Zerfall

Dass die Menschen die Dinge nicht tun, weil sie sie tun wollen, sprich um ihrer selbst willen, hatte ich schon oft erwähnt in diesem Blog: weder putzen Putzhilfen, um zu putzen, noch leisten Finanzdienstleister Finanzdienste, um Finanzdienste zu leisten. Einzig der Künstler, moi même, bildet eine Ausnahme im unüberschaubaren Heer unglücklicher Menschen, die ihren Job verfluchen, weil sie etwas tun, was sie nicht tun möchten und es nur tun, um so viel Freiheit zu erwirtschaften, das was sie tun müssen nicht mehr tun zu müssen (eine Idee, die immer zum Scheitern verurteilt ist).

Natürlich schafft auch der Künstler nicht nur Kunst. Von irgendwas muss er ja leben. Deshalb nimmt er hin und wieder Webdienstleistungsaufträge an, die mal mehr, mal weniger gut bezahlt sind. Idealer Weise leistet der Webdienstleister Webdienste, weil er webdienstleisten will. Herzblut sollte möglichst immer mit im Spiel sein.

Beinahe ehrenamtlich helfe ich einer Kulturinitiative auf diesem Gebiet. Die Seite wurde noch im letzten Jahrtausend gestaltet und sieht entsprechend „framesetig“ aus. Wunderbar das Tabellenlayout. Wenn man die einzenen HTML-Dokumente mit Weblint auf Fehler prüft, ist die Liste der ungeschlossenen HTML-Tags und überflüssiger oder veralteter Attribute länger, als das Dokument selbst. Gnädiger Weise interpretieren moderne Browser ja fast alles und die Seiten können trotzdem im Netz betrachtet werden. Würde Monsieur Irgendlink die Sache beflissentlich angehen, so wäre er lange lange lange mit Aufräumen beschäftigt. Eigentlich bräuchte die Präsenz einen Relaunch, am besten als CMS.

Zerfall! So sieht er aus: ich spüre ihn am eigenen Leib. Ich will natürlich keine Minute länger auf diesem toten Pferd reiten, als unbedingt nötig. Also werfe ich all die heren Webdienstleisterspezialkenntnisse über Bord, die ich mir jahrelang antrainiert habe, lasse alle Fehler in den Dokumenten, schicke stattdessen eine Maschine daran, die im Hintergrund läuft,  eine unheimlich gnädige Software, die sämtliche Grafiken mit Leerzeichen und Sonderzeichen in den Dateinamen verwurstelt in Originalgröße, ha, ist mir doch egal, ob die Bilder fünfzig Kilobyte groß sind oder sechs Megabyte. Das Problem ist, dass der Datentransfer nun den ganzen Tag dauern wird, aber der läuft ja zum Glück auch im Hintergrund.

Das Thema Zerfall wäre nicht erwähnenswert, würde es sich nicht in alle Nischen der menschlichen Koexistenz ausbreiten.  Überall, wo Menschen Dinge tun, die sie aus anderen Gründen tun, als um der Dinge selbst willen, geht der Zerfall Hand in Hand mit dem Aufbau. Konstruktion und Dekonstruktion sind wie ungleiche Zwillinge, die ein Lebtag miteinander ringen, wer der stärkere ist.  Einzig die Herzblutdinge, Texte wie diesen hier zu schreiben etwa, völlig ohne finanzielle Hintergedanken, einfach nur um des Textes willen, oder eben ein Kunstwerk zu schaffen, das man einfach nur um des Werkes willen schafft, sind ein Lichtblick im Werden und Vergehen, in dem die Kräfte in unbeschreibbaren Zyklen kommen, einander aufwiegen, überwiegen und wieder vergehen.

