Von Great Ayton nach Sunderland quer durchs Ruhrgebiet

Newcastle, Tynemouth, Washington, Roker, Gateshead, Sunderland und noch so viele mehr. Auf der Karte sieht die Gegend, die ich anpeile, aus, wie ein riesiger, verstädterter Komplex. Pack noch ein Middlesbrough drauf, das laut Straßenschildern nur acht Meilen von Great Ayton entfernt ist. Und all die anderen kleinen bis mittleren Örtchen; Stockton, Teesside, Hartlepool. Ein Gewirre aus rot eingezeichneten, also stark befahrenen Straßen, das aussieht wie das Adergeflecht auf der Nase eines Alkoholikers, durchzieht die Straßenkarte. Pack noch zahlreiche grüne, höllisch befahrene Straßen mit drauf.

Die Enttäuschung von Fletcher’s schmutziger, überteuerter Farm im Rücken und die mutmaßliche Ruhrgebietsdurchquerung auf der Karte vor Augen, treibt mich der Nordwestwind zunächst landeinwärts. Stets den Radwegschildern folgend, sause ich an Seamer vorbei, wo ich eigentlich nach Norden abbiegen wollte, um einen guten Zipfel “Radweg umsonst” abzukürzen. Verpasse die Abzweigung. Dadurch verlängert sich mein Weg nach Middlesbrough um mindestens zehn Meilen. Ein Trost sind etliche Samstagsradler, die mir begegnen, mich überholen, die perfekte Simulation, nicht alleine zu sein, umringt von Gleichgesinnten, die mich immer wieder ansprechen, woher, wohin? Und das ist das stille Mantra des Reisenden, das einen nach und nach in einer Art silberne Lethargie verfallen lässt.

Beinahe taub am ganzen Körper erreiche ich den Moloch und stürze mich kurz vor Middlesbrough ins Hauptstraßengewirre, weil ich keine Lust habe, den Stadtradwegen, die labyrinthisch durch Parks verlaufen, zu folgen. Halte, mit der Sustrans-App navigierend, direkt auf die Schlüsselstelle zu, eine Brücke, die einen Fluss überquert, der womöglich Tees heißt. Das grüne Stahlmonster hat etwas von einem Krokodil, finde ich. Neben den Hauptstraßen befindet sich fast immer auch ein Radweg, der sicher ist. In Kreisverkehren und über Autobahnzubringer, muss man mittels Fußgänger- und Radlerampeln navigieren, was einen schon mal fünf Minuten kostet, ehe man einen dreispurigen Kreisverkehr mit sechs bis acht Ausfahrten durchquert hat. Besser, als darin umkommen ist es allemal. So rücksichtsvoll die Engländer auf den Countryroads fahren, so gnadenlos metzeln sie in den Stadtkreiseln.

Raus Richtung Billingham, oder mitten durch? Eine beklemmende Gegend mal wieder. Der Weg führt durch parkähnliche, längliche Grünstreifen, hinter denen sich Wohngebiete befinden. Angsteinflößend ist, dass sie allesamt von drei Meter hohen Zäunen umgeben sind. Trutzburgen mal wieder. Haben die Engländer solche Angst oder ist das Land so gefährlich, bzw. diese Gegend? Überall Neighbourhoodwatch-Schilder, Überwachungskameras. Eine Alarmanlage surrt in der Ferne und eine Polizeisirene. Meine Hysterisierungsidee kommt mir wieder in den Sinn. Die Beklemmung ist ähnlich groß, wie südlich von London. Auch sind die Parkwege durch sehr enge Stahlbarrieren geschützt, die alle paarhundert Meter verhindern sollen, dass die Motorradgangs meiner Phantasie mit ihren Crossmaschinen in die Parks eindringen. Es ist Millimeterarbeit, das Fahrrad mitsamt Gepäck durch diese Schleusen zu navigieren. Kann ich in meiner Statistik für den Tag wohl eine knappe Stunde Verkehrskreiselüberquerung rechnen und pack noch eine halbe Stunde Motorradgangbarrieren hinzu.

