Es gibt die Momente unterwegs, da wirst du unweigerlich schnell. Viel schneller, als dir lieb ist. Der Sog all der Alltage um dich herum reißt dich mit und es gibt, ähnlich wie in einem Meeresstrudel, der den Gezeiten gehorcht, kaum ein Entrinnen.Gerade habe ich eine viertel Stunde verplappert mit einem Düsseldorfer Radler, der sich anschickt, die Route Bodensee-Königssee auf dem Bayernnetz zu radeln. Neben einem Wegkreuz unweit von Schloss Syrgenstein. Der Mann keucht, ist das steil, ich weiß nicht, ob ich genug trainiert bin, um die Strecke zu schaffen. Und ich stimme ihm zu, bin ich doch soeben aus dem Tal des Oberen Argen hier herauf gekeucht. Die Szene ist lieblich und sprengt bestimmt die Lieblichkeitswerte auf meiner selbst erfundenen Skala Liebliches Taubertal und erstmals zweifle ich, ob diese Skala, wie die Richter-Skala, tatsächlich nach oben hin offen ist. Schon vor wenigen Kilometern, beim Abstieg aus dem Weiler Schweineburg, von wo aus man den Bodensee sehen kann, wurde mir bewusst, dass hier, so nahe bei den Alpen ein anderer Radlerwind weht. Auf den Hinweisschildern der Radwege sind sogar Steigungswerte angegeben. Und die sind oft zweistellige Prozentzahlen. Immerhin schaffte ich den knappen Kilometer ab Schloss Syrgenstein noch strampelnd im ersten Gang. Wenn ich die Runde wie ursprünglich beabsichtigt, in Lindau begonnen hätte, wäre ich sofort ins kalte Wasser allen Aufs und Abs gesprungen und ich spüre erst jetzt, nach einer Woche Radeltour, dass ich die nötige Fitness dafür habe. Wer weiß, vielleicht hätte ich aufgegeben, so direkt mit den Härten des Bergradlerlebens konfrontiert.
Da oben gibt es am Radweg keine Einkaufsmöglichkeit, sage ich meinem Düsseldorfer Radlerkollegen. Seine Packtasche quillt über vor Äpfeln, die er gesammelt hat, aber sonst hat er wenig Lebensmittel dabei. Also schenke ich ihm mein letztes Stück Schokolade, dreiviertel Tafel, denn bis zum Campingplatz Höll, den ich ihm empfehle, wird er garantiert nichts mehr einkaufen können.
Drei wandernde Damen aus der Gegend geben mir Tipps für meinen Weg: in Maria Thann gibt es einen Automaten bei einem Bauernhof, wo man Wurst in Dosen und Eier und Käse kaufen kann. Laden? Ach ja, in Wohmbrechts, nur etwa einen halben Kilometer abseits der Radroute ist noch der Dorfladen. Blick auf die Uhr, um sechs macht der zu und nun ist schon halb sechs. Eine wertvolle viertel Stunde verschenkt. Aber ich könnte die fünf Kilometer noch schaffen bis Ladenschluss. So trete ich ordentlich rein und vernachlässige dabei alles Sein, nur um schnöden Vorankommens willen.
Was, Herr Irgendlink, würdest du tun, wenn du nicht wüsstest, dass der Laden bald schließt, wenn du womöglich nie von dem Laden erfahren hättest? So grübele ich an Sehenswürdigkeiten vorbei an bummelnswerten Alltäglichkeiten und spüre, wie der Takt der Außenwelt meinen eigenen Takt bestimmt.
Neun Minuten vor sechs bin ich am Abzweig nach Wohmbrechts. Bis in die Dorfmitte sind es nur 600 Meter. Dann noch den Laden finden … ich könnte es noch schaffen, beschließe aber, die Radroute weiter zu radeln. Schließlich werde ich in spätestens Lindau einen bis acht Uhr offenen Laden finden. Genug Zeit also zum Bummeln und vielleicht ergibt sich ja zwischendrin noch eine Möglichkeit. Hergatz lässt sich gut an. Liegt an der B 12. Riesen Spielhölle. Wo Spielhölle, da auch Laden, denke ich arglos. Aber weit gefehlt. Die nächste Möglichkeit, Lebensmittel zu kaufen, ist in Wangen, 5,6 Kilometer ab von der Route. Ich zwinge mich, dem zu widerstehen, nicht zuletzt, weil die Straße nach Wangen feierabendstark befahren ist.
