie bizarre Festivaltage – versteht mich nicht falsch, wenn ich vom Zombiebild rede. Es hatte sich mir einfach aufgedrängt, ebenso wie der etwas plumpe Spruch: Ein Kunstler macht muh, viele Künstler machen Mühe. Der stimmt. Und die Mühe ist es wert. Samstagsfrüh nach dem ersten Festivalabend spülen SoSo und ich das Geschirr vom gemeinsamen Essen am Vorabend und wir prägen den Spruch vom Freispülen: jetzt ist das Chaos noch nicht zu groß. Wer jetzt spült, wer sich jetzt nassforsch aus dem Kollektiv löst, kann sich freispülen und muss an den nächsten Tagen nichts mehr tun für die Gemeinschaft. Denkste! Aber der Freispüler war geboren. Schon skizziere ich, Teller trocknend einen Spülkurs und Spülhosen, auf die man gestickte Etiketten nähen darf. Nach dem Freispüler kommt der Fahrtenspüler. Es gibt das Seespülchen für die Kleinen und den Totentopf für die Mutigen. Nachmittags, verspreche ich, mache ich einen Kurs Freispüler. Die Kriterien, nach denen man das Abzeichen kriegt, sind 15 Minuten Spülen und ein Kopfsprung ins Spülbecken. Die Zeit rennt. Samstags feiern SoSo und ich drei Jahre Liebe. Ich glaube, SoSo sagt, drei Jahre schon, bzw. drei Jahre punkt punkt punkt, mit diesem sehnsüchtig unergründlichen Schwingen in der Stimme, das den Moment zur Ewigkeit erstarren lässt. Und mir schießt es in den Sinn: Erst? Nicht etwa, weil mir die Zeit so lang vorkommt, sondern weil so viel passiert ist. Ich sehe uns gleichzeitig am Polarkreis, in den Pyrenäen, in Bern, in Zweibrücken – wie viele tausend Kilometer mussten wir fahren, um einander immer wieder zu erreichen, zwischendrin lebten wir ein ganzes Jahr zusammen … höchste Höhen, tiefste Tiefen. Das alles kann nie und nimmer in nur drei Jahren passiert sein. Um uns das Getümmel der Welt.
Die Nordseereise ist siebentausendsechshundertnochwas Kilometer entfernt. Ach was, es fühlt sich, nun montags, dies schreibend, so an, als habe sie niemals stattgefunden. Als habe ich das einsame Gehöft nie verlassen. Ausradiert. Was bleibt, ist eine Slideshow auf dem Computer, die eine zur Fiktion werdende Vergangenheit abbildet.
Im Notizbuch des Fons finde ich einen nicht veröffentlichten Tourenbericht mit dem Titel: „Der letzte Kreuzberg – Ausrollen auf dem weichen Teer des Alltags“.
Er handelt von einem Mann mit 50 kg schwerem Fahrrad, der nach vier Monaten Radeltour die steilste Straße seiner Heimatstadt hinauf kurbelt.

Geschafft!

Die Maus ist zuhaus und das Märchen ist aus … Aber die Wirklichkeit geht weiter. Auch weiterhin gibt es dieses Blog. Und auch weiterhin dürft ihr alle hier vorbei gucken.

Auch ich bedanke mich bei euch allen, ihr treuen Leserinnen und Leser, für das Miteinander in diesen letzten vier Monaten.

Meinen Job als Homebase in diesem Blog hänge ich für eine Weile an den Nagel und winke euch herzlich zu. Mit dem neuen Newsletter in der Hand. Winke winke!

Newsletter? Ach, ja, den habe ich soeben an alle, die ihn abonniert haben, versendet. Alle anderen können ihn auch auf dem Blog lesen. Und abonnieren. Denn nach der Reise ist ja bekanntlich vor der Reise.

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Monument des Danks – North Sea Cycle Route „Ums Meer“ 2012

Man sagt, in der Sekunde, in der man vor seinem Schöpfer steht, läuft das gesamte Leben noch einmal vor einem ab. [Denise alias Sofasophia] Wie ein Film rückwärtsgespult. Jedes Bild, jedes Geräusch, jeder Gedanke und jedes Gefühl, das man im Laufe der Jahrzehnte auf dieser Erde hatte, werden noch einmal kurz eingeblendet, bevor der letzte Vorhang fällt. [Norbert und Ute] Ich habe das Fon auf Diaschau gestellt, Zufallsmodus, Bildabstand eine Sekunde. [Anette und Brian] Wahllos blitzt es durch mein Leben, nicht nur die siebentausend Bilder der Nordseerunde sind darauf, auch weitere sechzehntausend Bilder aus den vergangenen Jahren. [Violetta] Die Jakobsweg-Wanderung, Zweibrücken Andorra, Privates mischt sich mit Beruflichem. [Emil und Hannelore] Dokumentarisches ist darauf, die Abfotografie von Informationen, Visitenkarten schnell fürs merken geknipst. [Norbert U.] Hochgradig im Fon bearbeitete Kunstwerke sind neben Banalitäten. Eine konfuse Schau am letzten Reiseabend. [Du und Sie] Vom Wildzeltplatz bei Voudencourt radele ich zunächst über ruhige Landsträßchen. [Michelle und Henriette] Die weißen Sträßchen in den französischen Karten kann man gut als Radwege benutzen. Außer in den Stoßzeiten ist dort nichts los.