Lieblich lächelt ein Golfplatz hinter einem blaugrauen Stahlzaun mit Stacheldraht obendrauf. Zwei Streifenpolizisten zu Fuß auf dem Parkweg regen meine Phantasie noch mehr an: die Gegend MUSS gefährlich sein, wenn die schon im Park patrouillieren. Böser Mann mit Hund auf 11 Uhr, Jugendbande, gelangweilt mit Bierdosen kickend, auf 5 Uhr. Hinter Billingham mündet der imaginäre Spießrutenlauf in einen Bahntrassenradweg. Meine Potemkinschen Heroinsüchtigen auf Entzug verwandeln sich schlagartig in ganz normale Samstagsspaziergänger, aus Kampfhunden sind Terrier geworden, die Motorradgangs entpuppen sich als Ladies, die auf Haflingern gemütlich in den Tag trotten. Außer dass es stürmt und eiskalt ist, ist der Tag in der Tat schön. Immer wieder muss ich Spaziergängern erklären, woher ich komme, wohin ich will. Ein Radler gibt mir ungefragt den Wetterbericht: von Norden zieht ein Sturm heran, von Süden ein Regengebiet. Viel Spaß morgen. Mit einem mulmigen Gefühl radele ich weiter. Einmal mehr wird mir klar, wie kontraproduktiv es sein kann, zu wissen.

Ich erinnere mich, dass SoSo mir nach Robin Hood’s Bay eine Wettervorhersage für Edinburgh gemailt hat, die für eine volle Woche Sonne und Temperaturen um 30 Grad prognostizierte. “Ein Scherz?” maile ich zurück und radele dennoch mit einem guten Gefühl los. Im Kopf hat sich gutes Wetter verankert. Abends, beim Mailabrufen, erfahre ich die Wahrheit. Zwar kein Scherz, aber ein Bug in der Wetter-App. Kommt manchmal vor.

Der Bahntrassenradweg führt auf grauer Asche bis ins County Durham und endet erst kurz vor Sunderland. Zwischen Haswell und Murton wird es noch einmal unheimlich. Die Trasse ist über und über mit Glas verschmutzt, das von Brücken geworfen wurde. Seltsame Kerle treiben so eine Art Sport, ach, wie heißt das noch Mal, sie springen auf Mauern, überklettern Bäume und alles, was ihnen in den Weg kommt. Jungs mit Kapuze. Im Windschatten eines Seemanns, der mit dem Mountainbike trainiert, mogele ich mich an ihnen vorbei. Der Radweg führt über hunderte Meter auf einem Holzsteg in dem zum Teich gewordenen Einschnitt. Schmutz, kaputte Fernseher, Kühlschränke in friedlicher Einheit mit Schilf und Enten. Kurz später mündet er auf einer ebenen Fläche, die aussieht wie ein Motocrossplatz. Pechschwarze Erde. Vermutlich eine Art Abraumhalde. Die Bahn wurde einst gebaut, um Kohle zu transportieren, die in der Gegend gefördert wurde.

In Sunderland gäbe es einen B&B-Strich, sagt man mir, direkt an der Coastside. Kurz vor der Stadt dann doch noch Regen. In einer versprayten Unterführung ziehe ich die Regenkleider an. Groooßer Fehler! Im Gegenlicht etwa zehn Personen, kommen direkt auf mich zu, wild wuselnd. Da ist sie nun, die gemeine Jugendbande, die dich um dein Smartphone bittet, die Kreditkarte, den Geldbeutel. Und du stehst da mit herunter gelassener Hose und offenen Schuhen … die Jungs und Mädels bleiben unmittelbar vor mir stehen. Aber, anstatt mich auszurauben, beschäftigen sie sich, laut gestikulierend, mit den Graffitis an der Betonwand. “Guck, das da hat der und der gemacht und Jenes ist von Jener und dies von mir …” etc.

Ziemlich gute Kunstwerke finde ich im weiteren Verlauf an den Betonwänden der Stadt. Muss an Biel/Bienne denken, wo sich in einem alten Fabrikgelände ähnlich starke Graffiti-Kunst befindet.

