Schrödingers Osterei

Ursprünglich fälschlicher Weise wurde das wohl berühmteste Gedankenexperiment der Physik, Schrödingers Katze in den wissenschaftlichen Journalen weltweit verbreitet.

Tatsächlich jedoch hatte Erwin Schrödinger Ostern 1935 ein ganz anderes Gedankenexperiment formuliert, um seine Idee vom paradoxen Überlagerungszustand makroskopischer Systeme der Quantenmechanik zu veranschaulichen.

Schrödingers Osterei: In einer luftdicht abgeschlossenen Kiste befindet sich ein Ei, ein radioaktives Präparat, ein Auslösemechanismus und ein elektrisch betriebener Pinsel. Wenn das radioaktive Material zerfällt, löst es den Pinsel aus und das Ei wird bemalt.

Nach den Regeln der Quantenmechanik befindet sich das Ei in einem Überlagerungszustand aus „bemalt“ und „unbemalt“. Und zwar so lange, bis die von außen nicht einsehbare Experimentieranordnung geöffnet wird.

Schrödingers Osterei

Das gleichzeitig bemalte und unbemalte Osterei würde erst dann auf einen eindeutigen Zustand festgelegt, wenn man es beobachtete.

In Anlehnung an Schrödingers Osterei werden solche Zustände auch als Eierzustand (engl. egg-state), bzw. Schrödingers egg-like state bezeichnet.

Irgendlink wird beschenkt, kauft Moselschnaps und ist irritiert

Tassen auf dem Acker

Merkwürdige Dinge tragen sich zu. Ich bin Bauarbeiter, mitte fünfzig und habe mit meiner Kreditkarte irgendwo an der Mosel so dumm rumgeschusselt, dass der Schnapsverkäufer, dem ich vor Kurzem für über 200 Euro Schnaps abgekauft habe, keine Buchung erhält. Aber zum Glück hat der Schnapshändler ja meinen Namen, sagt der Kundenberater von der Raiffeisenbank irgendwo an der Mosel. Der Schnapsverkäufer und ich hätten uns angeregt über meine Heimatstadt unterhalten, weshalb er, der Raiffeisenbanker kurzerhand zum Telefonbuch gegriffen habe, um alle Männer meines Namens in der Stadt anzurufen, damit man das Zahlungsproblem anderweitig lösen könne.

Ich arbeite aber nicht auf dem Bau. Ich habe gar keine Kreditkarte. Ich bin auch nicht mitte fünfzig. Ich hasse Schnaps. Wenn dies ein Hitchcock-Film wäre, könnte ich mit einer gruseligen Verschwörung rechnen, mit Gedächtnisverlust und damit, dass fortan sehr viele merkwürdige Dinge in meinem Leben passieren.

Ich lege die Sache zu den Akten. Alle Verwandten meines Namens in der Stadt haben den selben Anruf erhalten. Und der Raiffeisenbanker, der uns angerufen hat, existiert tatsächlich (was nicht zwangsläufig bedeutet, dass er es war, der uns angerufen hat).

Tassen auf dem Acker
Tassen auf dem Acker

Seit Tagen liegt oberhalb des einsamen Gehöfts auf dem Acker ein Plastikkorb. Und ein Karton steht unweit davon. Als bekennende Krimifans scherzten SoSo und ich, in dem Karton ist bestimmt ein Kopf. Ein schöner Leichenfundort wäre das, wenn man mal einen Krimi schreiben wollte. Mit dem Plastikkorb hat es tatsächlich etwas Gruseliges auf sich. Ein paar Meter daneben liegt ein totes Tier. Man erkennt nur noch das Fell. Vielleicht ein Kaninchen, vom Regen zersetzt. Das Molekül Sherlock Holmes in mir kombiniert messerscharf: Transportkorb, Karnickel -> totes oder im Sterben liegendes Tier wurde entsorgt. Nun traut man sich gar nicht mehr, in den Karton zu gucken. Aber wie es die Witterung will, das Ding zerfällt und zum Vorschein kommt ein Kaffee-Service.

