Hängengeblieben?

Das letzte Lebenszeichen von Irgendlink erhielt ich gestern um Mitternacht. Er bleibe noch einen Tag länger in Cley, sagte er.

Wie sieht es mit allfälligen Lösegeldforderungen aus?, flüsterte ich ins Telefon. Werden wir dich freikaufen müssen?

Alles weitere steht in den Sternen, in den Träumen und hoffentlich bald in diesem Blog hier.

Der gefiederte Seemannsknoten der Blogosphäre

Aufpäppeln! So steht es in einer Mail oder in einem Kommentar, den Hanne vor zwei drei Wochen geschrieben hat. „Aufpäppeln werden wir dich in Cley next the sea”. Damals war ich noch frisch. Das Wetter war gut, übermütig schrieb ich von zu überquerenden Zweibrücker Kreuzbergen, links stehn Bäume, rechts stehn Bäume und daneben Weidezäune, ich selbstgebastelter kleiner Reiseheld. Als ich vor drei Tagen in Cley angekommen bin, war das Wetter schlecht, meine Moral gut, der Körper in Ordnung. Trotzdem heilfroh, endlich aufgepäppelt zu werden.

Mein Englandbild, das immer noch höchst subjektiv ist, und das fast so schnell umschlagen kann wie das Wetter, hat langsam Kontur angenommen. Wie ein Maler, der die Technik der „Suchenden Linie” anwendet, um sich mit jedem unexakten Strich, den er seinem Bild hinzufügt, an das Endergebnis heranzutasten, kritzele ich an meinem virtuell fotografisch-literarischen Reiseblog.

Ich bin heilfroh, nun schon den dritten Tag in Cley zu verbringen. Körperlich geht es mir zwar bestens, aber wir haben gnadenloses Aprilwetter, mit Hagelschauern, Starkwindböen, und das Thermometer will partout die 12-Grad-Marke nicht überklettern. Das Sternenzimmer, in dem ich bei Klausbernd einquartiert bin, ist ideal für mich. Im Wintergarten schlafe ich so gut wie unter freiem Himmel, bin aber wind- und regengeschützt. Das Sternenzimmer ist im Tibet das beste Zimmer des Hauses, hat mir einmal Schauspieler M. erzählt. Es hat riesige Fenster, nach einer bestimmten Himmelrichtung und es wird eigentlich nur an besondere Gäste vergeben. Im alten Tibet hohe Mönche, heutzutage aber auch an Touristen.

Dienstags spaziere ich zum Strand. Es ist das erste Mal, dass ich “so richtig” Meer zu sehen und zu spüren bekomme. Salzluft, Himmel, Wasser und eine von Wellen gesäumte Linie dazwischen. Von Rhua Sila – Klausbernd hat in den Kommentaren schon erwähnt, dass die feineren Häuser in England Namen haben, Hausnummern sind verpönt – von Rhua Sila dauert es zwanzig Minuten durch Cley vorbei an Pub und Windmühle bis zum kilometerlangen Strand. Der Blick hinaus aufs offene Meer wird eingeschränkt durch einen Off-Shore-Windpark und im Westen sieht man einen riesigen Pott liegen, der sich überhaupt nicht vom Fleck bewegt. Es ist ein Wohnschiff, das nördlich von Wells die vielen Arbeiter beherbergt, die an dem im Aufbau befindlichen Windkraftwerk in der Nordsee schuften. Meine erste Amtshandlung am Meer: Muscheln sammeln. Im Kies schimmert ein Stück Perlmutt, paar Meter weiter ein Fetzen Tau, von dem nur noch der Knoten übrig ist, und das mit ein wenig Phantasie als Meeresspinne durchgehen könnte. UV-Licht und Salzwasser haben ihm arg zugesetzt. Steine hier, Steine dort, die, wenn sie frisch aus dem Wasser kommen, wunderbar glänzen. So laufe ich Richtung Westen über eine Kiesdüne, die zum Blakeney-Point führt. Der Blakeney-Point ist eine Art Halbinsel, die das kleine Haff abschließt, ein Vogelparadies. Und es gibt Robben dort.

Taschen voller Strandgut. „Und das willste alles aufm Rad mitnehmen?”, flüstere ich in den Wind. Ich bin alleine zwischen Haff und See, unter Himmel und über Erde, bin selbst auch nicht viel mehr als ein Stück Strandgut, wenn man die Szene vielleicht mit den Augen eines Außerirdischen beobachtet. „Auf die paar Gramm kommt es ja nicht an“, beruhige ich mich. Wenn ich eine extra Flasche Wasser aufs Rad packe, wiegt das ein Vielfaches. Das Bloggen kommt mir in den Sinn. All die Weblogs da draußen im Netz sind wie Strandgut. Man findet sie unter all den anderen nur, weil sie einem als etwas Besonderes scheinen, aber in ihrer Gesamtheit ist die Blogosphäre wie dieser Strand eine homogene, sich unmerklich verändernde, vibrierende Szene. Es ist unmöglich, sie so eindringlich zu studieren, dass man jedem einzelnen Stein, Tang, Muschel, Stück Betonmauer, Seestern, was-auch-immer, ungeteilte Aufmerksamkeit widmen kann. Du pickst dir die Dinge heraus, über die du zufällig stolperst. Ich finde einen kugelrunden schwarzen Stein, dem die Nässe einen eigenartigen Glanz verleiht. Halte ihn gegen die Sonne. Im Trocknen verliert er jeglichen Glanz. Das Neue ist oft nur deshalb so attraktiv, weil es mit der feuchten Patina des Ungewohnten überzogen ist. Ich feuere den Stein ins Meer. Wenn man verschiedene Menschen hier über den Strand schiclken würde mit der Aufgabe, zehn verschiedene Fundstücke einzusammeln, wie würde wohl ihr „Warenkorb” aussehen? SoSos Sammlung sähe ganz anders aus, als meine. Sie hätte den Seemannsknoten bestimmt nicht eingepackt und das Stück Knochen von-was-auch-immer vermutlich auch nicht.