Die George Avenue und die Küstenstraße in Roker empfiehlt mir jemand als den B&B-Strich von Sunderland. Ein Gästehaus reihe sich ans andere. Sunderland ist recht entspannt zu durchqueren. Kaum Verkehr, Radweg gut beschildert. (Ich weiß nicht, ob Roker ein Stadtteil ist, oder eine eigenständige Gemeinde. Es ist schwer zu erkennen in diesem Konglomerat aus Gemeinden, wo man sich gerade befindet). Universitätsgelände, Fußgängerzone, Menschen auf dem Weg in den Samstagabend. Zwei Kerle strippen vor einem Pub ihre T-Shirts, lachen sich kaputt, imponieren niemandem. Lockere Atmosphäre. Ganz das Gegenteil von Middlesbroughs Außenbezirken.

Ich habe mich für 28 Pfund in einem B&B an der Küste einquartiert, werde den Sonntag hier verbringen. Der Sturm ist heftig. Ich würde kaum zehn Meilen schaffen und Regen soll es auch geben ab Nachmittag.

Zwei Geschichten, die ich noch schreiben möchte, quetsche ich nun nicht auch noch in diesen Artikel: auf welch abenteuerliche Weise ich von der B&B-Hölle ins Paradies gelangt bin; und: Überlegungen im voll besetzten Frühstücksraum eines B&B.

Nun werde ich einen Regenspaziergang machen, vielleicht mit der Metro nach Newcastle?

Tag 33 – Bilder

Heute ist Irgendlink, wegen Sturm über Sunderland, im Ort geblieben und hat sich spazierend umgesehen. Und sich ein Bild gemacht. Oder ein paar. Wie immer werden die Bilder mit Draufklick groß.

Mit PhotoWizard bearbeitetes Selbstportrait zwischen den verspiegelten Wänden des Sunderland Rooms im Glasmuseum. „Way Out – The Artists Brain Never Sleeps“.

Unterführung auf der Südseite der River Wear Brücke

Abblätternde Farbe an einer Betonmauer eines Spielplatzes am Roker Strand unweit meines Guesthouse „Areldee“

Eine Variante dieser Collage findet sich auf pixartix_dAS bilderblog.

Modell zur Erklärung der Entstehung von Kräften anhand zweier Guesthäuser in Sunderland

Bis 12 Uhr Ortszeit trödele ich im B&B Areldee herum. Erster Stock, Zwischengeschoss, Hinterhof. Der Ausblick zur See ist mir nicht wichtig. Die Hinterhöfe, auf die ich blicke, haben etwas Trostloses. Wind zaust an den Bäumen, leichter Regen. Der prognostizierte Sturm kommt gegen Nachmittag. Ob ich das Zimmer überhaupt verlassen soll? Schreiben, telefonieren, schlafen. Mit dem Wasserkocher, der in jedem B&B und in jedem Hotelzimmer in England zu stehen scheint, koche ich Kaffee. Es steht immer ein Teller voller Teebeutel, Instantkaffee, bisschen Gebäck bereit.

Wie hart muss es einen Engländer treffen, wenn er bei uns Kontinentern in einem Hotel nur ein Päckchen Gummibärchen auf dem Kopfkissen findet? Allein mit der Minibar.

Als mir die Decke auf den Kopf fällt, ziehe ich die Regenkleider an, raus in den Sturm. Roker Lighthouse, der Leuchtturm auf dem zuvor geposteten Bild, ist ganz nah. Meterhoch schießen die Wellen über die Kaimauer. Ein Tor versperrt dem lebensmüden Touristen den Weg auf die Mole. Ich laufe Richtung Sunderland, direkt am Meer. Den N1-Radweg, den ich gestern bei der B&B-Suche verloren hatte, finde ich zehn Meter unterhalb meiner Straße wieder. Nicht auszudenken, wenn ich mich nicht verirrt hätte. Ich wäre unter dem B&B-Strich hindurch geradelt, raus nach Whitburn, immer am Meer entlang.