Ich bin im Film! Ich weiß es nur noch nicht.

Heute die nächste hitchcockeske Begebenheit. In der Garage liegt ein Paket, das ich nicht bestellt habe. Vielleicht ist Anthrax drin oder ein Finger? Vorsicht Glas steht drauf. Habe ich eine Kunstwerk-Bestellung vergessen? Mit einem mulmigen Gefühl öffne ich das Päckchen und stelle mich schon auf den Klassiker ein, den man bei Bombenentschärfungen unbedingt vor Augen haben sollte. Batterie und Drähte an Zeitschaltuhr. Die Kneifzange, um den roten ODER den blauen Draht zu durchtrennen liegt bereit. Ich werde warten, bis die imaginäre Zeitschaltur, die ich durchs Öffnen des Pakets aktiviere, auf drei Sekunden steht. So ist das immer im Film. Schweiß auf der Stirn. Das Päckchen wiegt recht schwer. Da könnte gut und gerne ein halbes Kilo Dynamit drin sein. Oder Anthrax oder ein Finger oder ein Kopf.

Ein Lieferschein liegt obendrauf und listet den Inhalt: eine Thermoskanne. Thermoskannen sind ideale Behältnisse für Sprengfallen. Oder Anthrax. Aber es fehlen die Drähte und die Uhr. Auf der Vorderseite der Kanne sind nackte Zehenspitzen aufgedruckt und der Spruch Just Do It Deborah. Das Ding scheint fabrikneu. Außer dem Lieferschein, der Kanne und einem Päckchen Gummibärchen ist nichts drin in dem Paket. Kein persönlicher Brief von einem Freund, der aufklären würde, lieber hungerleidender Künstler, ich lese dein Blog so gerne und will dir hiermit eine Freude machen. Nichts.

Ich habe die Kanne noch nicht aufgeschraubt. Die Option Anthrax, Sprengstoff oder Leichenteil ist also noch offen. Bevor ich mich daran wage, glaube ich an das Gute im Menschen und schreibe noch schnell diese Geschichte.

Ich gehe davon aus, dass mir jemand anonym etwas geschenkt hat, wofür ich mich mit dieser Geschichte herzlich bedanken möchte. Ich werde die Thermoskanne auf meiner nächsten Radeltour mitnehmen und mich jeden Tag darüber freuen. Dankeeee.

Revolutionäre Projekte zum Thema #Burgenblogger und #Mittelrhein

Mittelrhein Grafik Karikatur

Was macht eigentlich der Knopf Kreativmodus an meinem Burgherrenkit Irgendlink?

Er schaltet die Einheit auf zufällige Wiedergabe. Entweder werden Sie verstört die Ergebnisse beobachten, oder vor Entzücken in die Luft springen.

Aus meiner Bewerbung zum Burgenblogger – Bedienungsanleitung für eine Ritterburg

Oder anders gesagt: wenn man dem Künstler nicht sagt, was er tun soll, dann macht er was er will. Treibt Schabernack. Lässt die Ideen sprudeln. So entstehen grotesk-phantastische Ideen auf dem weiten Feld zwischen Dada und Karikatur, zwischen Ironie und bissigem Humor.

Natürlich spielen die Reize, die die Umwelt auf einen ausüben eine große Rolle. Zum Beispiel das Bild, das die Rheinzeitung in ihrer Ausschreibung zur Burgenbloggerei verwendet hat. Es zeigt Burg Sooneck, auf der der Burgenblogger dereinst residieren und arbeiten soll, mit einem riesigen hineinmontierten Pfeil, der auf den Burgturm zeigt. Schon von Anfang an hat mich dieser Pfeil gestört. Er will und will nicht in das romantische Bild einer Ritterburg über dem Mittelrhein passen. Kann mal jemand den doofen Pfeil vor meinem Burgfenster wegnehmen, war einer meiner ersten Gedanken. Schrei’s laut hinaus. Als ob man, wenn man auf Burg Sooneck einzieht, immer diesen Pfeil vor den Augen hätte. Ha.