Schon wieder die Blogosphäre in ihrer bunten, strandhaften Vielfalt. Ich leere meine Taschen, weil die Hose mittlerweile am Gürtel zerrt. Spätestens in Schottland, wenn ich mit dem Flugzeug nach Norwegen übersetze, kommt es auf jedes Gramm an. Dann fliegt sowieso alles weg und dann werde ich alles, wovon ich mich trenne, umsonst geschleppt haben. Ich hab noch einen Rucksack in Boulogne-sur-Mer. :-) Keinen einzigen Gegenstand, den ich dort gelassen habe, habe ich vermisst.

Die Kies gewordene Blogosphäre knirscht unter meinen Füßen, während die Wellen ständig neues Strandgut heranspülen. Längst kann ich nicht mehr unterscheiden, ob ich virtuell spaziere, und das, was mich umgibt sind Steine und Muscheln, oder Blogs. Menschenstimmen, Menschenmeinungen, die Geschichten der Mitstreitenden im engen Zeitfenster des eigenen gelebten Lebens. Muscheln sind Technikblogs, Knoten sind Reiseblogs, Krebsscheren sind Politblogs usw. Neben einem riesigen Stück Ziegelsteinmauer, das von einem Haus stammen muss, das sich das Meer wohl irgendwann einmal geholt hat, bleibe mich stehen. Sieht es nicht aus, wie ein deutsches Alphablog, ein Zehntausend-Klicks-am-Tag-Rüde voller Hormone? Ich bin verrückt. Die Sonne brennt. Meine Lippen sind verkrustet. Ich komme mir vor wie Clint Eastwood in dem Western, boa, wie hieß der noch, dieser Schinken mit den tollen Liedern, in dem er und zwei andere, Lee van Cleef spielt auch mit, nach einem Schatz suchen und sich gegenseitig durch die Wüste jagen und immer wieder gibt es Henkerszenen, in denen einer den Anderen vom Galgen befreit, indem er den Knoten zerschießt. Nach und nach werfe ich alle Steine, die ich zuvor gesammelt habe, wieder ins Meer.

Es ist utopisch, den Blakeney-Point noch zu erreichen. Das wird nix mit Robben heute. Zudem hat mich Klausbernd gewarnt, dass Ebbe und Flut an dieser Küste, von der man theoretisch bis zum Nordpol schauen könnte, wenn die Erde eine Scheibe wäre, im Jahr ungefähr fünfundzwanzig Menschen das Leben kostet, weil sie unachtsam den Gesetzen der Natur trotzten. Meine Taschen sind fast leer, als ich zurücklaufe. Ungewöhnlich lange „brennt” nun schon die Sonne zwischen zwei eiskalten Hagelschauern. Dieser Strand ist die Gesamtheit der menschlichen Gesellschaft im chaotischen Modell. Das sind wir, du, du, du und ich. Stein an Stein, Muschel an Muschel, Knoten an Knoten, undefinierbares Stück Etwas an undefinierbarem Stück Etwas liegen wir nebeneinander und geben von außen ein homogenes Bild ab. Wir durchwandern uns gegenseitig, begegnen einander, nehmen uns ein Stück mit, unsere Wege kreuzen sich, führen parallel, trennen sich wieder. Mal wird jemand geboren, mal stirbt jemand.

So ist das im Leben, rekapituliere ich, in einer Hütte sitzend, die letzten Stücke, die mir von meinem Strandgut geblieben sind, in den Händen haltend. Ich lege sie auf den Boden und mache Fotos davon.

Clint Eastwoodesk packe ich den Goldschatz in meine imaginären Satteltaschen auf dem imaginären Gaul meiner Literatur, binde dem Halunken, der mir das Leben so schwer gemacht hat, einen Strick um den Hals und heiße ihn, auf ein wackeliges Holzkreuz zu steigen, kehre ihm den Rücken, reite in den Sonnenuntergang und gewiss, ich bin ja kein Unmensch, werde ich den Henkersknoten mit einem Schuss durchtrennen.

Knoten und Ente

Auf Stefans Wunsch und Babas Begehren.
Der gefiederte Seemannsknoten, bei dem die feinen Federchen nicht so gut erkennbar sind.

20120419-132346.jpgBabas Federvieh, angefüttert durch Dina und abgelichtet durch moi-même.

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Collaboration ArtWork

Seit einer Stunde mailt mir Hanne Siebers aka Dina Toffeefee, ihres Zeichens eine tolle Fotografin, aus Cley Bild um Bild. Mit ihrer Einwilligung darf ich die Bilder hier im Blog verwenden. Copyright bei ihr.

Weil mich Synthese immer wieder fasziniert, beschloss ich eine Collage mit sechs Bildern von Hanne und drei Bildern von Irgendlink zu gestalten. Hier das Gemeinschaftswerk dreier Menschen, die sich durchs Internet kennengelernt haben. Toll, was Internet kann.

Lieber Irgendlink, ich weiß, ich weiß, so viel Nabelschau ist nicht so dein Ding, aber …