Holland

Das zehnte Land „Ums Meer“. 6180 Kilometer von zu Hause entfernt. Oder nur noch 600? je nachdem, wie ich die Runde betrachte, stehe ich nun kurz vor dem Finale, bin ich schon soundso weit vom Startpunkt entfernt. Wie immer mittendrin. Ich bin froh, dass ich mich entschieden habe, weiter am Meer zu radeln. Die Runde wäre nicht „rund“ ohne das Heimatland der guten Radwege. Mein erster Eindruck von den Niederlanden? Flach :-) Und leer und aufgeräumt. Zugegeben, Sonntag ist kein guter Tag, um einen ersten Eindruck von einem Land zu bekommen.

Kurz nachdem ich bei Nieuwe Stratenzijl die Grenze auf einem kaum meterbreiten betonierten Pfad überquert habe, kommt die Sonne heraus und das Licht bricht durch. Geradezu Holländischer-alter-Meister-esque. Turmhohe Wolken. Blauer Himmel mit grauen und weißen Anteilen, Cyan, das sich ins Grün der Felder verbeißt und sich im Spiegel der Kanäle mit dem wenigen Bunt vermählt, das der Mensch in Form von Lack auf alles Nichtnatürliche aufgebracht hat. Ein Stein mit der Aufschrift „K“ spiegelt sich in der Nähe von dem Dorf Hongerige Wolf auf der Wasserfläche. Vom Wind schräg geblasene Bäume. So ackere ich sonntags bis kurz vor Delftzijl, was sich als Industriestadt entpuppt mit meilenweiten Chemiewerken. Das Basel oder das Ludwigshafen des Nordens? Überall auf den kurzgeschorenen Wiesen um die Werke stehen Warnschilder, dass man sie nicht betreten soll wegen der Leitungen, die unterirdisch verlegt sind. Aber auch oberirdisch ist die gesamte Gegend verrohrt. Eine kleine Kirche inmitten des Industriedschungels zieht mich magisch in ihren Bann. Vom Radelweg aus, der hier an der Straße auf separater Teerbahn führt, kaum zu erkennen, wie man dort hin gelangt. Links ein Werk. Rechts ein Werk. Im Hintergrund zeichnet sich schrill eine Feuerfackel auf einem hohen Schlot gegen die haushohen Wolkenwände. Ein bisschen Weltuntergangsstimmung.

Über die Zubringerschiene zu einem Werk querend erreicht man das kleine Backsteinkirchlein. Friedhofsrasen ungemäht, Trampelpfad rund um den Bau. Es ist nicht auszumachen, ob das Ding noch benutzt wird. Der Friedhof mit alten, teils zerbrochenen Grabplatten, durch deren Ritzen man in die Tiefe der Gräber schauen kann, wäre ein schöner Zeltplatz. Ich weiß nicht, warum meine Nerven das nicht mitmachen. Hinter dem Friedhof führt ein Trampelpfad in ein unwegsames Gelände, das mit mannshohem Bärenklau bewachsen ist. Jenes kontaktgiftige Kraut, das meinen Freund Hans vor etlichen Jahren einmal so schrecklich verätzt hatte. Beim Wildzelten in dieser vom Wind umspülten Gegend muss ich, neben dem Nicht-allzu-exponiert-sein für menschliche Blicke auch das Nicht-allzu-exponiert-sein für den Wind beachten. Es schläft sich schlecht in einem flattrigen Zelt. Hinter einer Hecke gegenüber der Kirche baue ich auf einer Wiese auf.

Montagsmorgens sieht die Welt gleich anders aus. Mehr Autos. Und die ersten Frachtzüge rollen über die nahe Schiene in die Chemiefirmen. Trotzdem bleibt das Gefühl einer aussterbenden Gegend. Insbesondere die riesigen Gehöfte, die einzeln auf dem Land stehen, wirken wie ausgestorben. Neben zig Meter langen Scheunen und Lagerhallen sind winzige Wohnhäuschen. Hohe Fenster. Die Dächer der Hallen sind faszinierend: zur Windseite hin lang gezogene, relativ flache Schrägdächer, zur dem Wind abgewandten Seite hin stehen sie offen, laden geradezu ein, sich mitsamt Fahrrad und allem Gepäck darin zu verstecken, sollte mal ein Gewitter kommen.