Kurzerhand habe ich das Bild aus dem Netz kopiert und durch Halftone auf dem Smartphone genudelt und einen Cartoon gebastelt, auf dem aus dem Burgturm eine Stimme in die Sprechblase schreit, Kann mal jemand den doofen Pfeil vor meinem Burgfenster wegnehmen.

So weit so gut. Der nächste Schritt wäre gewesen, auf den Teilenknopf zu drücken und das Bild zu Facebook, Google und Twitter zu portieren, aber halt halt halt, gibt’s da nicht noch so etwas wie ein Urheberrecht? Und, verflixt, wer hat überhaupt das Bild gemacht? Ist das ein Stockfoto? Ist es gemeinfrei? Darf ich es verwenden? Schnell mal nachschauen. Ach und tatsächlich, unter dem Bild steht ein Name: Ulrich Pfeuffer. Google fragen. Es gibt ja so viele Pfeuffers. Welche mit drei F. Und Ulrichs. Welche mit zwei L. Auch diesen Ulrich Pfeuffer gibt es. Fotograf in Koblenz. Mittelrhein. Könnte passen. Klasse Seite. Besonders gut gefallen mir seine Ostsee-Bilder in der Rubrik Unterwegs. Sie sind so schön still. So unprätentiös. Ein Augenschmaus.

Impressum gibt es auch auf der Seite, also Mail an Ulrich, mal nachfragen, wie er die Sache sieht. QQlka, mein Galerist meint zwar, oooch, das kannste verwenden, ist doch künstlerische Freiheit,  Paragraf fünf oder so, wird doch keiner etwas dagegen haben. Aber das ist mir in Anbetracht des Wespennests Burgenbloggerei ein bisschen zu heikel. Und außerdem ist es höflich, zu fragen. Vielleicht lernt man ja nette Leute kennen?

Herr Pfeuffer hat noch nicht geantwortet. Vielleicht findet er diese Art Humor doof. So doof wie ich den Pfeil. Deshalb steht an dieser Stelle nicht das Cartoon-Bild, sondern … muss ich mir noch überlegen, wird sich ja in Irgendlinks Archiven irgendwas finden lassen, das man zurechtbiegen kann, dass es in den Artikel passt.

Schnitt.

Nachts erwache ich mit dem phantastischen Gedanken, ich könnte mein Alterego, den MudArt Künstler Heiko Moorlander zum Burgenblogger bewerben. Der hat sowieso viel mehr Charisma als ich. Und Geld wie Heu. Der könnte ein revolutionäres Projekt ausrufen, das das Mittelrheintal auf einen Schlag weltberühmt macht. Ein Dorado für Taucher und MudArtisten soll es werden. Der Rhein in Schlammen war geboren, in Anlehnung an die jährlich stattfindende Veranstaltung Rhein in Flammen.

Okay, es ist sicher keine gute Idee, sich als Burgenblogger zu bewerben mit einem Projekt, das das Rheintal ab Koblenz unter Wasser setzt und zweihunderttausend Menschen umsiedeln will. Aber revolutionäre Kunstideen fordern nunmal ihren Preis.

Vielleicht wäre es besser, wir würden die Staumauer im Binger Loch machen, sagt QQlka. Wir sitzen auf der Südterrasse des einsamen Gehöfts und lassen die Ideen sprießen. Man könnte das Tal trocken legen und eine 65 Kilometer lange Shoppingmall daraus machen. Ein Paradies für die kaufkräftige junge Mittelschicht. Dach drüber. Shops in den Felsen meiseln, fast wie Andorra. Gute Idee, sage ich. Die ist von dir, sagt QQlka. Von uns, beschwichtige ich. Ideen sind immer das Zusammenspiel vieler. Ideen sind produktiv gewordene Kommunikation.

