Am 29ten März habe ich das Land verlassen. Ganz unspektakulär überquere ich die dänisch-deutsche Grenze 23. Juni abends. Ein Sonntag. Fähnchen, gelbes Ortsschild, Ä, Ö und Ü, scharfes S. Mitten auf dem Radweg liegt ein Hundehaufen. Der rote Teppich des kleinen Mannes. Ich lache über diesen Witz kilometerweit.
Montagmorgen in Neukirchen spüre ich den Takt. Müllabfuhr leert die Container – ist es nur Einbildung, oder sitzt das Korsett des Lohnerwerbs hier tatsächlich fester als in all den anderen Ländern? Das wievielte Land durchquere ich eigentlich auf meiner Reise? Frankreich, Luxemburg, Belgien, wieder Frankreich, England, Schottland, Norwegen, Schweden, Dänemark … Puuuh. Ich habe mein Leben so extrem in die Gegenwart verlegt, dass ich mich kaum noch erinnern kann an früher. Trübwetter. An einer Scheune steht in großen Buchstaben: VERLEUMDUNG. An der Bushaltestelle vor einer Schule haben Kinder gekritzelt: Wir wollen unsere Rechte zurück. Eine Lea vereint in einem Herzchen mit Mike, Fredi ist schwul und Lisa schreibt: Ich war hier.
Die Menschen! Der Kassier im Supermarkt, den ich frage, warum sie sonntags aufhaben, sagt, dass es eine Ausnahmeregelung ist im Grenzland, und dass weiter unten, in Niebüll die Kurortregelung gilt, und dass dort die Läden auch offen sind. Wir haben nur vier Tage im Jahr zu, und an denen sind wir besoffen.
In den Ritzen des Alltags erlebe ich meine Landsleute. Eine Frau packt die Kinder ins Auto, während ich unter einer schrägen Weide einen Regenschauer abwarte, mit Engelbert telefoniere, der in seinem Blog vor einigen Wochen schon umgefragt hatte, wer denn von seinen LeserInnen am Meer wohnt, und wer mich treffen wolle. Er verrät mir die nächsten Orte: Husum, Sankt Michaelisdonn. Dort kann ich Menschen kontaktieren. Ich schreibe ihnen Emails. In Dagebüll, dem Inselhafen, der Amrum und Föhr bedient, treffe ich Ray wieder. Barsche Imbissbesitzerin. Die Leute sprechen uns reihenweise an, vollbepackt wie wir sind, wir zwei Exoten. Bei dem Sauwetter fährt sonst niemand Rad. Kilometerweit am Deich entlang. Durch Schafsland. Sehr schön. Ich spiele eine Weile mit dem Gedanken, dass die Schafshaufen auf der durchwegs geteerten Strecke eigentlich eine Botschaft sind, dass man den Weg als eine Art Lochstreifen sehen muss. Beschließe, mich Penn Drown zu nennen und einen Bestseller zu schreiben mit dem Titel der Da Sheepy Kot.
Die Vögel fliegen im Slalom um uns Fremdkörper, scharwenzeln im Wind, bleiben manchmal sekundenlang in der Luft stehen. Flut läuft ein. Nieselregen. Ein kleines, schwarzes Schaf liegt im Windschatten eines aufgedunsenen, toten Schafes, das die Beine von sich streckt. Mir wird klar, dass es pure Statistik ist. Dass der Tod immer da ist, mitten unter uns, und dass man ihn nur sieht, wenn eine Art überkritische Masse an Lebenden erreicht ist, dass in den großen Städten immer irgendwo eine Sirene heult, wenn etwas Schlimmes passiert ist, und dass hier im Schafsland immer irgendwo ein totes Schaf liegt, dem die Möwen die Augen aushacken. Weitere tote Schafe. Meine ungenaue Statistik berechnet einen Kadaver pro fünf Kilometer. Wie Schiffswracks liegen sie auf dem Deich und der Wind zaust in der Wolle. Vorbei an der Hamburger Hallig geht es bis nach Nordstrand, wo ich 1992 auf dem Weg nach Island campiert hatte. Die Insel scheint größer geworden zu sein. In meiner Erinnerung gab es vor zwanzig Jahren nur einen schmalen Damm mit Straße, auf dem man von Osten auf die Insel fahren konnte. Nun radeln wir streng zwischen Meer und Deich zehn Kilometer nördlich des Damms, den ich damals benutzt hatte. Schafe blöken, von Wellen eingeschlossen. An einem Haus Nummer 4 klopfe ich und sage Bescheid wegen der Tiere. Damit sie den Nachbarn verständigen. Die Frau bemitleidet uns wegen des Wetters und sie würde uns ja ihre Gartenlaube anbieten, aber es gebe keine Toilette, und deshalb schickt sie uns zum Campingplatz nach Süderhafen. Im Notfall können wir dennoch bei ihr klingeln. Sie schenkt uns ein Päckchen Nudeln, da die Läden auf der Insel um 18 Uhr schließen.
Die Dörfer heißen witzig: Oben und Westen. Mit dem Wind unterwegs auf der Straße zwischen Norderhafen und Süderhafen. Zehn Kilometer kein Problem. In einer Bäckerei treffen wir auf eine mürrische Frau, die uns zwei Kaffee to Go verkauft und ein Brot. Sie habe eigentlich schon geschlossen, nur vergessen die Türe zu zu machen. Direkt gegenüber der alten Mühle in Süderhafen liegt der kleine Campingplatz. Sieht aus, als böte er nur Platz für vier Wohnwägen, Herr Paulsen tritt aus der Tür, begrüßt uns herzlich. Wie Licht und Schatten sind die Menschen hier im Norden. Die einen mürrisch, als habe man sie gerade geweckt, die andern voller Wärme. Verschmitzt führt uns Herr Paulsen ums Haus runter zum Deich, ich hab das was für euch, etwas ganz besonderes, quartiert uns im Festzelt ein, das seit dem Mittsommerfest letzten Samstag hier steht. Wir werden in die kleine Campingfamilie integriert. Nachbars Kinder, Niklas und Benny, schauen beim Zeltaufbau zu, stellen Fragen zum Rad, zur Ausrüstung. Im Männerklo hängt ein Schild über dem Urinal: Der Schiffer hat darauf zu achten, dass das Ruder in der Fahrrinne bleibt. Wie bitteschön soll ich das für Ray übersetzen?
Abends lese ich im Aufenthaltsraum die Kommentare zum vorigen Beitrag. Wow, wow, wow. ich bin begeistert und freue mich einmal mehr über die wunderbare Eigendynamik, die dieses Blogexperiment entwickelt. Man bietet mir ein Bierchen an, schon ganz spät, und so lande ich bei Jutta und Carsten im Vorzelt. Deutsch reden. Hab ich auch vermisst, merke ich im Nachhinein. Scherzen, ohne sich den Kopf zu zerbrechen, auf einer Wellenlänge liegen.
Wir reden über Schottland, Tauschbörse der Abenteuer, das Wetter, den Sommer, Fußball, herrlich, all das, was das Daheimsein ausmacht. Ich spüre, wie ich langsam zurückkehre.
Mit Karen und Carsten habe ich in Sankt Michaelisdonn ein Treffen vereinbart und Kommantator Stefan in Itzehoe freut sich schon auf unseren Besuch am Abend. Nun, die Karte lesend, bin ich am Zweifeln, ob das so hinhaut mit den Terminen. Ich muss mir das Planen im Alltag erst wieder angewöhnen. Das Wetter: übel. Wenn der Wind dreht, klappt es noch nichtmal mit Sankt Michaelisdonn. That’s Rad.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)