Regen ist angesagt. Die Wetterapp auf dem iPhone zeigt die Prognosen verschiedener Orte für fünf Tage an, sowie den aktuellen Status, den sie von der jeweiligen Wetterstation bezieht. Du solltest dich also sputen, Herr Irgendlink, wenn du das Nordkap trockenen Fußes erreichen willst.
Gerda, die Niederländerin, die ich am Láhpojárvi getroffen hatte, erzählte mir von Leuten, die schon elf Mal am Nordkap waren, aber noch nie die Sonne dort gesehen haben. Immer waren sie nur für einen Tag da, gehetztes Reisevieh, ausgespuckt von einem Hurtigrutenschiff, in einen Bus verfrachtet, hinaufgekarrt, 255 Kronen Eintritt bezahlt, drei vier Stunden im Nordkapcenter gewesen …
Maurice fällt mir ein, den ich vor bald zwei Wochen in Schweden getroffen hatte: Wie lange wirst du am Nordkap bleiben?, hatte er gefragt, als würde es sich um einen Malle-Trip handeln, wie lange warste denn am Ballermann? Nur eben, hier geht es nicht um leichte Partykost. Da hatte er recht, der Mindcore-Musiker.
Ich wandele diesertage stets auf einer dünnen Schneide zwischen ‚in Hektik fallen‘ und drauflostreten. Wie irrsinnig das ist, nach so vielen Tagen Kurbelei, das muss ich mir immer wieder vergegenwärtigen. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es ja nicht an.
Am zweiten September habe ich einen Flug ab Alta. Übernächsten Dienstag, glaube ich, aber auch den muss ich nicht unbedingt erreichen.
Wozu Eile? Fast schon ein guter Titel für ein Paul-Klee-Bild … oder hat er nicht tatsächlich eines seiner Bilder ‚wozu Eile‘ genannt?
Gestern erreiche ich bei Lakselv den Porsangfjord. Eine wichtige Marinebasis der Nazis im Zweiten Weltkrieg. Weiter hinten im Tal aufwärts findet man die Ruinen eines ehemaligen Feldlazaretts. Nachdem ich am Morgen von Fluglärm geweckt wurde und mir fast vorkam wie in der Einflugschneise von Frankfurt, alle paar Minuten donnerte es über dem Zelt und mich wunderte, wow, was für ein großer Flughafen das sein muss hier in Lakselv, der die Nordfjorde mit Oslo verbindet (es gibt tatsächlich einen Flughafen hier), wurde ich später auf der Straße runter ans Meer belehrt, dass auch heute noch das Militär hier unterwegs ist. Schilder weisen eine sieben Kilometer lange Zone aus, in der man nicht fotografieren, nicht campen und auch nicht anhalten darf.
Unten in Lakselv herrschte samstägliches Treiben. Tankstellen, ein Coop-Laden, alle möglichen anderen Läden, alle geöffnet. Männer in Tarnanzügen, Militärs, beim Einkaufen. Ein unheimliches Donnern geht durch den Fjord. Es scheint mitten in Lakselv zu sein. Düsenantrieb. Niemand nimmt Notiz. Ich kann auch nichts sehen hinter den fabrikhallen-trostlosen Gebäuden und den Parkflächen dazwischen.
Einkaufen. Raus aus der Stadt, vorbei an der Kirche, wo ich vor dem Kriegerdenkmal einen Moment ruhe, auf dem etwa zehn Namen stehen von Gefallenen aus der Gegend. Was für eine Vergeudung und Zunichtemachung kleiner feiner Menschenträume so ein Krieg sein muss. Du rutschts da so rein als junger Mann, wirst manipuliert oder gezwungen, Teil einer Armee zu sein für ein Irgendwas, das sich dein Vaterland nennt und sollst es nun verteidigen auf Leben oder Tod, geknechtet in einer streng hierarchisierten Menschengruppe, wenn du Pech hast einen unbesonnenen, den Helden spielen wollenden, sich profilieren wollenden Offizier als Vorgesetzten, der bereit ist, dich beim nächsten tollkühnen Angriff einfach so in den Tod zu schicken.
Zwei Kampfjets. Sind das Mirage? Französische Kampfflieger hier oben?