Wie schicksalhaft der gestrige Tag war, wird mir nun klar. Da oben müsste das andere Guesthouse liegen, in dem ich als erstes eingecheckt hatte. Nennen wir es die “Villa”. Es war das erste Haus, an dem ich vorbeiradelte. Ein korpulenter Kerl kommt gerade zur Tür raus und so frage ich nach Zimmer, in der Annahme, dass ein Haus dieser Lage doch ausgebucht ist. Immerhin hört man das Meer rauschen und aus dem Fenster im ersten Stock hat man bestimmt prima Aussicht. Der Kerl ruft den Host, und bittet mich herein. Ich soll das Fahrrad im Auge behalten, in dieser Gegend wisse man nie. Der Host torkelt aus dem Essraum, sturzvoll, Alkoholfahne, sehr freundlicher Kerl. Er könne mir ein Zimmer geben “En Suite”, also Dusche und Klo im Zimmer, 25 Pfund. Ich bin baff. Schnäppchen, Schnäppchen, Schnäppchen, greifense zu junger Mann, greifen se zu! Trotzdem ist mir die Sache nicht ganz geheuer. Das Treppenhaus riecht nach Säure, womöglich nach Erbrochenem und ein verschwitzter Kerl, der offenbar auch hier wohnt, kommt die Treppe herunter, um den Host etwas zu fragen. “Bin ich alleine in dem Zimmer?” – “Klar, sieh es Dir doch an.” Das Fahrrad holen wir zur Sicherheit in den Flur. Macht nix mit dem Schlamm und dem Schmutz … Im ersten Stock zeigt mir der Host das Zimmer, in dem drei Betten stehen. Es ist weder sauber, noch sehr schmutzig, ähnelt in gewisser Weise einer Herberge auf dem Camino, ist geräumig genug, um mein nasses Zelt auszubreiten. Röhrenfernseher. Das Türschloss ist herausgebrochen, trotzdem reicht mir der Host einen Schlüssel. Fürs Fahrrad zeigt er mir den Hinterhof, eine Müllkippe. In der Küche sitzt seine Frau vor Facebook am PC, die Katze streicht über die Tische im Essraum, in dem das Breakfast serviert wird und der Hund springt an mir hoch, leckt mir die Hand.

Ich weiß nicht, was mich geritten hat, einzuchecken. Schon trage ich meine Taschen aufs Zimmer, lasse mich auf einen Kunstlederstuhl fallen, der wie ein Behandlungsstuhl beim Zahnarzt aussieht. Analysiere die Situation: der Fernseher im Nachbarzimmer ist deutlich zu hören. Die Hauptstraße direkt vor der Tür ersetzt das Meeresrauschen. Das Fahrrad steht entweder unten im Flur unbewacht und wer weiß, wer hier spät nachts ein- und ausgeht, oder es kommt in den Hinterhof auf die Müllhalde und wer weiß, wer dort nachts ein- und ausgeht? Der Host ist ein netter Kerl, “und du hast ja gesagt, der Kontrakt ist besiegelt, breite deine Isomatte auf dem Teppichboden aus und schlafe diese eine Nacht hier”, sagt eine innere Stimme. “Es wird Sturm geben”, erwidert eine andere innere Stimme, “du wirst vielleicht Tage hier bleiben müssen.” Dass das Ding nur 25 Pfund kostet, ist sicher verlockend, aber für 25 Pfund womöglich eine Nacht mit Fußballfans zu verbringen, die bis in die Puppen feiern? Der örtliche Club hatte ein Heimspiel.

So steht die Zeit still, es ist fast 20 Uhr Ortszeit, die Nacht naht, Herr Irgendlink fasst den wahnwitzigen Entschluss, hinauszuziehen in den Sturm. Notfalls ein Campingplatz – in Whitburn gäbe es einen, fünf Meilen nördlich, sagt der Host. Er ist mir nicht böse. In seinem Blick lese ich, dass er weiß, wo er steht, dass das Leben es nicht gut gemeint hat mit ihm und seinem Hotel und der Frau und dem Hund und der Katze und der Gesamtsituation.