Die Karte zeigt Übles: ein verstädtertes Gebiet an der Mosel, das sich von Metz bis Thionville gut fünfundzwanzig Kilometer weit zieht. Auf der Karte ein gut fünf Zentimeter breiter Moloch, eine unnatürliche Barriere aus Industrie und Gewerbe und Wohngebieten. Kaum eine wenig befahrene Strecke verzeichnet. Nur Hauptstraßen. Ich weiß, dass es den Moselradweg auch in Frankreich gibt. [Susanne L.] Er soll gar nicht übel sein. Aber ich will ja quer rüber, nicht der Mosel folgen. Bei Moyeuvre-Grande beginnt der Spaß. Mit Mühe und Not kann ich die steil steigende Straße auf einem Weg am Bach umschiffen, lande verloren in Briey, wo mich vor dem Ortsplan auf einem Schild ein Barbesitzer anspricht und mir den Weg erklärt: Stoppschild, Lidl, Feuerwehr, dann rechts ab den Hinweisschildern folgen. [Klaus K.] Schufterei aus dem steilen Bachtal heraus. Mäßige befahrene Strecke über Moutiers nach Romecourt. [Madame Hingrez] Vor einer Pizzeria frage ich einen Mann, den Besitzer, nach dem besten Weg zur Mosel, möglichst ohne Steigung und tranquille. Er malt es mir auf: Erster Kreisel rechts, zweiter links, Ampel und Brücke geradeaus, Stoppschild rechts, Kreisel, Kreisel, Kreisel und so weiter, Rombas. [Monsieur Quehen] Dort fragen. Gut so. Warte noch, sagt er und verschwindet in der Pizzeria, bringt mir eine Dose Cola zur Wegzehrung. Schon fast an der Mosel? Mäßiger Verkehr. Laut. Stickige Luft. [Gitte] Mosel noch immer nicht in Sicht. Ab Rombas nimmt das Gemetzel zu. Über die D8 Richtung Fluss. [Robin] Autos zählen, zwei, zehn, zwölf, achtzehn und so weiter, knapp hundert Karossen bis kurz vor der Autobahn. [Engelbert] Zwei gefährliche Kreisverkehre, in denen ich ein Loblied auf die englischen RadwegeplanerInnen singe, weil sie es geschafft haben, auf der bald zweitausend Kilometer langen Strecke des Radwegs Nummer Eins selbst den größten, undurchquerbarsten Kreisel so für Radler zu beschildern, dass man irgendwie durchkommt. [Peter und die 14 Schotten] Hinter der Autobahnauffahrt sind die Hinweisschilder zur Moselbrücke plötzlich mit Folie verklebt. Ist die Straße gesperrt? [Gaarder Sykkelsport] Ich versuche bei zwei Polizisten, die einen LKW-Fahrer kontrollieren, herauszufinden, ob man durchradeln kann. Arroganz pur. Der jüngere dreht mir demonstrativ den Rücken zu, als er mich anrollen sieht. [Ray] Ob man das auf der Polizeischule so lernt? Bürgerferne. M.

[Susanne alias Frau Freihändig] Da sonst niemand auf dem autobahnähnlichen Straßenstück zwischen den Kreiseln zu finden ist, muss ich selbst heraus finden, warum man die Schilder zur Moselbrücke nach Bousse zugeklebt hat. Einen Kreisel weiter wird klar: die renovieren die Brücke. [Karen und Carsten] Sie wäre zwar passierbar, ist aber mit Absperrungen so stark verbarrikadiert, dass man selbst zu Fuß kaum durchkommt. [Ingrid alias Waldviertelleben] Drei Kreisel retour, weitere fünf Kilometer Gemetzel. Rüber nach Guénange. [Herr Steffen] Ein anderer verlorener Radler mit viel Gepäck vor mir. [Sarcom] Kurz vor der Brücke habe ich ihn fast erreicht, aber er fährt geradeaus weiter gen Thionville. [Schlager] Andere Moselseite. Blog seis getrommelt und gepfiffen. [Steph] Der Moselradweg führt dort auf idyllischen Teerpfaden, in Flussnähe, meine ich zu erkennen. [Friedrich und Giesela] Noch bis Metzervisse bin ich im Feierabendstrom gut hundert Autos lang über die normalerweise ruhige D60. [Arne und Sylvie] Wenn ich erst europäischer Verkehrsminister bin, phantasiere ich, sorge ich dafür, dass Autos nur dann fahren dürfen, wenn mindestens drei Menschen darin sitzen und dass man Radler nur mit einer Maximalgeschwindigkeit von fünfzig km/h passieren darf. Jawohl. [Patrick alias Kieselsteine].

