Mehr Astloch

An einem Bauzaun am Bahnhof Bellinzona. SoSo klopft mit dem Finger vorsichtig an und von der anderen Seite scheppert ein mürrisches Bauarbeiterhammerhämmern zurück.

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Leider hatte die Umsteigezeit nicht gereicht, um sechzehn verschiedene Fotos zu machen für eine große Collage wie in dem Reisekunstartikel letzte Woche.

Diesseits und jenseits der Sonnenseite des Tals

Wachstum und Zerfall. Das Lebensrund. Hier in einem steilen Seitental des Vallemaggia werden einem diese beiden natürlichen Unabdingbaren überdeutlich vor Augen geführt. Egal, ob es sich dabei um ein altes Steinhäuschen, ein sogenanntes Rustico handelt, einen zwei Meter dicken, drehwüchsigen Kastanienbaum, oder um ein ganzes Rusticodorf: alles entsteht, wächst, zerfällt, bildet die Basis von Neuem, entsteht, wächst zerfällt. Als ob Gott in Gestalt eines Hamsters erschienen wäre und ein brummendes Rad antreibt immerzu. Unser Zeltlager in dem Wäldchen bei Dunzio steht wie auf Kuchen, so weich ist der Waldboden. Jahrzehnte verrotteten Laubs liegen unter uns. Das Arreal sieht unheimlich aus, wie ein keltischer Ringwall. Mittendrin ein kahler Fels, Buchen und Kastanienbäume.Abwärts nach Aurigeno begegnen wir zwei barfußlaufenden Deutschen, einem wegweisenden Schwaben, einer schlanken Italienerin mit Kampfhundmischung, die uns gestikluierend lächelnd auf italienisch wohl sagen will, der will doch nur spielen, wobei die Geste am Ende ihrer Rede, Zeigefinger über den Hals ziehend, eher sagen will, der murkst euch ab, aber sie zeigt auf den Brunnen und wir verstehen, das Tier ist zu klein, um über der Brunnenrand zu schauen und deshalb zieht es so an der Leine. Sie lächelt. Weiter Nach Maggia, samstagnachmittaglethargische Welt, Flussbadende, Spaziergänger. An der Bushaltestelle Aurigeno-Maggia ein alter Mann, barfuß, auf der Bank liegend. Vierundachtzig sei er, habe ein halbes Jahr im Rollstuhl gesessen, nun mache er wieder Wanderungen, um fit zu bleiben. Seine winzigen Füße zieht er ein bisschen an, damit SoSo und ich auch sitzen können. Für zehn Franken kaufen wir uns frei, nehmen den knapp vierstündigen Wanderweg nach Cevio per Bus wie im Flug. Zwischenstopp in Cevio. Einkauf im örtlichen Coop. Beim Hüsli brauchen wir Lebensmittel für die nächsten zwei Tage. Lebensmittel für das Es-sich-gut-gehen-lassen. Schließlich wollen wir uns erholen. Der erste Tag ohne Sack auf dem Rücken seit über zwei Wochen. Schokolade, Joghurt, Bier, Gourmetfertigmenü, Käse, Brot, Joghurt, Kaufrausch, Wurst und sogar eine Flasche Wein für Mathias, den Hüsli-Owner.
Klar, dass man mit derart Gepäck nicht den zweistündigen Weg direkt ins fünfhundert Meter höher gelegene Hüsli hinaufächzen will. Wir nehmen den vier Uhr Bus nach Linescio. Von dort sind es nur vierzig Minuten zu laufen und nur etwa hundert Höhenmeter. Was für ein Abenteuer. Die Ingenieure, die die Haarnadelkurven hinauf ins Tal gebaut haben, müssen wohl mit einem Miniaturlinienbus am Modell zuvor ausprobiert haben, ob er da herumkommt. Keine Hand passt mehr zwischen die Frontscheibe und die Granitwände in den Kurven. In einer Kurve muss die Fahrerin sogar einen knappen Meter zurückrangieren, um herumzukommen. Auf der gegenüberliegenden Talseite Linescios führt der Wanderweg nach Cevio zurück, den wir über eine Steinbrücke erreichen. Auf der totgelegten Südseite des Tals, also die mit Blick nach Norden, die fast immer im Schatten liegt. Früher, als es noch keine Autos gab und somit auch Straßen nicht wichtig waren, waren wohl beide Talflanken mit Granitplatten belegten Wegen und Treppen erschlossen, auf denen man zu Fuß und mit Eseln Güter transportierte. Eine gleichlangsame und gleichermaßen belebte Welt auf beiden Talseiten, die, Kraft der menschlichen Entwicklung, irgendwann kippte zu Ungunsten der dunklen Südseite des Tals. Die Straße entstand auf der Sonnenseite und die ist auch heute noch belebt. Hier beim Hüsli gibt es keine Bewohner mehr. Die Kastanienwälder und die von Menschen geschaffenen Terrassen verwildern, die Häuser zerfallen, wenn sie nicht von Fremden, oft Deuschschweizern, gekauft und renoviert werden.
Ein geradezu meditativer alter Weg, der von Generationen vor uns angelegt wurde, früher Mittel zum Zweck, Arbeitsmittel, Transportmittel, Lebensader, heute nur noch von Touristen begangen. Erstaunlich deutlich führt er einem die verschieden langen Zyklen des Wachsens und Vergehens vor Augen: die Jahreszyklen der Natur, Laub und Früchte, Schicht um Schicht am Boden und den mehrere Generationen übergreifenden Zyklus des zerfallenden Dorfs, das einst gebaut, bewohnt, bewirtschaftet, verlassen, heruntergekommen … ein Steinwurf nur entfernt wittert man das Ende des ganz großen Zyklus unserer derzeitigen Zivilisation, dann, wenn eine neue, bessere Straße auf der Sonnenseite „unseres“ Tals gebaut wird.