Ab hier wird es vielleicht ein bisschen philosophisch in diesem Satireartikel, aber der Beweis, wie der Zusammenschluss von Ideen funktionieren kann, liegt ja ungeschminkt vor uns. Die Burgenbloggerkampagne nimmt ihren Lauf durch die sozialen Medien. Die vielen Bewerberinnen und Bewerber inspirieren sich gegenseitig, beflügeln einander. Eigentlich ist das virtualisierte Mittelrheintal durch die Kampagne ein fruchtbarer Acker geworden, auf dem theoretisch wir alle, die wir darüber schreiben, denken, hoffen, mitfiebern, wer denn nun der einzige Burgenblogger, die einzige Burgenbloggerin wird, prima leben können.

Auch ich habe viel gelernt. Die wenigen Profijournalistinnen (ja, tatsächlich konnte ich nur Frauen finden, die vom Fach sind und das Zeug hätten zur Burgenbloggerin), haben mich mächtig inspiriert und mir mit ihren offen gelegten Bewerbungen die Dinge klar gemacht, die ich zwar ahnte, aber die ich bisher nicht so im Fokus hatte. Durch die offene Darstellung unserer Bewerbungen und Ideen, haben wir uns gegenseitig weiter gebracht. Das war nicht nur ein kollektives Hose runterlassen. Das war gemeinsames Schaffen an einer großen Sache. Für den Kunststraßenbau und die nächsten Projekte konnte ich vor allem eins mitnehmen: höchste Blogdisziplin und tiefe Einblicke in die Promotion von Projekten. Ich werde es auf den nächsten Livereiseprojekten gut gebrauchen können.

In knapp zwei Tagen endet die Bewerbungsfrist für den Posten auf der Burg. Ich bin gespannt, wieviele sich beworben haben und wie es weiter geht.

Oh, und ehe ich’s vergesse, Blogartikel will Bild. Nehmen wir doch diese kleine Karikatur zu den Mitteln der Burgenblogger: Herzblut und Ideen:

Mittelrhein Grafik Karikatur
Das hier ist der Mittelrhein, da fließen unsere Mittel rein – die Mittel der Burgenblogger: Ideen und Herzblut

Diesseits und jenseits des Grüezigrabens

Badewanne hinter Absperrband - Grüezigraben
Badewanne hinter Absperrband - Grüezigraben
Sieht so der Grüezigraben aus?

Wenn man als Deutscher eines mit der Schweiz unweigerlich verknüpft, so ist es wohl die Grußform Grüezi oder Grüeziwohl. Viele Deutsche glauben, automatisch perfekt Schwiizerdütsch zu können, weil sie dieses Wort verstehen, bzw., weil ihnen die lustigen, langsamen Satiren des Komikers Emil einst als Schwiizerdütsch vorgegaukelt wurden. Dies ist jedoch kein Aufsatz über die Schweizer Sprache. Vielmehr möchte ich am Beispiel des Grüezi auf die großen Zwiespälte hinweisen, die in der Schweiz herrschen, und die man als Außenstehender so nicht wahrnimmt.

Vermutlich wissen Sie, dass in der Schweiz mehrere Sprachen gesprochen werden? Dass die beiden meist gesprochenen Sprachen Deutsch, respektive Schwitzerdütsch und Französisch sind? Dass die französischen Schweizer von den Deutschweizern Welschschweizer genannt werden? Dass zwischen der dütschsprachigen Schweiz und der französischsprachigen Schweiz der sogenannte Röstigraben verläuft? Eine schnurgerade Linie, die vom Jura bis ins Wallis eine exakte Trennung der beiden Sprachbereiche ist. Befinden Sie sich diesseits des Röstigrabens, werden sie auf Deutsch angeredet, jenseits, heißt es Bonjour.

