Der Europenner – moi-même – kennt mindestens so viele Arten, den Schwarzwald per Fahrrad zu durchqueren, wie die Eskimos Worte für Schnee haben.
Manchmal würde man sich ja gerne von außen betrachten, wie man etwa einen krummen Baum anschaut, dem seine Vergangenheit ins Astwerk geschrieben steht. Hier ein Blitzeinschlag, da ein Stacheldrahtzaun oder ein Verkehrsschild, kaum noch sichtbar, in die Rinde integriert. Dort hat jemand ein Herz eingeritzt und da kann man noch noch vielen Jahren erkennen, dass jemand hier war: ich war hier am 23. Mai 1978. Eigentlich funktioniert das bei Menschen ziemlich ähnlich, nur dass sie keine Rinde haben, an denen man die längst vergangenen Ereignisse ablesen kann und dass ihre Arme und Beine nicht willkürlich gekrümmt oder verstümmelt werden. All unsere Zeit, die wir bisher gelebt haben, schreibt ihre Muster in unser Inneres. Zum Ausdruck kommt es in Marotten, Macken, liebenswerten und weniger liebenswerten Eigenschaften. Das macht uns nunmal zu denen, die wir sind. Wieso gibt es Menschen, die fanatisch gerne radfahren, andere wiederum verabscheuen diesen Sport? Daran muss ich denken, als ich den perfekt ausgebauten Kinzigtalradweg hinauf radele bei angenehmer Steigung auf meist geteerten Strecken abseits der Hauptstraße B 33. Hier in der Gegend hat eigentlich alles angefangen mit Monsjö Irgendlinks Radelleidenschaft. In den Siebzehnterjuni-Wochen der Achtzigerjahre. Das waren im Westen der Republik beliebte Brückenwochen. Der – na ja, sagen wir mal frech – westdeutsche Nationalfeiertag ist mittlerweile abgeschafft.
Wir fahren zum Bodensee, sagte mein Vater eines Tages. Mit dem Rad. Und obwohl ich bis dato noch nie mehr als zwanzig Kilometer am Tag geradelt war, ließ ich mich darauf ein. Auf der ersten Tour am ersten Tag sofort von Null auf hundertzwanzig Kilometer. Wir schafften die Strecke von der Nordpfalz bis nach Lauterbourg im Elsass, quartierten uns im Festzelt des Dorffestes ein, das noch nicht abgebaut war. Abenteuer pur. Und Muskelkater, schreibs groß, MUSKELKATER ohne Ende. Ich weiß nicht mehr, wie ich die Tour überstanden habe, aber seither machten wir jedes Jahr in der Siebzehnterjuni-Woche diese Tour. Neun Tage, längs durch den Schwarzwald, runter zum Bodensee, einmal drumherum und wieder zurück, jeweils knapp tausend Kilometer. Bei der gestrigen Route erinnerte mich nichts mehr an früher. Den Radweg gab es damals, glaube ich noch nicht. Wir radelten stets auf Landstraßen, oft auch Bundesstraßen.
Vom Kinzigradweg zweige ich rechts ab an der Gutach entlang. Gegen Mittag entdecke ich eine schöne Badestelle, die ich sofort ausprobiere. Prottigheiß. Die Sonne sticht. Die Straße, an der ich die Rast einlege, heißt sinniger Weise Sonnhalde. Das Wasser ist kaum einen dreiviertel Meter tief vor einem Stauwehr, von dem der Mühlbach abzweigt. Als ich den erdigen Hang wieder hinauf ackere, steht auf der Straße neben dem Radel ein Mann mit einem Handtuch über der Schulter. Ob er auch baden wolle? Nein, er war beim Masseur nebenan, nun warte er, dass er abgeholt wird. In der Tat geht der Mann krumm und schief. Der Schmerz ist ihm anzusehen. Und mir wird einmal mehr die schreckliche Vergänglichkeit klar, welche, wenn man sie nur oft genug vor Augen hat, eine unheimliche Kraft freisetzt, die einen Dinge tun macht, die man normalerweise auf später verschieben würde, dann, wenn einmal Zeit ist im Leben. Vor einer Bäckerei in Gutach begegnet mir eine Frau, die mich bewundernd begrüßt und seufzt, hach, das würde sie auch gerne mal tun, aber sie müsse so viel arbeiten. Ich diagnstiziere Verlustangst. ist es nicht so in der heutigen Zeit: je mehr die Daumenschrauben angezogen werden und je bedrohter unsere Arbeitsplätze sind, desto bereiter sind wir, über unsere Grenzen zu gehen, nur um nicht den Job zu verlieren. Je mehr Leute den Job verlieren und in der Gosse landen, umso ängstlicher werden die, die noch einen haben. Dann sind sie bereit, weit über ihre Grenzen zu gehen, nur, um den Job nicht zu verlieren. Jenseits der Grenze erwartet sie ein krummer Rücken, kaputte Bandscheiben, allgemeine Mattigkeit, was aber gesellschaftlich angesehener ist, als rechtzeitig Nein zu sagen. Dinge, die du früher auf später verschoben hast, wünschst du dir später, früher getan zu haben. Ich kann es gar nicht oft genug erwähnen.