Ordnung – muss werden

Ein Versuch, die wichtigsten Inhalte dieses Blogs neu zu strukturieren und für den Endverbraucher aufzubereiten, bringt die Erkenntnis, dass Ordnung ein individuelles und permanentes Handeln ist, nicht wie aus „Kindertagen-räume-dein-Zimmer-auf“ ein barbarischer Akt des Neusortierens von Gegenständen nach logischen Gesichtspunkten. Wer auf die Zimmeraufräumart versucht, Ordnung zu schaffen, blockiert sich selbst. Erst vor Kurzem habe ich verinnerlicht, dass das CMS, auf dem irgendlink.de aufgebaut ist, eigentlich nichts anderes ist, als eine Datenbank, deren Inhalt nach Belieben strukturiert werden kann. Ein Schrank voller Schubladen und Gefache, in denen sich Kästen befinden, die Blogeinträge, Links,  Zeitstempel, Revisionen, Autorenschaften, Schlagworte und Kategorien enthalten. Nicht, dass ich nicht schon lange gewusst hätte, dass eine moderne Webseite nichts anderes ist, als ein frankensteineskes Monster, das aus den Leichenteilen gefledderter Ideen und Gedankensprünge besteht. Nur verinnerlicht hatte ich es noch nicht.

Ich bin kläglich gescheitert, die Projekte-Sektion neu zu strukturieren, wurde aber belohnt mit einer legeren Erkenntnis des Ist-doch-egal, -soll-die-Nachwelt-doch-auch-etwas-schuften. Hauptsache, Du, Monsieur Irgendlink, gehst Deinen Weg durch die eigenen Denkprozesse und rettest so viel Du kannst in die große Datenbank. Strukturieren kann man sie auch nachträglich. Besser wäre es natürlich, im laufenden Prozess permanent ordnerisch tätig zu sein.

Die Erkenntnis, dass die Mehrheit aller Einträge in diesem digitalen Journal in die nicht viel sagende Kategorie „Allgemein“ einsortiert ist, weil sie die Standardkategorie ist, zeigt, dass Ordnungschaffen nicht eine einmalige Tat ist, sondern eine Methode. Ordnung im Arbeitsablauf selbst, statt sich ein ständig wachsendes Etwas vorzuknöpfen und es einmalig zu bearbeiten. Ordne die Art wie Du etwas machst, und Du wirst nie wieder ordnend in den Prozess eingreifen müssen.

So? In welche Kategorie muss nun dieser Artikel einsortiert werden? Gewöhne es Dir sofort an, Artikel in Kategorien einzusortieren und spare nicht an Schlagworten! Das ist ein viel mächtigerer Faktor, Ordnung zu schaffen, als hinterher akribisch alles noch einmal durchzuackern und nach Zusammenhängen zu suchen.

Homo Discolonius – das zersiedelte Ich im Internet

Der zersiedelte Mensch, das sich selbst auflösende Individuum, die Fragmentierung des digitalen Ichs auf verschiedenen Plattformen … wenn die Lateiner dafür ein Wort gewusst hätten, hätten sie vielleicht den Begriff Homo Discolonius, Unterart Homo Discolonius Oppidiensis geprägt.

Drei Instanzen eines gesichts überblendet in einer quadratischen Collage
Ich hoch Drei Homo Discolonius

Soziale Medien sprießen wie Pilze aus dem Boden und wer etwas auf sich hält oder auch einfach nur mithalten will in dem kommunikativen Massenwahn, muss sich permanent auf neue, heilversprechende Plattformen einlassen. Facebook hier, Twitter dort, WhatsApp jenerorts, Tumblr, WordPress, (wer kennt noch wer-kennt-wen?). Nicht genug: zu den reinen Kommunikationsplattformen, diesen Mittelaltermärkten der Moderne, kommen auch noch jede Menge Fun- und Hobby-Communities, Geocaching, diverse Spieleportale, Sport hier, Nachrichten dort. Zu guter Letzt die Selbstvermarktungsplattformen für Ebooks, T-Shirts, Kunst, Fotos, Unmengen geistigen Eigentums, die zu Fuße des Ecommerz-Gletschers sich zu einer Endmoräne aufwerfen. Stehen wir vor einer Art Babylonischer Identitätenverwirrung?