Weniger bekannt sein dürfte der Grüezigraben. Er verläuft genau auf der Grenze zwischen der Stadt Brugg und dem Dorf Windisch. Die beiden Siedlungen haben einen gemeinsamen Bahnhof. Der Schienenverlauf bildet die Grenze. In der Mitte der Bahnhofsunterführung verläuft der Grüezigraben. SoSo, bekanntermaßen native Schweizerin, hatte mir einst erklärt, dass man sich auf dem Land noch grüßt, in der Stadt jedoch nicht. So kommt es, dass man in Windisch stets freundlich grüßt und gegrüßt wird, während man drüben in Brugg einfach so aneinander vorbei geht. Wenn man sich von Windischer Seite dem Grüezigraben nähert, schlägt einem die Gefühlskälte der Stadt förmlich entgegen. „Was passiert eigentlich, wenn sich zwei Menschen mitten auf der Grenze begegnen?“ fragte ich naseweiß die SoSo, „also einer ist im Dorf und würde naturgemäß grüßen und der andere in der Stadt würde dies nicht tun, ein Schritt weit dazwischen der Grüezigraben? Ist derjenige auf der Dorfseite dann abgeklärt genug, zu ertragen, nicht gegengegrüßt zu werden, wegen des Grüezigraben-Phänomens? Noch schlimmer, was passiert, wenn sie just im Begriff sind den Graben zu überschreiten? Bricht dann derjenige aus dem Dorf mitten im Grüe() ab?“ „Es kommt sehr selten vor,“ klärt mich SoSo auf, „aber wenn es geschieht, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass derjenige, der aus der Stadt kommt just beim Aufsetzen des Fußes auf Dorfboden das fehlende ()zi ausspricht.“

Zugegebener Maßen ein Sonderfall. Schlimmer sind die zunehmenden Grenzübergriffe, von denen allseits berichtet wird. Zusammengerottete Jugendgrußbanden, die über die Stadtgrenze kommen und die Menschen dort grüßen. Und auf der Dorfseite spürt man die Kälte, die sich im Grenzgebiet ausbreitet, wenn – versehentlich oder absichtlich – ein – gedankenversunkener oder böswilliger – Mensch herüberkommt und den Gruß nicht erbringt.

Der Röstigraben bringt übrigens ein ähnliches Phänomen für alljene, que si elles lui parlent, ensemble dépasser.

Manierismus komma sieben

Die Löcher in der Wand, wo einst das alte Regal befestigt war sind schon seit Jahren ein Blickfang, wie übrigens auch die gut sechzig Zentimeter lange, gelb-wässrige Giraffe, die sich an der Wand gebildet hat unter dem Loch im Dach der Künstlerbude. Spinnweben, Staub, Sägemehl, alles, was das Holzheizen so mit sich bringt. Die Künstlerbude ist ein Leckerbissen für denjenigen, der die Ressonanz des Urknalls nachschwingen hören mag. Es wäre schön, die Löcher mit einer Tube Acrylpaste zu stopfen, aber dazu müsste man erst den Küchenschrank wegrücken und dazu müsste man erst das Geschirr ausräumen und dazu müsste man zuerst einen Umzugskarton finden, weshalb man zuerst im Atelier das Gerümpel wegräumen müsste, das vor der mutmaßlichen Umzugskartonslagerecke steht. Kurzum: die Löcher in der Wand, wo einst das Regal hing zu stopfen, ist gar nicht so einfach. Zumal es sowieso gut wäre, den Küchenschrank, wenn man ihn schon bewegt, in den Nebenraum zu stellen, der aber, nunja, seit drei Jahren im Rohbau, noch nicht einmal Wände hat, um darin Löcher zu machen, die man dann stopfen könnte.

Mit zunehmendem Lebensalter, werden die Dinge nur noch im Kopf wahr. Dann sitzt man vor einer löchrigen Wand und malt sie sich gedanklich weiß, repariert das Dach in einem trockenen Frühlingsmonat, schreibt an imaginären langen Winterabenden vor dem Kamin auf einer uralten Schreibmaschine den großen Roman und schustert ein Kunstkonzept nach dem anderen, das aber nie für Fremde sichtbar wird, weil es nun mal unmöglich ist, in die Köpfe der Menschen zu schauen.