Nur noch acht Dörfer bis Deutschland. [Tone, Jostein und Jon Olaf] Ab Kédange wunderbare idyllische Strecke durch Wiesen und Hügel. [Neil aus Newtonmore] Verschlafene Dörfer, in denen ich jeweils für ein paar Minuten anhalte, um Frankreich ausklingen zu lassen. [Stefan alias Fliegerhorst] Die letzten Ideen im Kopf zusammenkratzen, als würde man einen Teller Nudeln leeressen oder ein Nutellaglas bis zum letzten Rest ausschaben: was fehlt? [Ulli und Horst] Eine Dankesliste und eine Gesamtrevue der Nordseerunde. [Emil M.] Na, ob das so eine gute Idee ist, die beiden Elemente des live geschriebenen Berichts auch tatsächlich am offenen Herzen der Literatur operierend einzuflicken? [Emil und Hannelore] Der Review der gesamten Strecke, mal ehrlich, lieber Irgendlink, kannst du doch in diesem unkonzentrierten, hippeligen Endstadium der Reise gar nicht gerecht werden. [Hanne alias Dina] Zu wild sind deine Gedanken und Gefühle, zu verwirbelt ist alles. Das ist ein Glas Wasser, in das du gerade einen Tropfen Sirup geschüttet hast. [Klausbernd und die Buchfeen Siri und Selma] Chaotisch mischt sich das Süß mit dem Trägerstoff und in dem Anfangsstadium dessen, was du bald trinken wirst, ist kaum etwas Klares auszumachen. [Georges] Hey, das wird der Reise nicht gerecht, wenn du jetzt noch einen zusammenfassenden Artikel schreibst und mit den Dankesreden, nuja, du wirst sicher den einen oder anderen vergessen. Lass es! [Brian, Lil und Frieda] Eine Idee kommt mir in den Sinn, die ich schon vor Boulogne hatte: ich flicke einfach alle Namen derjenigen, denen ich danken will, in einen ganz normalen Artikel ein. [Jachi und Christel] Dann werden sie auch gelesen. [Jo und Dani] Nichts ist dröger, als eine Seite voller Namen, auf denen diejenigen, die vermuten, genannt zu werden, nach ihrem Namen suchen müssen. [alle, die ich vergessen habe].

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tage 125 und 126 – die Strecken

Wie es aussieht, ist das der letzte Streckenlink-Artikel dieser Live-Reise, den ich publiziere. *snieff*

Ein bisschen wehmütig ist mir schon zumute. Immer wenn etwas aufhört und das Leben für Neues, Anderes Platz schafft, schlägt das Herz Synkopen, macht Sprünge und findet schließlich einen neuen Rhytmus. Wohlan den Herz, nimm Abschied und gesunde, sagt Hesse.

Irgendlink wird, wie es aussieht, morgen Abend bereits das vertraute, einsame Gehöft erreichen. Nur noch ein paar wenige Kilometer trennen ihn nun von der deutschen Grenze, die er schon heute hätte überrollen können. Doch die Wieschen, die wilden, schönen, weiten, hätten ihm Lust auf eine letzte wilde Nacht gemacht, meinte er am Telefon. Die Françitude will bis zum letzten Tropfen ausgekostet sein.

>>> Wildzeltplatz zwischen Billy und Vaudoncourt – Wildzeltplatz bei Waldweistroff: zum Kartenausschnitt der heutigen Tagesetappe: bitte hier klicken!

>>> Waldweistroff – Zweibrücken: mutmaßlicher Kartenausschnitt der letzten Etappe: bitte hier klicken!

Tag 125 – Noch mehr Bilder

Weil der Daypass, den Irgendlink gebucht hat, noch über ein wenig Restvolumen verfügt, aber in einer knappen Stunde ausläuft, hat er mir noch mehr Bilder geschickt.

Ein Hohn von Radweg. Etwa zwei Kilometer lang, wechselt mittendrin die Straßenseite und endet abrupt im Nichts hinter Guénange (zum Vergrößern bitte draufklicken).

Oh Herr, lass Radwege wachsen. Kurz vor Kédange an der D 918. :-)

Ich bin grad auf einer relativ stark befahrenen Feierabendstraße. Wer solche Radwege baut, baut auch Sofas ohne Polster, Klos ohne Abfluss. Das muss ins Bauesoterikbuch.
Jetzt ist ruhiger. Auf der D 60a nach Klang, notiert Irgendlink in einer Mail.

Später: Liebgrüß an Alle. Ich hab die Grenze fast erreicht. Kurz vor Saarlouis gehe ich um acht offline. Das Auslandspaket läuft ab. Nur noch zwei Dörfer bis ins deutsche Netz
Bis Morgen. Gute Nacht Ihr Johnboys und -girls da draußen.