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Irgendwo zwischen Cevio und Bosco Gurin

Gegen Abend ächzten SoSo und ich eine zwei- bis dreihundertstufige Steintreppe im Tal jenseits von Linescio hinauf, durch uralte Kastanienbestände, vorbei an einem zerfallenen Dorf und einzelstehenden Rusticos, Steinhäusern, die wie zufällig gefallene Felsstürze aussehen, wenn sie ein halbes Jahrhundert verlassen sind.

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Die Steintreppe. Ein paarhundert Meter führt sie auf der verlassenen südlichen Seite des Bosco Gurin Tals hinauf. Sonne gibt es hier im Winter erst ab Mittag, wenn überhaupt.

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Auf ins Hüsli

Wartend auf den Bus nach Linescio. Das Thermometer gegenüber der Haltestelle in Cevio zeigt 32 Grad. Schwül. Erster Regentropfen. Die Rucksäcke sind tonnenschwer. Wir haben Leckerlis für zwei Tage gekauft und eine Flasche Wein für Mathias, der uns grünes Licht gegeben hat zum Zelten auf dem tollen Grundstück. Von Linescio sind es noch zwanzig Minuten Fußweg über Stock und Stein.
Bildcollage mit Türen, Straßennamen und Kapellen, die uns heute beim Abstieg nach Maggia begegneten.

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Tessin – Wandern im Senkrechtkanton

Das Wandern im Tessin ist anders, als in der Deutschschweiz, konstatierte SoSo vorgestern. Die Wanderwege sind nicht mehr so dicht gesät, wie im Norden und auch die Beschilderung ist lückenhaft. Ständig in die Open Topo Karte auf dem Handy zu schauen ist auch nervig, kostet Strom. Der Traum vom Wanderweg durchs Centovalli westwärts nach Italien platzt spätestens in Verscio. Zusammenhängende Flusswanderwege gibt es hier offenbar nicht. Weiterlaufen würde sicher bedeuten, ab und zu über die kaum zwei Auto breite Via Cantonale zu wandern. Kein Gehweg. Auf der einen Seite Fels, auf der anderen Leitplanke. Ideal, um Wanderer zu zerquetschen, falls man mal verträumt durch die Gegend fährt. Das Sträßchen ist wunderschön und man kann beim besten Willen kaum schneller fahren, als sechzig. Ich erinnere mich des Hüslis meines Künstlerkollegen, des Col-Art Begründers Marc Kuhn. Ein fürs Tessin typisches Rustico mit Granitsteindach. Es liegt in einem Seitental des Maggiatals, gerade über den Berg bei unserem Lagerplatz in Verscio. Ein Anruf bei seinem Sohn, der das Hüsli nun verwaltet und wir dürfen auf der kleinen Zeltplatzwiese oberhalb hochoffiziell zelten. Es sei etwas heikel, im Maggiatal wild zu zelten, erzählten uns zwei Deutsche, richtig teuer könne das werden.
Von Verscio folgen wir dem Wanderweg serpentinös ins fünfhundert Meter höher gelegene Dunzio. Senkrechtwandern. Aussicht auf den Lago Maggiore und die Bucht von Ascona. Der Weg ist ein längliches Paradies über achtzig Zentimeter breite Steinplattenpfade, Treppen und Brücken. Kapelle auf etwa 450 Metern. Hie und da ein geeigneter Lagerplatz inklusive Trinkwasserbrunnen und steinerner Sitzgarnitur, so dass man Lust hätte, das Zelt aufzustellen und zu verweilen, die Füße im Bach zu kühlen. Gegen Dunzio ist das Tal geradezu „dicht“ besiedelt. Ferienrusticos, deren Versorgung mit schweren Gegenständen, wie etwa Rasenmähern mit einer schaukelnden Seilbahn möglich ist. Sogar eine Telefonzelle, allerdings ohne Telefon, steht wie verloren zwischen den Steinbuden und an einer Kastanienholztür hat jemand mit Kreide „Bar“ geschrieben. In Dunzio lesen wir auf einer Tafel über die Geschichte des Ortes, dass man sich über Winter fast ausschließlich von Kastanien ernährte; die Bäume stehen weit verteilt, uralt, ausgehölt, meterdick, Kastanienstacheln, Granitplatten, Ziegen. Man hat das ursprüngliche Tälchen liebevoll restauriert. Im Dorf wohnt vielleicht nur noch eine Familie dauerhaft, ein einziger einsamer Gemüsegarten und viele Rusticos, die von Residenten gekauft wurden. Am zentralen Parkplatz, von dem aus man zu Fuß zu den verstreut liegenden Häuschen laufen muss, stehen Autos aus der ganzen Schweiz. Kurz hinter Dunzio lockt ein Fußweg in ein flaches Wäldchen mit Kastanien, Buchen und Birken und einem über die Jahre gewachsenen weichen Waldboden, auf dem wir unser Zelt aufstellen. War die vorige Nacht am Onsernone schon sehr still, so war diese noch stiller. Kein Bach rauscht und die Maggiastraße liegt vierhundert Meter tiefer im Tal.
Bildcollage fünfzehnter Tag der Schweizwanderung, Freitag, 11. Juli 2014

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