Der Sturm umzaust mich. Es ist halb drei tagsdrauf. Ich treibe fotografierend über die Strandpromenade Richtung Hafen und philosophiere über das Leben. Ein Hauch Nordseeluft erinnert mich an meine ersten Ferien am Meer, zusammen mit meiner Schwester und den Eltern auf der Insel Föhr. Das muss 1976 gewesen sein, oder früher, und ich habe dort meinen Ekel vor Krebsen erlernt und vor allem anderen Getier, das keine Knochen hat. Sandburgen gebaut. Ein glückliches Kind. Wie vielleicht auch mein gestriger Host einst eins war. Wie konnte es so weit kommen? Wieso sind nicht alle Menschen von Geburt an glücklich und bleiben es für immer, bis sie eines Morgens nicht mehr aufwachen? Naiv kindlich und sentimental treibt mich der Wind vorbei an Anglern, die in voller Regenuniform am Hafenbecken stehen und auf den großen Fisch warten. Ich fabuliere an einer Bloggeschichte, in der ich ein fiktives Sunderland entwerfe, in dem es genau zwei B&B-Häuser gibt, und die nie voll ausgebucht sind. Das heißt, sie dürfen es sich nicht erlauben, auch nur einen Gast zu verpassen, müssen froh sein, um jede Seele, die an ihre Tür klopft, und der sie Herberge geben können. Ein hanebüchenes Bild. Aber ich will ja die Entstehung von Kräften, von Bewegung, von Veränderung erklären, ich will die Entstehung an sich erklären. Beide Häuser sind gleich ausgestattet zum Zeitpunkt Null, irgendeinem Jahr soundsoviel, die genaue Zeit ist unerheblich. Dem Gast kann es zum Zeitpunkt Null vollkommen egal sein, in welches Haus er einkehrt. Weder ist das eine schmutziger, als das andere, noch ist es billiger, noch ist die Aussicht aufs Meer besser oder schlechter. So mag man einige Jahre wirtschaften in den beiden Häusern, ohne dass irgendetwas sich verändert, bis zu jenem Zeitpunkt, nennen wir ihn Eins, an dem das Kräftesystem aktiv wird, an dem es mit dem einen Haus wirtschaftlich den Bach runter geht und mit dem anderen Haus geht es aufwärts. Fast schon ein Bild, mit dem, man die Welt erklären könnte mit ihrer sozialen und materiellen Ungerechtigkeit: der Reichtum der einen bedingt die Armut der anderen. Die Armut der einen macht die anderen reich. Und alles nur, weil die gesamte Welt, ja, sogar unser Organismus, nach diesem Kräftegleichgewichtsprinzip funktioniert. Zunächst leben wir in einer ausgewogenen Weise, gesund, harmonisch, aber an einem schönen Tag, es genügt ein winziger Impuls, haben wir plötzlich nur noch Pech, fangen an zu trinken, um das Pech nicht mit ansehen zu müssen und finden uns ruckzuck in einer Endlosschleife abwärts wieder. Das Gästehaus “Villa” wird nicht mehr so oft gebucht wie das Gästehaus “Areldee”. Somit ist sein Host finanziell schlechter gestellt, kann nicht mehr renovieren, was wiederum weniger Gäste anlockt, was zur Frustration führt, weshalb der Host zu Trinken anfängt, um sich zeitweilig dem Frust zu entziehen und so weiter und so fort. In Areldee hingegen weht ein ganz anderer Wind.

Völlig perplex von meinen windzerzausten Gedanken, die ich in dem Moment, in dem ich durch die Hafenanlage zwischen Roker und Sunderland laufe, für ein grundlegendes Welterklärungsmodell, ach was, für ein Modell zur Erklärung allen Seins halte, stehe ich vorm Glasmuseum der Stadt. Trete ein. Wärme. Cafeteria. Essensduft. Griff zur Brusttasche. Schwer wiegt der Geldbeutel, geschmeidig die Kreditkarte. Der Sturm ist vergessen. Mein Alkoholiker-Host von gestern verblasst. Ich bin froh, auf dieser Seite des Lebens zu sein. Kaufkräftig, fähig, sich Wärme zu leisten, ein Essen, etwas Besseres, nicht das Beste, Mittelstand.