Nun taucht das nächste Problem auf: ich muss vor acht in einem Laden in Lindau sein, logisch. Die Lebensmittelvorräte sind aufgebraucht. Ich habe noch ein daumenbreites Stück Käse, den Apfel vom Düsseldorfer, ein Liter Wasser und ein paar getrocknete Nüsse. Wird ne hungrige Nacht, wenn ich irgendwo draußen bleiben will.
Langsam werde ich dennoch ruhiger. Mein Hirn hat endlich einen Teilsieg erreicht und das Muss, vor acht einen Lebensmittelladen zu erreichen, gestrichen. Stattdessen Alternativen: Wasser und getrocknete Äpfel und daumengroßes Stück Camembert. Dazu Sternenhimmel und eine ruhige Wiese. Das wäre das Schlimmste, was mir drohen würde. Und dafür muss ich nicht im kollektiven Ladenschluss-Alltag hetzen.
Doch es kommt besser. In Hergensweiler lacht mich ein Biergarten beim Gasthof zur Post an und ich beschließe, bei den Landwirten am Rande des Dorfes um Zeltmöglichkeit zu fragen und dann im Gasthof ein Schnitzel zu essen.
Schon gleich beim ersten Fragen lande ich auf der Apfelwiese eines Energiebauern. Zudem mit höchst interessantem Konzept: statt Mais schürt er die sonnenblumenähnliche Pflanze Silphie in einem Pilotversuch im Allgäu, an dem nur eine handvoll Betriebe teilnehmen. Die Silphie wird nur einmal gepflanzt und wächst dann jedes Jahr von neuem. Es entfällt das arbeitsintensive Felder bestellen, das Giftspritzen und der mühsame Schutz wie beim Mais. Zudem ist die Pflanze sehr schön, im Gegensatz zum Mais. Wie der Ertrag ist, weiß mein Gastgeber noch nicht und er hat auch erst einmal nur ein kleines, hektargroßes Versuchsfeld. Das leider schon geerntet und frisch gegüllt ist. Am Rande sieht man jedoch noch einige übriggebliebene, plattgefahrene, braun gegüllte Exemplare. Wenn ich es nicht gewusst hätte, ich würde sie für Sonnenblumen mit kleinen Blüten gehalten oder für Topinambur.
Die Nacht neben dem Kraftwerk ist gemütlich. Ab und zu plumpst ein Apfel neben das Zelt. Sterne funkeln. Abends gabs noch ein wärmendes Lagerfeuer bei meinen Gastgebern, die die letzten Jahre im Sommer stets in ihrem Wohnwagen neben dem Haus wohnten. Das erklärt wohl auch, warum sie schon öfter Zeltgäste hatten. Der Wohnwagen wirkt wie ein Signal, das sind auch Camper, die wissen wie es läuft, die nehmen mich bestimmt auf.
Das finale letzte Stück nach Lindau bewältige ich heute Morgen. Es gibt tatsächlich keinen Laden in Radroutennähe zwischen Isny und Lindau. Nach 13 Kilometern radele ich auf die Insel. Zur Begrüßung gleich einen Beinahe-Unfall mit bösem schwarzem SUV, dessen Fahrer sich einbildet, man könne auf einer drei Meter breiten Spur Radler überholen.
Nunja, ich kann es teils verstehen. Das Konfliktpotential ist hoch in Lindau. Unendlich viele Radler und unendlich gestresste Autofahrer, die sich zudem hinter gefühlt ewig herabgelassenen Schranken bis zum Kreisel vor der Insel stauen.
Lindau und ich werden keine Freunde. Zu touristisch, zu kommerziell alles und eben übervoll. Nur der Besuch in einem Bio-Laden erheitert mich ein wenig. Später am Hafen beende ich den Track auf dem Smartphone. Teil eins meiner Reise um Bayern endet hier.