Kurz hinter Hornberg mündet der Radweg auf die B 33, auf der stoßweise die Vierzigtonner mit Rattenschwänzen aus PKW vorbeirauschen. Ein Lärm und ein Gestank! Ich frage Passanten, ob es eine Alternative gibt ins zehn Kilometer entfernte Triberg. Alle verneinen. Das Tal ist so eng, dass kaum mehr hineinpasst, als die Bundesstraße und der Bach. Aber meine Karte im Fon zeigt einen schmalen Abzweig, der hinauf führt in die Berge, vorbei an Triberg bis nach Schonach. Dass Schonach ein Wintersportgebiet ist, erfahre ich erst am Ortseingang, kurz nach 19 Uhr. Dazwischen liegt geschicktes Taktieren und immer wieder Unterstände und Schutzhütten finden. Ein Gewitter hängt in der Luft. Just als ich um die tausend Meter hoch geklettert bin, gehen die ersten Blitze nieder und ich überlege schon, wieder zurückzufahren, um nicht erschlagen zu werden. Mit Gedanken, ob man einen Berganstieg mit dem Kunstschuften vergleichen kann, kurbele ich dennoch weiter. Stets vermutest du hinter der nächsten Kuppe den finalen Pass, aber es geht immer immer weiter und du liebäugelst damit zurück zu radeln, zurückzurudern an die Stelle des Lebens, an der du die Hauptstraße verlassen hast …
In Schonach hat der kleine Lebensmittelmarkt im Oberdorf schon geschlossen und ich muss einen Kilometer abwärts radeln bis zu einem anderen Markt, den mir ein Passant empfiehlt. Sonst gibt es nichts, und montags und dienstags seien hierzulande die Gasthäuser meist zu. Unten beim Edeka steht ein Hinweisschild: Triberg drei Kilometer. Verflixt. Nur dreizehn Kilometer auf der Hauptstraße hätten mich hierher gebracht. Und ich hätte vielleicht zweihundert Höhenmeter weniger kurbeln müssen. Aber was wäre mir dabei entgangen? Da oben war es wunderschön! Eine Art Zauberwald mit moosigem Boden, dazu die unheimliche Atmosphäre des Gewitters, der Blick weit ins Tal, in dem Dunst aufstieg, die vielen einsamen Bauernhöfe in der typischen Schwarzwälder Bauweise, fast nur aus Dach bestehend, am Hang gelegen (wo sonst), im unteren Teil das Wohnhaus und der Viehstall und obendrüber mit eigener Einfahrt der Heuboden. Sagtest du nicht schwitzend, im nächsten Leben werde ich Schwarzwaldbauer? Kein Lärm, nichts. Die Winter müssen garstig sein hier oben, aber das würdest du in Kauf nehmen, oder?
Mitten in meinem Zauberwald ein seltsam abstraktes Bild: jemand hat eine gusseiserne Badewanne aufgestellt, die eine Quelle fasst. Unter der Rubrik Heimatlos gibt es ein Bild davon heute auf Pixartix. Der Schwarzwald ist der Himalaya des kleinen Mannes. Ich bin heilfroh, dass das Gewitter eine Abkühlung gebracht hat, denn bei dreißig Grad wäre ich sicher zusammengebrochen. Auch oberhalb von Schonach will und will die Steigung nicht aufhören. Es ist wie verhext. Gegen Dunkelheit bin ich nahezu erschöpft. Aus dem Pfälzer Wald kenne ich es so: die Steigung hört irgendwann auf. Und von den Alpen kenne ich es so: die Steigung wird nach vierzig fünfzig Kilometern fleißigen Kurbelns aufhören. Es ist eine Frage dessen, was man erwartet: in der Pfalz, dass es schnell vorbei ist, in den Alpen, dass es nie aufhört. Wenn man sich damit abfindet, kein Problem, aber hier: Hinter jeder Biegung erwarte ich, dass endlich oben ist, versuche mit den Augen den Gipfel herbeizuzerren. Das macht es so problematisch.
Geschrieben am Tag fünf morgens und nachmittags, grob von Fipptehlern beneirigt :-)
(Und nachmittags um halb fünf von der Homebase ein weiteres Mal entfippthelert … :-))