Die Zeit vor der Zersiedelung des Ichs, kurz vor der Geburt des Homo Discolonius

Als junger Blogger hatte ich einmal die Illusion, einfach nur Ich bleiben zu dürfen im Netz. Ein Mann ein Blog! Und nur eine einzige Internetadresse! Das war um die Zeit, als Facebook gegründet wurde und noch niemand wusste, was das ist. Ich postete täglich Texte und Bilder auf einer Blogplattform namens myblog.de, die nach einigen Crashes von 20six.de geschluckt wurde und das junge WordPress war gerade am Aufkeimen, weshalb es nahe lag, auf einen eigenen Server zu ziehen, und WordPress auszuprobieren (welches auch heute noch auf dem Irgendlink-Server zum Einsatz kommt). Ach hätte ich nur geahnt, dass das der Beginn meiner Zer-Ichung war. Anfänglich gab es tatsächlich nur eine einzige Seite, eine einzige Internetidentität, ein einziges, gutes, gediegenes Ich, hinter dem noch echtes Fleisch und Blut stand. Was ist daraus geworden? Mittlerweile betreibe ich ca. zehn verschiedene Webseiten, habe das Ich in mindestens drei unterschiedliche, mehr oder weniger reale Identitäten gesplittet, wobei Monsieur Irgendlink, moi-même, noch verdammt nah dran ist an dem guten alten Blogger von einst.

Um voran zu kommen im Netz und mithalten zu können, ja, um überhaupt wahr genommen zu werden – so suggeriert man uns täglich – müssen wir bei diesem oder jenem sozialen Medium unbedingt vertreten sein. Die Blogsoftware macht es glücklicher Weise einfach, mittels Share Buttons (Teilen-Schaltflächen), das eigene Blog, bzw. die Einzelartikel zu verknüpfen, so dass eine Verschneidung der Sphären oder besser gesagt, eine Verknüpfung, nicht das Problem darstellt. Schwieriger wird es körperintern, also auf die Person aus Fleisch und Blut bezogen, die man einmal war, das ganze zu verstehen. Der Homo Fleischikus Blutiensis nämlich kennt nur sich selbst, er greift mit der linken Hand rüber zur rechten und spürt, ah, du bist noch da. Sein Hirn jedoch erlaubt die Zersiedelung. Das macht ein Rollenspiel möglich und die Technik unterstützt ihn dabei.

Aus Eins mach‘ Viele – inflationäre Ich-Vermehrung bringt den Homo Discolonius hervor

Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, heutztage, in die Unzahl von Möglichkeiten hineinzuwachsen? Wie ist das Leben einer Person, die nie gelernt hat, Ich zu sein, weil sie sofort viele Ichs sein konnte. Weil sie dem Kampfnamen Dragor bei WOW antritt, auf Twitter sich @bumsdiddelda nennt, in Facebook den Namen verwendet, der in der Geburtsurkunde steht, zum Beispiel Kevin_Müller148, ein Xingprofil hier, ein Katzenblog betreibt unter wundervollegruenekatzen.wordpress.com … und sich überall regelmäßig einloggen muss, überall seine Rolle finden muss, Kreise schließen, Freundschaften? Obendrein den massiven Forderungen, die die jeweiligen Systeme an ihn (oder besser an die vielen Ichs) stellen, gerecht zu werden, wie fühlt sich das an? Denn eins ist klar, wer sich einer Community anschließt, der muss ihr auch dienen. Er muss sich den Manipulationen unterwerfen, die die digitalen Plärrplattformen im Netz ihm angedeihen lassen, muss die Werbung verinnerlichen, die man ihm ins Hirn reibt.  Eine Zerreißprobe.

Ich Irgendlink moi-même beendet nun diesen Artikel. Er muss sich als Heiko Moorlander bei Facebook einloggen, vorher noch schnell nen Twitterspruch als @irgendlink, mal schauen, was die Ebook-Umsätze so machen, unbedingt ein Bild posten auf einer Polanoid-Retro-Community … so verbleibe ich ich ich ich denn mit einem dreifach schallenden „wir mailen“.

