Der Reisende kennt tausend Möglichkeiten des Verharrens. Verharren, um ein Bad im Genfersee zu nehmen, zum Einkaufen kühler Getränke, zum Verweilen an einem schönen schattigen Plätzchen, verharren, um eine Reifenpanne zu beheben, zum Hängematte aufspannen in einem Park direkt neben einem Barfußpfad, verharren, um in der Einflugschneisse des Flughafens Genf alle fünf Minuten einen Flieger zu beobachten, einen Regenschauer aussitzend unterm Vordach einer Kirche, zum Verweilen in der Sonne. Und und und.
Die gestrige Etappe brachte noch ein paar Abwärtskilometer mit sich auf dem Rhonedeich nahe Martigny, wo der Fluss einen Knick macht, als wolle er das Montblanc-Massiv verschonen, im Laufe der Jahrzehntasende ausgewaschen zu werden. Mein Lagerplatz zwischen Bahntrasse und Autobahn war nicht so übel. Sauber und gemütlich, nur eben der Lärm, der auch nachts kaum nachlässt. Weshalb ich früh im Sattel sitze, die Gegend an mir vorbei fliegen lasse. Die Rhone hat an dieser Stelle dreißig Kilometer vor dem Genfersee immer noch Gebirgsflusscharakter, ist wild, zwar kanalisiert, aber in sich selbst ungebändigt voller Wirbel, Wellen und Stromschnellen. Trübes Wasser, dem man ansieht, dass es viel Sand mit sich bringt. Insbesondere dort wo andere Flüsse zufließen sieht man wie stark getrübt die Rhone ist im Gegensatz zu den Zuflüssen, die meist sehr klares Wasser in die Mischung beitragen. Faszinierend ist die blasenartig mal kühle, mal schwülwarme Luft. Zunächst wunderte mich das, bis mir klar wurde, dass direkt über der Wasserfläche eiskalte Luft mitströmt, die durch den starken Wind mit der normalen Luft über Land verwirbelt und sich ein inkonsistentes Gemisch aus Luftmassen im Tal bewegnt.
In Saint Maurice bewundere ich das Kloster, das eine Station der Via Francigena ist, die nach Rom führt. Auf einer Tafel ist eine Liste aller Orte der Umgebung von Ornans im französischen Jura bis zum Ende der Schweiz eingezeichnet. Ich befinde mich auf einem uralten Pilgerweg.
Es ist heiß. Es ist sehr sehr heiß und schwül. In jedem Brunnen, der sich mir bietet, nässe ich mein T-Shirt, streife es fröstelnd und schreiend über, denn angenehm ist dieser Moment der Transition in einen fahrbaren Kühlschrank nicht. Der Effekt hält je nach Schattenlage etwa eine halbe Stunde. Dann ist das Shirt wieder trocken.
Am Genfersee angelangt, schlage ich die südliche Küste ein, weiche ab vom Rhoneradweg, der durch die Schweiz führt, befinde mich schon bald in Frankreich. Bis Evian-les-Bains führt teils ein eigener Radweg, der einer ehemaligeen Bahntrasse folgt, jedoch nicht im Gleisbett, sondern ein bisschen abseits und entsprechend mit Aufs und Abs gesegnet. Trotzdem bin ich froh. Die Straße lärmt, stinkt, nervt, ist teils gefährlich und sollte mir an dem Tag mehr als nicht erspart bleiben.
Trotzdem ist ein Fernradweg ausgeschildert: Tour du Léman. Léman ist der französische Name des Genfersees. Die Infrastruktur der Tour du Léman ist fragwürdig. Immer wieder stößt man auf Radwegefetzen, manche nur hunderte Meter lang, um wieder auf der Straße zu landen. An einer Stelle besteht die wunderbare Radlerinfrastruktur aus einem Schild an der Hauptstraße, das auf schnellen und viel Verkehr hinweist und einen zig Kilometer weit alleine lässt im Dieselrußgesstank und Lärm, gepeinigt von den Druckblasen der LKWs.
Ab und ane Baustellen zeigen aber, das wird, man baut Radwege immerhin, kleine Brücken, eigens geführte Trassen für die Radtouristen und -touristinnen.
Unweit von Evian nehme ich ein Bad im See, verharre, packe die Solarzelle aus, lade das Telefon. Später kaufe ich in Evian ein, schufte mich hinauf in die Hügel, folge der Radroute TDL, was in der Open Cycle Map das Kürzel ist für die Tour du Léman. Wird besser mit schlimmen Passagen immer wieder. Ein Zuckerbrot und Peitschenradweg. Trotzdem wunderschön.
Jenseits von Thonon-les-Bains mache ich auf der Karte gute Wildzeltmöglichkeiten aus. Schon bin ich auf Kurs, schon passiere ich einen winzigen Campingplatz in der Art à la Ferme, nur eben à la Neubaugebiet in Weinbergen. Nur etwa acht Stellplätze gibt es und die Besitzerin ist zufällig noch vor der Tür, lässt mich ein, erklärt mir die Restaurants und was man eben so als Tourist alles benötigt, Seezugang usw. und mit einen Schlag wird mir bewusst, wie weit außerhalb ich der Gesellschaft schon bin, wie abnorm meine low-Budget-Reise. Seit sieben Tagen nur wild zeltend unterwegs, mich in Bächen und Teichen waschend, nur von Brot und Käse und Wurst lebend. Ein Europenner wenn man so will.
Trotzdem tut der Platz gut. Mit 10,20 Euro vermutlich im normalen Preisrahmen, ein monetärer Ausweg aus der Drangsale, die die panoptische Gesellschaft mit sich bringt, deren Augen allüberall übel wildzeltend Pack vermutet …
ich schweife ab. Der Gedanke der Panoptik beschäftigt mich, seit ich jüngst einen Vortrag über einen französischen Philosophen gesehen habe, sein Name fällt mir gerade nicht ein, in dem es um die Entwicklung unserer heutigen menschlichen Gesellshaft ging hin zu einer sich selbst optimierenden, sich und die Mitmenschen immerbeäugenden Masse.
Mein Campingplatz lag genau gegenüber Nyon, etwa 40 kilometer bis Genf.
Ich schreibe diese Zeilen verharrend im Eingang einer Kirche in Genthod. Dem Tempel von Genthod. Kam gegen halb neun am Morgen los und radelte bis ins quirlige Genf und folge seither wieder der Rhoneroute. Allerdings aufwärts. In Nyon werde ich die Juraroute einschlagen.