Drei Uhr zehn pervers früh. Morgendämmerung. Der Mond steht hinter Nebelschwaden über einer Birke in Edsele. Aus dem offenen Zelt sieht man den Friedhof, Dunst steigt auf, fast wie im Zombiefilm, nur dass eine Phalanx Gießkannen im Blickfeld steht. Und die Toten wollen sich auch nicht aus den Gräbern erheben.Zum Glück.
Der Zeltplatz neben dem Komposthaufen ist optimal, fast so gut wie ein echter Campingplatz, topfeben, frisch gemäht. Der Wasserhahn, mit dem man die Gießkannen speist, ist fast in Griffweite. Kein Schild, das ermahnt, es sei kein Trinkwasser.
Edsele ist ein kleines Dorf, für schwedische Verhältnisse dicht bebaut, sprich, die Häuser stehen recht nahe nebeneinander. Trotzdem kommt die Bebauungsweise bei Weitem nicht an die Bebauungsweise enger, deutscher Vorstadt-Neubaugebiete heran. Vermutlich ist hier kein Grundstück kleiner, als ein viertel Hektar.
Der Kiosk von Edsele ist längst verlassen. Gras und Blumen züngeln an den hölzernen Wänden. In den beiden Schaufenstern stehen vergilbte Bilder, Figuren, Loppis, wie man auf schwedisch sagt. Für Loppis weiß ich die genaue Übersetzung nicht. Krempel, altes Zeug, Antiquitäten, die Franzosen würden es vielleicht mit brocante übersetzen?
Wie das Dorf wohl in zwanzig Jahren aussieht, frage ich mich. Es gibt nur noch die Tankstelle und den winzigen Supermarkt gegenüber, der in den Sommermonaten schon um 18 Uhr schließt. Hat auch Schweden, wie so viele andere Länder, so eine Art Landflucht-Problem?
Über die Faxälven-Brücke verlasse ich das Dorf und schwinge mich wieder auf die 331. Seit fast hundert Kilometern mein bisher am stärksten befahrener Begleiter. Auf über 2000 Kilometern. Sagen wir besser langanhaltend am stärksten befahren, denn schon in Deutschland bin ich ja einige wenige Kilometer auf Bundesstraßen dahin geächzt.
In Ramsele endlich die Möglichlkeit einzukaufen. Ich kaufe Ersatzteile für den Frontgepäckträger, der gebrochen ist und den ich nur notdürftig mit Kablebindern fixiert habe, einen USB-Stick zur Datensicherung und eine Warnweste. In den langen Schatten der ewigen Dämmerung wird man als Radler vielleicht schlecht gesehen. Lebensmittel natürlich, denn es ist damit zu rechnen, dass die nächsten hundert Kilometer kaum eine Einkaufsmöglichkeit kommt.
Raus aus Ramsele abseits der 331, als hätte der Kauf der schrillgelben Warnweste alle Autos vertrieben, bin ich wieder meilenweit alleine. Erreiche irgendwann die – vermutlich – Inlandsbahnlinie gigantischer Holzzüge mit zwei Loks, deren Motoren wie Schiffsdiesel klingen.
Das Land ist flach, die Straßen allesamt geteert.
Mit rasantem Tempo gehts voran.
In Junsele, nach etwa 50 Kilometern die nächste Einkaufsmöglichkeit. Sogar einen Campingplatz gibt es hier. Ich kaufe Bananen und ein Bier. Neun Nepalesen, einer von ihnen trägt einen kubikmetergroßen Sack auf dem Rücken, nähern sich einem uralten VW Doppelkabiner, verstauen den Sack auf der Pritsche, steigen allesamt in die Kabine und tuckern davon.
Die Hauptstraße ist gesäumt von Einzelhandelsläden. Eisenwaren, Friseur, Konditorei mit Straßencafé, Bank, Gemischtwaren, Kiosk, all das gibt es noch hier in der kleinen Stadt.
Am Ende der Siedlung bei der Abzweigung nach Vilhelmina dann die Tankstelle. Wald, nur noch das graue Band, das niemals endet. Ich kurble voran, schräg und klar steht die Sonne. Stille. Ein liegengebliebener Mopedfahrer, dem ich nicht helfen kann und schließlich wie zur Krönung des Tages, Maurice, braun gebrannt, Krausebart, nackter Oberkörper, über und über bepacktes Radel, so kommt er mir entgegen und winkt von Weitem.