Langsam keimt eine ‚Krieg bricht aus-Hysterie‘ in mir. Ich bin ja seit Monaten uninformiert, was das Weltgeschehen betrifft. Bis zu einem Campingplatz zehn zwanzig dreißig Kilometer nordwärts von Lakselv tobt diese Hysterie und ich male mir schon Bilder, in denen plötzlich alle Transportmittel versagen, es keine Busse, Flugzeuge, nichts mehr gibt, die mich von hier wieder heimbringen, weil ein Krieg begonnen hat. Ich, abgeschnitten hier oben. Plötzlich ein Flüchtling.
Bei einem Camping, wo ich bei einer Russin ein Eis kaufe, erzählen mir zwei Norweger von den Übungen, die die nächsten zwei Wochen hier laufen. Manöver also. Belgier und Franzosen seien gerade hier. Kommt wohl öfter vor, so beiläufig, wie er es erzählt. Einer der beiden ist aus Lakselv, der andere aus Honningsvåg. Genüsslich schmatzen wir Eis.
Die russische Platzwartin zeigt lächelnd auf ihre Bluse, wo sie sich mit Eis bekleckert hat und ich zeige daraufhin mein ziemlich versifftes T-Shirt. Wir lachen, lecken Eis, genießen einen der vielleicht letzten warmen Tage des Jahres. Nebenbei tauschen wir, fast wie einatmen, ausatmen oder wie Stoffwechsel, Lebensgeschichten, Wohers und Wohins. Dass es sie so weit hier hoch verschlagen hat, aus einer Millionenstadt im Südural kam sie in die Murmansker Gegend und dann hierher. Halbes Jahr dunkel und kalt, halbes Jahr hell und warm. Verrückt.
Dass ich tatsächlich bis zur Barentssee geradelt bin, erklärt mir nüchtern ein ausgemergelter, kautabakkauender Norweger: „You have met the Barentssea“, sagt er schlicht, „enjoy“.
Ein paar Kilometer weiter kommt ein Typ mit reisebepacktem Radel entgegen, der aussieht wie der Schmied in den Asterix-Comics, wie hieß der noch? Verleihnix? Egal. Er war am Kap, ist zwei Tage bis hierher geradelt und er kommt aus Frankreich aus irgendwo zwischen Lille und Paris. Blonder Zopf wackelt. Wir erklären uns gegenseitig die Einkaufs- und Zeltplatzmöglichkeiten. In Russens gäbe es einen Campingplatz für 90 Kronen die Nacht und man könne die Waschmaschine umsonst benutzen. Na, und das wäre doch ein Ziel für den Abend. Von da aus seien es noch 140 Kilometer bis zum Nordkap, sagt der Gallier.
Ich trödele mich voran. Der Fjord ist unglaublich schön. Es herrscht Ebbe. Felsen liegen frei. Fischerhütten stehen wie deplatziert weit weg vom Wasser. Boote ankern. Bojen schimmern, Kanuten padeln, Flüsse stürzen von den zwei- dreihundert Meter hohen Bergen, laufen aus. Mal sehe ich mich in Island wieder, mal in den Cevennen, mal in den Südhängen der Pyrenäen – und plötzlich wird mir klar, ich habe einfach schon viel zu viel gesehen von der Welt, als dass ich noch einmal dieses jungfräuliche Erlebnis des ersten Anblicks, des ersten Anfühlens, Riechens und Hörens erleben könnte. Alles, was ich sehe wird nach den beinahe fünfzig Jahren Lebenszeit automatisch einsortiert in eine – ich will nicht sagen – Schublade, es gibt nichts Neues mehr und die Barentssee und das bevorstehende Nordkap können nie dieses Gefühl des ersten Anblicks erreichen, das man sich manchmal in besonnenen Momenten vielleicht herbeisehnt.
Dass ich mich beeilen soll. Das Wetter wird schlecht, rufen Stimmen in mir, sagt man mir sogar auf Twitter. Und trotzig ist da ein Stimmchen – zum Glück – auch irgendwo in meinem Innern, das ruft, na und! Das Wetter wird immer schlecht und das Wetter wird auch immer wieder gut.
Wind kommt auf gegen Abend. Kühler Nordwester und wie auf Befehl schält sich eine Kiesgrube, von allen Seiten windgeschützt, aus dem Nichts der nahenden Zukunft, wo ich nur ein paar Steine zur Seite schieben muss und schon steht das Zelt, ruhig, abseits der Straße unweit der Barentssee.