Es ist wie verhext. Mit dem Verlassen der hohen Berge zu Beginn Galiziens, holt mich das wirkliche Leben und die Alltagssorgen wieder ein. Die eiskalte, verschneite Messieta war wie eine Schutzhülle, gaukelte mir vor, allein zu sein auf weiter Ebene, glückliche Einheit von Mensch. Körper und Seele gehen auf in der Weite des Landes und obwohl es Winter ist, garstig, widrig, nasskalt, braun und deine Schuh nur widerwillig seine Spur im gefrierenden Matsch hinterlässt, fühlst du dich seltsam verbunden mit dem Land das du durchquerst.
Bewohner sanfter Hügel der Herzen in weitem Nichts – der Begriff Werden findet eine neue Bedeutung und Rinnsäler graben Schluchten über tausende von Generationen.
So endet es vielleicht. Unendlich langsam und ohne dass man etwas bemerkt.
16. Detember. Ein Restaurant etwa 7 km vor Portomarin. Ausgehungert, durstig, vom Licht der Sonne verblendet. Im dunklen Barraum läuft der Fernseher – ohne Ton. Werbung mit Busen, Po und Fönfrisur für Autoe, Billigflüge, Kaffeevollautomaten. Mit einem Schlag ist es vorbei mit der Leisepilgerei. Just als ich einen Milchkaffee ordere, fallen 40 Knaben westwärts quirlig quasselnd quantitativ unhaltbar in den winzigen Barraum ein, bemächtigen sich des Pilgerstempels, 40 Mal Flappffft, Flappffft, Flappffft und wieder raus. Mit dem Milchkaffee flüchte ich auf die Terrasse, lasse mich in der Sonne nieder, die den Kampf gegen die kalte Luft mehr schlecht als Recht führt. Als hätte ein Gletscher gekalbt sind soeben 1000 Kubikmeter Eis in meinen ruhigen Pilgerstrom gerutscht. Dich gefolgt von den 40 Knaben westwärts eine 15-köpfige Gruppe Mädchen auf kollektiv erteilter Año Santo Tour.
Nach Portomarín führt der Weg über eine hohe Brücke und eine steile Treppe. Draturgisch perfekt im skandinavisch klaren Abendlicht erklimme ich die Stufen mit Chaeuk, roser, drei Japanerinnen, drei Spaniern, einemundefinierten Pilgerpaar; ein französischer Langstreckenpilger, der vor zwei Monaten in Mont Saint Michel losgelaufen ist macht ein unheimlich starkes Foto von mir auf der Treppe, die in den Himmel führt. Ich schreibe meine Mailadresse auf einen Zettel, damit er es mir schickt.
Sardi, den man nicht reinlässt und Thomas verdanken wir, dass wir nicht in der Pilgerherberge landen bei den etwa zwanzig 40 Knaben westwärts und den 15 Mädchen. In solchen Herbergsräumen kehrt nie Ruhe ein.
In einer Privatalbergue kommen wir unter. Mit uns Jack aus den Niederlanden. Ein gesprächiger. Genosse, der alle Sprachen spricht und den Camino in und auswendig kennt. Mit einer 20-köpfigen Crew Freiwilliger pflegt er einen Caminoreiseführer, der sich zur Aufgabe gemacht hat, stets aktuell zu sein. Eine Syssiphosarbeit. Denn der Camino ist ein dynamisches Machwerk, dessen touristische Infrastruktur sich permanent bewegt. Als würde man versuchen, im Fernsehen live über einen Strudel voller Treibholz zu berichten. Abends gibt es koreanisches Essen aus der Bordküche der Herberge, morgens koreanische Pfannkuchen, pikant mit fein geschnittenen Zucchini, Karotten und getrockneter Paprika.
17. Dezember. Tiefe Wolken hängen über dem Land. Etwa Minus drei Grad. Ich sitze auf einer Bank neben dem Wanderweg und kühle aus. Nicht nur körperlich. Pilgerzählen. wegdämmern; laut blökend springen die 40 Schäflein westwärts über einen umgestürzten Baum. Die Gegend sieht aus wie zu Hause, wie Nordpfalz. Die Eukalyptusbäume muss man sich wegdenken. Und die Eichen sind daheim weniger verwachsen. Ein Herbsttag auf dem Spannagel oberhalb Kalkofens.
Bei 30 höre ich auf zu zählen. Ich ahne, was es bedeutet, den Camino im Sommer zu laufen: ein Wettrennen um die freien Betten in den Herbergen. Wer es etwa schafft, bis 13 Uhr, wenn die Herbergen öffnen, sich in die Pilgerschlange einzureihen, wird nach folgender Hierarchie aufgenommen: Zuerst die mit körperlichen Gebrechen, dann wandernde Pilger, Pilger mit Pferd, mit Fahrrad und zu guter Letzt der Pilgerabschaum, der sich den Rucksack mit Begleitfahrzeug transportieren lässt. So steht es an der Tür der Albergue Municipal in Portomarin angeschlagen.
Ich kühle völlig aus, ziehe alle meine Kleider an, flüchte in eine Bar in einem kleinen Dorf etwa acht km hinter Portomarín. Privatherberge, unheimlich gemütlich, eigentlich geschlossen. Aber die Besitzerin lässt mich ein. Roser sitzt schon am Kaminofen. Dass sie ein Schwein geschlachtet haben, jetzt, damit die Gäste ab Ostern etwas zu essen haben und dass wir bis Santiago womöglich von Schnee verschont bleiben erzählt die alte Dame und dass ihr Neffe in Montserrat als Arzt arbeitet und ihr Nichte mit einem Deutschen verheiratet ist. Und dass sie Strafe zahlen muss, wenn sie, während sie geschlossen hat, PilgerInnen aufnimmt.
Resozialisierung. Seit Tagen geistert das Wort. Die echte Welt zu Hause ist wieder so greifbar. Unangenehm hart drücken Alltagssorgen, als habe mann Steine im Schuh. Langsam sickert die Welt. In einem Restaurant erhalte ich eine Auffrischung in Sachen Leistungsgesellschaft. Schrill gelebtes Schönpuppendasein in Musik-Clips auf dem 16:9er. Junge Kerle mit Dreitagebart und ausgestopften Hosend, damit die Eier richtig dick und hochleistungsstark aussehen rappen im Duett mit dickbusigen Schönheiten in knallengen Shorts und aufgespritzten Lippen. Im Hintergrund schnelle Autos, Dollars, Lebensglück.
Das ist die echte Welt. In ihr will ich in Knechtschaft leben.
„Sieh nur, ein Dorf am Horizont. Ob es eine Bar hat? Oder einen Kaffeeautomaten, hinter Gittern gesichert an einer Häuserecke? In einer Stunde können wir dort sei.“
Es ist fast 5 Uhr. Ich habe hart geschuftet an diesem Artikel. Auf der winzigen iPhonetastatur ein elendes Unterfangen. Die Fipptehler lasse ich unkorrigiert.