Es gibt so eine Art Sympathie auf den ersten Blick, stelle ich fest. Ein untrügliches Gefühl, das dich einen Menschen, noch ehe du ihn von Nahem siehst, mit ihm redest, ihm in die Augen schaust, erkennen lässt. Bei Maurice ist das so. In einer Parkbucht halten wir ein Schwätzchen. Er kommt vom Nordkap, radelt nun wieder heim, nach Lille im Norden Frankreichs. Dass er nicht viel Geld hat, erkenne ich an den Pfanddosen, die er überall am Radel aufgeschnürt hat. Ach und das Radel, herrlich, ein uraltes, schweres Eisenrad, das alleine 25 Kilo wiegt, Mountainbikereifen, ein Korb auf dem Gepäckträger, darüber und über die darin befindlichen Sachen hat er ein Netz gespannt. Seine Regenschutz-Gamaschen sind zwei abgewetzte Plastiktüten, die er sich bei Bedarf mit Gummis, die er aus alten Schläuchen geschnitten hat, um die Unterschenkel schnallt. Ein Heiliger, zweifellos. Mit 50 Kilometern am Tag ist er noch gemächlicher unterwegs, als ich. Fast schäme ich mich ein bisschen, ihm so vergleichsweise vollgepumpt mit Geld und Hightech und geradezu hektisch schnell zu begegnen.
Maurice ist Musiker, Mind Core heißt sein Stil, also nicht Hard Core, frage ich, nee, Mind, und er macht eine denkende Fingerbewegung neben der Schläfe, du musst denken bei der Musik. Die Band, ich glaube ein Duo – den Namen konnte ich mir nicht genau merken – aber Bitch Boys kommt darin vor. Sein Mitmusiker sei Autist. Auch hier wieder Mimik und Gestik. Reden wir zunächst Französisch? Tatsächlich. Ganz unbewusst bin ich vom fremden Englisch ins ebenso fremde Französich gedriftet und merke es erst, als schwierigere Gesprächsfetzen auf mich eindreschen und ich nachfragen muss, hä, wie jetzt und so schalten wir auf Englisch um.
Seine Lampe mit Handkurbel, die ihm vor der Reise jemand bei einem Gig geschenkt hat, habe er in Sundsvall liegen lassen und nun hole er sie wieder, lacht er verschmitzt. Wahre Liebe zu den Fans nenne ich das.
Und die Band? Aktuelles Lied, das sie vor dem Reisestart spielten: Bike über alles (man muss dazu anmerken, dass in der Punkszene insbesondere in England und Frankreich ziemlich oft Nazisprüche von zweifelhafter Aussage vorkommen und dies nichts mit einer politischen Weltanschauung zu tun hat oder beleidigen soll. Beispielsweise hatten die Dead Kennedys einen Titel namens California Uber Alles, ein weiterer Titel, der mir gerade einfällt ist Bitzkrieg Bop usw.)
Wie auch immer, mir gefällt dieser herrlich braungebrannte Kerl, dezent verteilen sich Tattoos an seinen Armen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass wir uns viel zu sagen hätten, wenn wir uns nicht gerade auf dem Weg von A nach B und von B nach A befinden würden.
Maurice empfiehlt mir einen Lagerplatz etwa zehn Kilometer in meine Richtung inklusive Bademöglichkeit und verflixt, als ich später die kleine hölzerne Brücke des Badplads Gulsele überquere, der Mann hat Recht, der versteht echt was vom Europennerdasein. Traumhafter Platz, mit dem Auto unerreichbar. Ich nehme das bis dato nördlichste Freiluftbad meines Lebens, wasche mich, die Kleider, Äpfel und Zucchini und radele schweren Herzens weiter in meinem getriebenen Trott des Ziel erreichen wollens.
Nein, im Ernst, das was die letzten sechs Tage stattfindet ist eine Mischung aus Vernunft und Disziplin: solange das Wetter schön ist, will ich halbwegs gut voran kommen – jeder Kilometer ohne Regen ist ein Genuss.