 

Tollmond

Noch immer geplättet von einer dreisprachigen Webseitengestaltung und dem Ausarbeiten eines neuen Kunstkonzepts, steht dem Künstler, moi même, der Sinn nach Wochenende. Die Risiken der feinen Künste sind dem „normalen“ Menschen (so es denn so etwas wie den normalen Menschen überhaupt gibt), wahrscheinlich nicht hinlänglich bekannt. Hauptrisiko: du bis immer im Dienst, wenn du Künstler bist. Dein korruptes Hirn ist ein gnadenloser Peitschenschwinger, der tagein tagaus auf dich einprügelt. Die Tage verschwimmen zu einer grauen Masse, in der es einerlei ist, ob Sonntag oder Werktag, Festtag oder irgendein kommerzieller Leerlauf mitten im Jahr. Wie besessen beißt du dich an Ideen fest, schläfst mit ihnen ein und das erste, was dir beim Aufwachen passiert, ist, dass du da anknüpfst, wo du abends aufgehört hast. Ein Trost hierbei ist, dass diese Arbeit Spaß macht.

These: Es gibt gar keine normalen Menschen. Jeder schleppt sein eigenes Bündel und argwöhnt, alle anderen, DIE da draußen, sind normal. Die Verschwörung der Normalen gegen das Ich. Was zur Folge hat, dass man versucht, aus der Masse der Normalen schwarze Schafe hervorzubeten und sie an den Pranger zu stellen. Was wiederum der ideale Nährboden ist für mittelalterlich anmutende Gerüchteköcheleien, die nur einen Fingerzeig entfernt sind von Hetzkampagnen, Scheiterhaufen, Verleumdungen. Komischerweise tat es ein bisschen weh, auf dem sozialen Mittelaltermarkt mit dem Designer-F die Unkereien zum neuen Regierungskabinett zu lesen, insbesondere über die designierte Arbeitsministerin, der man anlastet, sie habe noch nie selbst gearbeitet, sei immer schön Politikerin gewesen … tausendfach nachgebetet und von der einen Seite für gut geheißen und von der anderen Seite als Beschmutzung gesehen, bleibt unter dem Strich für fast hundert Prozent derjenigen, die darüber reden und Partei ergreifen die eine ignorierte Tatsache: DU WEISST ES NICHT.

Es ist faszinierend, wie schnell man sich ein Bild von etwas macht, das man persönlich nicht überprüfen kann und das somit – vor allem, wenn man weiß, dass die Mitmenschen nicht immer gute Ziele verfolgen und einen hin und wieder belügen – eine Wahrheit erschafft, die keine ist.

Wahrheit ist, wenn du glaubst, dass du weißt, glaubst du?

Falsch! Wahrheit ist erst, wenn du den Weg von der zu überprüfenden Sache zurück gegangen bist bis zur Quelle. Und wenn du die Quellen aller Seitenflüsse auch noch geprüft hast und sie persönlich gesehen hast. Übertragen auf das Amazonas-Gebiet, wäre Wahrheit also eine pure Utopie, weil man ein Gebiet so groß wie Europa erforschen müsste. Aber das ist irrelevant, denn der Amazonas ist vielleicht nur eine Erfindung … :-)

Wahr war der Mond wie er hinter einem Wolkenschleier schimmerte an jenem 16. 12. Spät radelte ich in die Stadt, um das Nötigste zu kaufen. Und im ewigen Takt der Pedale surrt das Hirn. Die Stadt – um halb neun abends fast menschenleer. Der Weihnachtsmarkt knieend zu Füßen der Kirche. Ein Trupp Hundetrainees, zwei Menschen gebückt über ihren Kontoauszügen vor der Schiebetür der Bank; für immer eingewintert die Außenbestuhlung vor einer Eisdiele wie von Christo verpackt. Mit jedem Tritt der Pedale wird das Gedankensurren in meinem Kopf leiser. Langsam den Reaktor runterfahren. Ich musste mich geradezu zwingen, das Haus – so spät, so dunkel, so kalt, so müde – noch einmal zu verlassen. Erst unten in der Stadt wurde mir klar warum: weil es mich beruhigt, weil das Radeln, das sich Bewegen, das das Haus verlassen die einzige Möglichkeit ist, Feierabend zu machen. Wieder kommt mir das Unken der anderen über die Ministerin in Spe in den Sinn. Wie können sie nur? Die kennen die doch gar nicht. Die plappern doch nur nach. Die machen doch genau das nicht, was schon in der Bibel steht, du sollst dir kein Bild machen. Neuzeitlicher, anders, aber gleich gefährlich, für wie es vielleicht einst gehalten wurde und weshalb man diese Weisheit niederschrieb. Dadurch, dass du dir ein Bild machst, machst du aus Mangel an Informationen automatisch ein falsches Bild. Alles, was Du nicht weißt, rankt sich als Speck um ein kümmerliches Skelett dessen, was du tatsächlich überprüfen kannst, du und dein unbedeutend kleines Wissen vom Universum und dem Rest.