Wildzeltplätze sehe ich etliche in dem Land, das in meiner Phantasie vor der Reise als das am schwersten wild zeltbare gegolten hatte. Natürlich darf man sich nichts vormachen: gesehen wird man hier immer. Aber die Menschen scheinen sehr freundlich … nuja, sagen wir mal eher kühl, zurückhaltend. Ich bin mir noch nicht so sicher, wie ich sie einschätzen soll. Oft versuche ich, direkt deutsch zu reden, was in den europäischen Ländern manchmal etwas kritisch ist, weil man den Deutschen eine gewisse herrische Arroganz nachsagt. Einerlei scheint hier niemand deutsch zu sprechen, so dass ich schließlich auf Englisch umschalte. Die Landessprache ist lesend recht gut zu verstehen. Aber das mit dem Hören klappt nicht so gut.

Deftzijl verlassend, radebreche ich an einem Artikel über die niederländische Verkehrsministerin Antjie K., die ihre Aufgabe mehr als bestens gelöst hat. Don Quichottesque sind die vielen Chemiegebäude der Stadt plötzlich Lobdenkmäler für die große Frau. Ein bisschen Spaß muss sein. Das Radwegenetz ist faszinierend. Im Landkreis Gröningen, den ich zur Zeit durchradele, sind alle paar Kilometer Knotenpunkte eingerichtet, an denen man Tafeln mit dem Wegenetz aufgestellt hat. An den Knotenpunkten stehen Stelen mit den Destinationen und der Nummer des jeweiligen Knotens, sowie der folgenden Knoten. So kann man sich auf der Karte die Route planen und sich zum Beispiel die Nummern notieren: von Knoten 71 zu 16, 18, 23 und so weiter und man muss dann nur noch den Richtungspfeilen auf den Stelen folgen, die zum nächsten Knoten zeigen. Die Schilder sind durchweg in gutem Zustand, nicht etwa vandaliert, wie das in Deutschland oft vorkommt. Fernradwege sind zudem mit klassischen Richtungsweisern ausgezeichnet. Ich folge dem Radweg LF 10b. Wobei b die Richtung anzeigt – in meinem Fall nach Westen, a ist die entgegengesetzte Richtung. Eine Verirrung, wie etwa damals in Colchester, England, als ich im Kreis radelte stets den Radweg 1 Schildern folgend nach einer Stunde wieder dort angekommen war, wo ich in die Stadt hinein geradelt war, ist somit ausgeschlossen. Well done, fikive Verkehrsministerin Antjie K. Niemand kann so gut Radwege wie du.

Montags kämpfe ich mit dem heftigen Gegenwind, der gegen Nachmittag von mäßigem Dauerregen abgelöst wird. Schaffe dennoch knapp hundert Kilometer bis zu einem feinen Lagerplatz am Deich, notdürftig hinter einem Steinhügel verborgen. Nachts hört der Regen auf und es folgt wieder Wind. Man hat wohl nur die Wahl zwischen den beiden Übeln?

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 112 – die Strecke

Ich hab grad eingecheckt auf einem Farmcamping für 3 €. Direkt unterm Windrad, hat Irgendlink vor einer Viertelstunde gemailt.

>>> So sieht es dort aus: hier klicken!

>>> Nähe vom H.M. Gerbrandywei-Deich – Bauernhofcamping nach Barradeel: zum Kartenausschnitt der heutigen Strecke: bitte hier klicken!

Die glorreichen sieben W der Blogliteratur

Paar Tage her, dass ich im Mietauto vor mich hinspinne, neben mir die SoSo, und ich erzähle ihr, nun, da der Endspurt beginnt, sollte ich meine Blogtechnik ändern. Bloß nicht, schreit sie, doch, ich will die drei großen Ws beachten, ich will journalistischer werden, jeder Blogeintrag soll von nun an so klingen, als wäre er ein Zeitungsartikel, ich will denen da draußen zeigen, dass ich auch anders kann, dass ich kompatibel bin.