Vorgestern ist es so weit. Eine Umzugskiste, wohl durch ein Tier von einem Stapel geworfen, liegt vor der Ateliertür. Schnell ist der Küchenschrank leer, sein Inhalt in drei Teile geteilt: Müll, Recyclebares und das, was nach der Maßnahme wieder eingeräumt wird. Monsieur Irgendlink kommt irgendwie in den Besitz einer Wasserwaage. Eines Hammers, einer Akkubohrmaschine, diverser Wühlkisten voller Werkzeug. Baustoffe liegen schon seit Menschengedenken auf dem staubigen Atelierboden. Gips. Dämmstoffe. Latten. Das ist das Material, aus dem die Küchenwandlochstopfträume sind.

Macht das Renovieren Spaß, fragt SoSo in einer SMS gestern früh.

Nein! antworte ich auf der verzweifelten Suche nach einem Kreuzschlitzbit, mit dem ich eine uralte Schraube aus der Wand des Nebenraums drehen muss, ehe ich den Schrank davorstellen kann. Überhaupt ist die Werkzeugsuche auf dem einsamen Gehöft stets ein Hindernis, eine Arbeit anzupacken. Die Erfinder einfacher Computerspiele haben nämlich ganze Arbeit geleistet: Um die Tür zu öffnen, musst du in Level drei den Schlüssel mitnehmen und in Level vier den Wagenheber, damit du den Panzerschrank, der davor steht, wegdrücken kannst. Nur so kannst du in Level fünf kommen, die weite Welt jenseits des Lochs in der Wand … es gibt viele Werkzeuge auf dem einsamen Gehöft, meist sogar doppelt und dreifach, aber sie liegen gleichmäßig verteilt – nennt man das Entropie oder Enthalpie, egal – in vier fünf sechs Räumen, Kellern, Garagen, auf einem der etwa zehn Schubkarren, im Traktor, irgendwo, nur nicht da, wo man sie sucht. Metermaße, die Essenz allen Bauens. Wer baut, muss messen und ich kann partout keinen Zollstock finden. Einzig mein Ausstellungseröffnungszollstock liegt auf dem Küchentisch. Den nehme ich zu Vernissagen mit, weil darauf alles gedruckt ist, was man für den Smalltalk auf Sektschlürfveranstaltungen braucht. Eigentlich ist das ein ganz normaler Meter zum klappen, exakt zwei Meter lang, nur, dass auf der einen Seite Bilder gedruckt sind, und auf der anderen die Kunstepochen, beginnend mit der Späten Antike über das Byzantinische, Keltische, sogar chinesische Kunstepochen und Mayakunst sind berücksichtigt bis zur Moderne. Die Bilder zeigen berühmte Kunstwerke aus den jeweiligen Epochen und man kann auf Vernissagen prima mit seinem Kunstwissen angeben: Äh, wann war nochmal die frühe Renaissance? – Ha, das ist weiß doch jedes Kind! Hauptvertreter Giotto, das Leiden des Christi, klingelts, na? 1305, Padua, Italien. Ein Meisterwerk. Gerade mal vierzig Zentimeter bis zum Neoklassizismus. Ha. Und jetzt kommst Du, Kunstgenießer!

Der Meter ist denkbar ungeeignet, um damit zu messen. Die Zahlen sind zu klein gedruckt und es gibt  nicht die üblichen Hervorhebungen alle zehn und zwanzig Zentimeter. Ein einheitlicher Zahlenbrei, so dass ich mich beim Beschneiden von Rigipsplatten hin und wieder vermesse. Es waren die sechs Dynastien und nicht die Gupta-Periode, Mist. Auch die nur einseitige Zahlenskala bereitet Probleme. Normale Meter kann man umdrehen und erhält gegenläufig eine weitere Skala … nur wirkliche Kunstexperten, so wie ich, wissen diesen Kunstepochenmeter zu bedienen. Eine Serie von Dachlatten schneide ich auf Renaissance-komma-sieben Zentimeter. Die Ecke im neuen Raum wird auf einer Breite von Ein-Spätegotik-Peter-Paul-Rubens-komma drei mit Teppich belegt und so weiter …

Heute ist Strichen angesagt, aber ich muss zuerst die Pinsel finden.