Durch die Platanenallee am Schwarzbach radele ich Richtung einzig offenem Discounter. Vor einem Hotel breiten zwei Männer ihre Isomatten aus, machen komplizierte Sportübungen. Ich kann sie keuchen hören, während ich im düstren Licht der Straßenlaternen einen mit Filzstift geschriebenen Spruch auf einem Brückengeländer zu entziffern versuche. Ein zwei Meter langer Satz rankt sich diesseits und jenseits der Brücke auf dem Aluminium, schon mächtig von der Witterung angegriffen, so dass ich nur noch die Worte erkenne: „nur […] die Ente […] weiss“. Hindurch zwischen zwei Hundegassigängern wird mir plötzlich klar, wieso ich so allergisch auf die Marktgerüchte über die Ministerin reagiere: weil die Ministerin und ich das gleiche Schicksal teilen. Wir sind falsche Bilder, verankert in Köpfen normaler Leute. Wie oft höre ich, du Künstler hast es ja soooo gut. Kannst arbeiten, wann immer du willst und wie immer und Spaß macht es dir obendrein und du bist frei und – hier eine lange Kette von Worten und Eigenschaften, die man dem freischaffenden Künstlersein andichtet, wattegebettet – so gut möchte ich es auch haben. Bisher ist mir auf solche Kommentare noch keine schlüssige Antwort eingefallen. Die beiden Hundegassigänger grüßen – ich erreiche sie just an einem Engpass, so dass ich mich zwischen den angeleinten Hunden hindurchquetschen muss, Geknurre, Leinenzerren, ich komme mir vor wie eine Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Figur, die sich im Finale einer Schachpartie zwischen der schwarzen und der weißen Front hindurch schlängelt. Jetzt bloß keine Eins würfeln!

Später an der Supermarktkasse, an der die Verkäuferin gähnend dem Feierabend entgegen fiebert, schießt mir ein Wort in den Sinn: der Apokalyptische Käufer. Und ein Bild von vier apokalyptischen Käufern formiert sich von vier apokalyptischen Kassiererinnen, apokalyptische Warteschlangen mit Schwertern und Kreditkarten und Waagschalen … finde ich plötzlich die Welt in Ordnung. Das Lächeln der apokalyptischen Kassiererin wird erwidert vom Lächeln des apokalyptischen Kunden und beide sind sich so wohlgesonnen, das, was sie sich vom Leben des anderen vorstellen, nicht für bare Münze zu nehmen. Friedlich in den Feierabend driftend.

 

Birnbaum im Gegenlich des Vollmonds Sepiaton monochromBirnbaum vorm einsamen Gehöft in der Saarpfalz. Langzeitbelichtung bei Vollmond mit Gegenblitz, partiell weichgezeichnet.