Entgeistert schaut mich die SoSo an, während ich das Kleinfahrzeug über die ewig hohe A23-Brücke, die den Nordostseekanal quert, steuere. Flachland soweit das Auge reicht. Ich habe ein euphorisches Gefühl, den kompletten Überblick zu haben, nicht nur auf das Land, Ditthmarschen im Süden, Schleswig und Holstein und all das, sondern auch auf mich selbst und mein Reiseprojekt. Die sieben glorreichen Ws, titele ich insgeheim, die will ich beachten von nun an, so dass jede stinknormale Tageszeitung sich der Blogtexte bedienen kann und sie eins zu eins druckt, ohne auch nur den Hauch der Idee, dass sich unter der feinen sieben-W-igen Oberfläche ein verdorbener Sinnsuchender verbirgt … so phantasiere ich auf der Höhe der Nordostseebrücke. Die SoSo schüttelt nur den Kopf, gibt schließlich auf, mir einzubläuen, dass doch gerade diese losen Seelentexte, die vom echten, gelebten, unredigierten Reiseleben handeln, es ausmachen, dass gerade das das Unterscheidungsmerkmal ist und dass gerade deswegen die wenigen immer mehr werdenden des Irgendlinkblogs statt morgens nüchtern Zeitung zu lesen, das Blog aufschlagen. Ein Klecks Marmelade auf dem hochauflösenden Monitor einer seltsamen Parallelwelt.

Eine Woche ist das jetzt her, dass wir dort im Auto saßen, fast 1000 Kilometer entfernt. Per Mietauto, Zug und Radel habe ich vor ein paar Tagen den Wiedereinstieg in mein Europennerleben gefunden. Entwurzelt kam ich mir vor am ersten und zweiten Tag. Ein Kastrat der Moderne, ein Kunstbübchen, das man zu lange im Kreis gedreht hat, so dass es erst einmal orientierungslos umhertorkelt, ehe es in irgendeine x-beliebige Richtung losradelt …

Aber nun bin ich wieder mitten in der Tour, mitten im Reiseflow. Die Kunstmaschine in mir rattert wieder. Ich stoppe alle zehn Kilometer und mache mein Kunststraßenfoto und nehme auch so alles mit, was sich zu fotografieren lohnt. Die glorreichen sieben W, gaukelt es mir dabei im Kopf. Ha! Was hast du dir nur gedacht, als du das gesagt hast, lieber Europenner, Kunstbub, Irgendlink, Knildnegri, Lind Kernig? Das, was sie einem auf der Journalistenschule immer predigen, der Kern eines jeden Artikels: Wer hat Wann Was Wieso Wo Wie Wemacht! Die Glorreichen Sieben, lächele ich verschmitzt und kurbele unter mäßigem Westwind durch das flache Land.

Meine Angst, die mich schon von Anbeginn der Reise durchzuckt, kommt mit einem Mal hoch, die Angst, einen Tag im Nichts zu verbringen und kein einziges nennenswertes Erlebnis zu haben, über das man berichten könnte und somit am Abend mit literarisch leeren Taschen dazustehen und denen da draußen, den wenigen Sinnsuchenden, die das lesen, nichts bieten zu können. Ich passiere ein seltsames Deichbaudenkmal mit grünem Dach, das aussieht wie ein altes ägyptisches Prunkbauwerk und komme an einem Hof vorbei bei Knotenpunkt 1 des nordwestfriesischen Radwegenetzes. Ein umgewidmeter Hof, in dem sich nun ein Musuem für Deichbauutensilien befindet und eine riesige Halle voller Meeresfundstücke. Und darüber schreibe mal im Journalistenstil! Ob das lesenswert ist? Viel gibt es nicht auf den gestrigen achtzig Kilometern durchs Flachland, über das sich ein Zeitungsartikel stricken ließe. Ich brauche die innere Quelle, wird mir bewusst, um diese Blogartikel zu schreiben. Ich will gar nicht normal. Ich will mich gehen lassen, nur noch bei dieser einen Tour. Vielleicht gewöhne ich mir den „echten“ journalistischen Stil mit all seinen einengenden Daumenschrauben, der begrenzten Wortzahl, der Duden-konformen Schreibweise, dem gezähmten Schreibstil ja für die nächste Reise an. Hier nicht! Ich will diese wilde, freie Tour so zu Ende bringen, wie sie begonnen hat. Pfeif doch auf die Kompatibilität zum Massenmarkt.