Nachdem ich die “Villa” verlassen hatte, stehe ich nur einen halben Kilometer weiter vorm Areldee. In der Tür hängt ein Schild „Vacancies”, Zimmer frei und gleich daneben bleckt ein Schild mit einem Fahrrad darauf und “C2C”. Der Coast to Coast Radweg führt über 140 Meilen von der Irischen See bis zur Nordsee und er endet feierlich in Sunderland. Es gibt sogar eine Stempelstation und die letzten Kilometer des C2C radelt man auf einem Planetenweg, auf dem die Planteten maßstabgerecht von der Sonne bis zum Pluto aufgereiht sind. Im Areldee, ganz in der Nähe des C2C-Finals, sind Radler willkommen. Peter, der Host, ist ein drahtiger, freundlicher Kerl, erzählt von seinem Schwager, der den C2C in einem Tag geradelt ist, teilt mir Zimmer 9 zu. Das letzte freie Zimmer. Nach mir dreht er das Vacencies-Schild im Fenster um und auf der Rückseite ist No Vacencies zu lesen.

Im Glasmuseum, in dem der Eintritt frei ist, betrachte ich eine äußerst spannende Ausstellung, die sich mit dem menschlichen Gehirn beschäftigt. In einem völlig dunklen Raum sind zwei sensible Röhren wie Gegenpole aufgestellt, wie guter Host, böser Host, wie gescheiterter und erfolgreicher Host, und zwischen den Röhren, die mit elektromagnetischen Sensoren ausgestattet sind, wird jede Bewegung der Besucherinnen registriert und ausgewertet. Je nachdem, was man tut, fängt einmal die eine Röhre an zu leuchten und zu summen, einmal die andere und so schaukeln sich die Kräfte hoch, entstehen wie aus dem Nichts, aus der Leere des Raums. Ein weiteres Kunstwerk ist ein Sechzehnmillimeter-Film aus dem Jahr 1967, der von dem kanadischen Künstler Michael Snow geschaffen wurde. Das ursprünglich fünfundvierzig Minuten dauernde Material hat er digital zerlegt und den Film übereinander gelegt – wenn ich es recht verstehe, wurde das erste Stück des ursprünglichen Films überlagert mit den rückwärts laufenden Bildern des letzten Filmspulenstücks, so dass eine fünfzehnminütige, konfuse Masse bewegter Bilder entsteht, die sich in der Mitte des remixten digitalen Films treffen.

Meine Lieben, dies mag ein konfuser Artikel sein, aber das Thema der Kräfte und deren Entstehung, und wie man sie ableitet, verändert, kanalisiert, auflöst, ist kein leichtes Lullifulligeblogge, glaubt mir. Seit Belgien arbeite ich an einem Artikel wie diesem, wusste bisher nur nicht, wie ich ihn aufzäume.

Es wird nicht der letzte sein.

Perpetuum blogile

Der Sturm hat sich gelegt. Die Bäume stehen wieder gerade. Nebel. Im Schneidersitz hocke ich im Bett vor der Bluetooth-Tastatur. Wartungsarbeiten: Blogsoftware neu installiert. Nun funktioniert der Kommentarabruf wieder, meine seltsame Nabelschnur zur weltweiten Kommunikation. Für die Reisemoral ist es ungemein wichtig, sich verbunden zu fühlen. Mit SoSo natürlich per Telefon.