Lochfraß

Dinge verschwinden. Zuerst die Fahrradhandschuhe. Glücklicherweise kann Monsieur Irgendlink sie durch wollene Handschuhe mit Norwegermuster ersetzen. Das Künstlerhirn grübelt, dass irgendwo in der Künstlerbude noch weitere Handschuhe liegen sollten. Derweil verschwindet ein Huhn. Man hat es vor vierzehn Tagen gesehen aus dem Pferch ausbrechen, sich seiner Freiheit erfreuend, im Wald verschwindend, nie wieder auftauchend. Noch nicht einmal Federn fand man. Das Huhn mutiert zu Schrödingers Huhn. Gleichzeitig lebt es und ist tot. Ein quantenphysisches Problem. Keiner weiß, was geschehen ist, so lange man keine Federn findet. In einer Schublade in der Kommode in der Künstlerbude taucht ein Handschuh auf, kein Fahrradhandschuh, ein uraltes Ding aus Islandwolle. Einer allein. Wo ist der andere? Derweil betätigt sich das Künstlerhirn mit PHP-Skripten und Homepages und registriert den Zerfall des Körpers, in dem es ruht: Tippfehler, bei denen mehr als drei Buchstaben in einem Wtro verdreht sind. Das gab es früher nicht. Der Name von dem Dingsda, den man einst besser kannte, will nicht sofort parat sein. Da stimmt doch was nicht. Lochfraß im Hirn. Die Handschuhe bleiben trotz intensiver Suche verschwunden. Alle zweieinhalb Paare, an die Monsieurs Hirn sich erinnert. Wieviele Paar Handschuhe befinden sich in Monsieurs Besitz, an die er sich nicht mehr erinnert?

Alljährlich muss die Wasserleitung zur Künstlerbude abgestellt werden, da sie nicht frostfrei verlegt wurde. Es gibt fünf Hähne an der hundert Meter langen Leitung, die geöffnet werden müssen. Im Atelier steht noch die große Mülltonne, die im letzten Winter als Auffang diente. Als Monsieur den Deckel hebt, sitzt da das verschwundene Huhn, fast zwei Wochen verschollen, hatte es sich durch den Klappdeckel selbst gefangen – da es lebt, erhält es den Namen Nehberg. Tse. Zwei Wochen in einer Mülltonne. Zwei Eier liegen darin, Kot und Urin, der sich mit dem wenigen Wasser gemischt hat, das noch vom Vorwinter in der Tonne stand.

Das Künstlerhirn verbringt mittlerweile viel Zeit damit, zu grübeln, wo die Fahrradhandschuhe sind: nicht in der Künstlerbude, denn die wurde bis zum letzten Winkel durchsucht. Auch nicht im Badezimmer. Das Atelier macht einen aufgeräumten Eindruck.  Die Bude zweimal links gemacht, bleiben die Handschuhe verschwunden.

Man darf dieses Hirn nicht zu sehr grübeln lassen. Wie ein Pelztier, das sich zum Überwintern anschickt, sitzt es verängstigt in seiner Höhle und beißt sich an solchen Belanglosigkeiten, wie Handschuhen fest oder Geldsorgen und es befeuert sich insgeheim mit defaitionistischem Brennmaterial, das zur Selbstaufgabe jeglicher Weiterbildung führt: wozu noch PHP-Scripte studieren, wenn der Lochfraß um sich greift und man die Dinge schneller vergisst, seine Handschuhe nicht mehr findet, den Namen von dem Dingsda nicht erinnert und die Bchustaben  vertauscht? Die Dinge schneller vergisst, als man sie sich einprägen kann. Das ist doch wie mit einem löchrigen Eimer Wasser zu schöpfen, du Kelly Bundy der feinen Künste, du. Du musst für jedes, was du dir merkst, etwas anderes aus dem Hirn löschen …

Der Mensch neigt dazu, Dinge in Einheiten zusammenzufassen. Ein Schrank voller Gegenstände ist ein Schrank, nicht etwa eine komprimierte Darstellung von Gegenständen. Ein Aktenordner voller Seiten ist nur ein Aktenordner und nicht die Ansammlung hunderter schriftlicher Dokumente.

Somit ist die Kiste voller Fahrradzubehör nur eine Kiste … die zudem unter einer anderen Kiste gelagert ist, in der sich Kunstwerke befinden.

Sowohl Huhn, als auch zwei von zweieinhalb Paar Fahrradhandschuhen sind wohlbehalten wieder aufgetaucht. Nach vierzehntägiger Grübelei.

Ein Gefühl von Lochfraß im Hirn bleibt, unangenehm reibend … früher waren Dinge voller anderer Dinge noch Dinge voller anderer Dinge. Aber mit zunehmendem Alter und dem Abbau von Hirnzellen werden die Dinge immer mehr zu Dingen, zu Allgemeinplätzen voller Geheimnisse … und wenn die Geheimnisse erst verschwunden sind, was bleibt dann noch?