Das Hofmuseum läuft mir da gerade gut rein. Wer besucht schon ein Museum, in dem es alte Bojen, Holzstücke, Strandgut zu sehen gibt. Das Meeresmüllmuseum bietet als Hauptattraktion einen alten Silo, den man besteigen kann, dreißig Meter hohes Teil, das nun zum Aussichtsturm geworden ist. Der Eintritt kostet 2,50 Euro, die ich mir aber verkneife, nachdem ich für 4,85 Euro eine winzige Tasse Kaffee getrunken habe und ein flaches Stück Mürbeteigkuchen mit rosa Sahne darauf. (Der hohe Preis lässt nichts gutes ahnen für die Attraktionen des Museums – wenn du für 4,85 Euro zu wenig Kaffee und Kuchen kriegst, kriegst du auch für 2,50 Euro zu wenig Museum und Aussichtsturm – im Vergleich dazu sind 0 Euro für hastig dahin geschnodderte Blogtexte doch ein Schnäppchen, oder?).

Ein paar Kilometer vom Museum entfernt steht ein einsamer, schiefer Kirchturm – dummerweise merke ich mir das Dorf nicht, sonst könnte ich nun professionell journalistisch darüber schreiben und nebenbei noch ein paar er-wikipediate Zeilen zu der Geschichte des Turms anhängen. So aber sitze ich gegen 19 Uhr auf einer Bank und beobachte das Ding. Die Wolken dahinter. Wind rauscht im Weizen, ein Fänger schleicht durch den Roggen und zwei üppige Mädchen joggen auf der Landstraße für ein gutes Gewissen. Die Gegend macht mir die Lagerplatzsuche nicht einfach. Ich brauche ein windgeschütztes Plätzchen. Da aber der einzige höhere Bewuchs hierzulande dazu dient, den Wind von Höfen oder der Straße abzuhalten, gibt es logischerweise nur Zeltplätze direkt auf der Straße (die andere Seite der Hecken und Bäumchen ist logischerweise diejenige, die dem Wind zugewandt ist, und auf der Straßenseite kann man kein Zelt aufbauen). Zehn zwanzig Kilometer weit halte ich Ausschau und stehe plötzlich vor einem kleinen Farmcamping kurz vor Harlingen. Direkt gegenüber der ersten Industrie mit monströsen viereckigen Kästen, keine Ahnung, was die darin treiben. Kein einziger Gast am Platz und ich klingele am Haus, zahle drei Euro für die Übernachtung. Mein Zelt steht nun direkt unter einem Windkraftwerk, Traumfänger der Moderne. Das Rattern stört mich kaum, und das Surren des Generators klingt mit ein bisschen Phantasie wie ein Wasserfall. Ich träume wild und viel, habe jedoch alles wieder vergessen, außer meiner halbschlafenen Vermutung mit dem Traumfänger. Der Platz ist ganz nach meinem Geschmack, was gleichzeitig bedeutet, dass er ganz und gar nicht nach dem Geschmack einer breiten Masse ist. Das erklärt den Gastmangel. Das Badhaus ist in einem Container, ungeputzt. Warmwasser gibt es – vor der Tür zur Damentoilette hängt eine Spinnwebe. Ich bücke darunter hindurch, hänge meine Zusatzakkus an die Steckdosen. In der Herrentoilette ist nur das Urinal in einem brauchbaren Zustand.

Die Wetterkarte auf dem Fon kündigt für nachher eine 90 prozentige Regenwahrscheinlichkeit an bis ca. 15 Uhr. Am Horizont in Windrichtung sehe ich schon die dunklen Wolken. Die wollen ernst machen.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Zwischen Tür und Angel

Soeben zwischen Tür und Angel des Damenklos auf meinem Zeltplatz bei Harlingen ein bisschen Kommentarpflege betrieben. Stehe unterm Spinnennetz. Nieselregen. Das Windrad schraddelt. Zelt gepackt. Akkus geladen. Regenkleider am Leib. Freund Ray SMSt aus England, er sei 30 Meilen südlich von Hull und ich möge in Harlingen in der Hauptstraße in einem Käseladen, der mit den adretten Bedienungen, vorbeischauen und einen Saft trinken, Anges-Saft glaub ich. Was das wohl ist. Oke. Ich geh jetzt da raus, brrr.