Gestern Abend schaue ich mir das Blog an, das mich überhaupt auf die Idee gebracht hat, um die Nordsee zu radeln. Vor fast genau einem Jahr habe ich Michael Meierhoffs Nordseeradler-Blog entdeckt. Er ist von Norddeutschland über Niederlande nach England gekommen, hatte in Sunderland auch etwa 2000 km auf dem Kasten. Ich lese seinen Teil fünf des live geschriebenen Blogs. Finde mich wieder. Stelle fest: so außergewöhnlich abartig und von der Norm abweichend ist das Wetter gar nicht. Auch Michael hatte zu kämpfen mit Kälte, vernagelten B&Bs, Regen. Seine Tagesetappen, allesamt um achtzig, neunzig Kilometer, sind exorbitant. Er hat siebzehn Tage bis zum Flugplatz auf den Shetlands gebraucht, drei Tage bis Edinburgh. In Inverness sollte ich einen 14er Schlüssel kaufen, um die Pedalen abmontieren zu können, falls ich fliegen möchte. Und den Flug sollte ich kurz vor der Überfahrt zu den Orkney-Inseln buchen. Die Shetlandfähre fährt offenbar nur zwei Mal wöchentlich. Hey, danke Micha! Was mich am meisten beschäftigt ist: wie ist er mit dem monatelangen Alleinsein umgegangen? Wo ist sein Antrieb?

Im Glasmuseum gab es in der Sonderausstellung ein Artefakt zu sehen, das wie eine Aladinische Wunderlampe aussah. Ein Gefäß aus Glas, etwa so groß wie ein Handball, aus dessen Boden ein sich verjüngender Tubus, gebogen wie ein Schwanenhals, herausführte und dessen Ende über dem nach oben offenen Gefäß endete. In einer Videoinstallation fließt das Wasser in dem Gefäß kontinuierlich durch den Schwanenhals ab, und wird im immer enger werdenden Tubus nach Oben gesaugt, um sich erneut in das Gefäß zu ergießen. Das Perpetuum mobile!

„Between No Such Place“ von Scott Rogers. 2011.

Sofort muss ich an Eschers Treppenbild denken, jene grafische Darstellung einer auf den Zinnen einer Burg laufenden, in sich geschlossenen Treppe, die stets nach oben zu führen scheint und doch nur im Kreis führt. Am Ende ein neuer Anfang. So heißt ein Buch aus den 80er Jahren, das die Entstehung des Weltalls (also die Entstehung von allem, von uns, von jedem Atom und jeder Idee) aus dem Nichts erklären wollte. Wir kommen aus dem Nichts und wir gehen ins Nichts. Und es steckt ein unerklärter Impuls dahinter, der die Dinge erst einmal anstößt, um sie lebendig zu machen.

Schon wieder fange ich an, dieses krude Gedankenzeug auszubreiten, dem man nur schwer folgen kann. Aber hey, verflixt, ich habe das Gefühl, es gehört irgendwie hier her. Ich verstehe es ja selbst nicht richtig, deshalb ziehe ich die Bilder heran.

Was treibt uns an, uns Nordseeumradler. Bei Michael habe ich letztes Jahr fasziniert beobachtet, wie er einfach so, ohne jegliche offenkundige Mission, quasi um der Sache selbst willen die (Tor)Tour gemeistert hat. Oft habe ich mich gefragt, ob ich das überhaupt könnte. Ist es der Wettkampf mit sich selbst (übrigens auch ein in sich geschlossenes Kräftesystem), aus dem man trickhaft ein bisschen überschüssige Energie abzweigt? Der Wille, sich sagen zu können, ja, ich habs geschafft, ich bin einer von Wenigen, die die Runde überstanden haben? Er alleine würde nicht genügen, um mich rund zu bringen. Bei mir ist es sicher die „Mission“, die Kunst, das Schreiben, das Kritzeln am selbst erdachten Onlineprojekt, das bisher ganz wunderbare Begegnungen, Reblogs, Blogerweiterungen gebracht hat.

Siehe Emils aktueller Beitrag über den vor wenigen Tagen erfundenen Knildnegri (Emil, Danke für den schönen Anagramm-Namen Lind Kernig).
>>> http://deremil.wordpress.com/2012/04/30/lind-kernig-01/

Selbst mit der „Mission“ am Bein fällt es mir schwer, wenn ich nun aus dem Fenster schaue – Möwen kreischen, Nebelhorn, Kälte – und mir vorstelle, schon in zwei Stunden wieder da draußen zu radeln. Die Strecke sei sehr schön, schreibt Michael.

(sanft redigiert, bebildert, mit Links bestückt von Sofasophia)