Nachts um vier hellwach, runter zur Südterrasse, Mond starren. Es ist hell und kühl, nicht zu kalt; so stehe ich unterm Nussbaum und begutachte die Welt. Aus dem Traum habe ich den Gedanken ans nahe Ende mitgenommen. Leise schimmert die Stadt, kein Auto unterwegs auf der Landstraße, die sich zweihundert Meter weiter östlich zur Sickingerhöhe schlängelt. Wie oft ich schon hier stand, genau an dieser Stelle unterm Nussbaum, der sozusagen mit mir gemeinsam groß wurde. Wir sind krumme, verbogene Genossen, wir beiden, Weggefährten durch eine rapid dahin galoppierende, sich stetig voran ändernde Welt.
Im Traum hatte sich meine zu erwartende Restlebenszeit komprimiert auf die Zeitspanne, die passiert, wenn einer aus einem Traum aufwacht, dessen innerer Chronometer noch nicht den Tagrhythmus gefunden hat, und dessen Zeitempfinden somit bei vollem Bewusstsein im Traumzeitrhythmus tickt: sprich schnell, mit blitzartig dahin zuckenden Zehntelsekunden, in denen selbst Verschiedenstes harmoniert, mit nichtmessbaren Momenten, die sich an andere nichtmessbare Momente reihen und eine verrückte Sequenz aus Bildern, Geschmäcken, Tönen und Gerüchen vermischen zu einem dennoch schlüssigen Etwas, das man als Wirklichkeit annimmt. Alles passiert gleichzeitig und das ist gut so und es ist auch verstehbar – nur in diesen raren Minuten, die sich manchmal ereignen, wenn man erwacht, noch nicht richtig da ist im Bewussten, aber auch nicht mehr dort drüben im Unbewussten.
Zehn Jahre noch, dachte ich, zehn gute Jahre, Junge, also solche Jahre mit funktionierenden Beinen, Armen, Hirn und Innereien; zehn Zipperlein freie Jahre … vielleicht auch fünfzehn oder zwanzig … manche meiner Freunde sind auch mit achtzig noch topfit, aber hey, ich hab bisher noch keine Ausnahme erlebt, dass aus der Sache mit dem Leben einer lebend und von Zipperlein ungepeinigt herauskommt. Irgendwann hatte es bisher jeden erwischt. Ich bin mittlerweile in dem Alter, in dem auch die ersten Freundinnen und Freunde sterben oder siechen. Schlaftrunken sinniere ich unterm Nussbaum, den man einst versucht hatte auszurotten.
Ich weiß nicht, warum man nicht die Kettensäge benutzt hatte vor vierzig Jahren und ihn einfach abgeschnitten hat. Mitleid? Ein Versehen? Keine Kettensäge parat? Der Baum steht viel zu nahe beim Haus. Ein ziemlich verstümmeltes Etwas mit ineinander verschränkten Ästen, von denen man dem einen oder anderen ansieht, dass er einmal angebrochen war durch Menschenhand, dessen Bruch sich erholte, der Ast groß und stark wurde, aber mit Narben. Die Äste ragen schon übers Dach. Jeden Herbst, wenn die Nüsse fallen, gibt es ein atonal-rhythmisches Konzert von willkürlich prasselnden Nüssen auf Blech. Manchmal plumpst sogar ein Eichhörnchen aufs Dach, was eher dumpf klingt und gefolgt ist von bedröppelndem sich Aufraffen, dahin Tappsen übers Dach mit anschließendem Hechtsprung zum nächsten Zweig. Nüsse raffen, Nüsse raffen, Nüsse raffen und durchkommen durch den Winter. So das Leben eines Eichhörnchens und so auch meines.
Die Stadt liegt sanft im Tal. Bis vor zehn Jahren kam sie immer näher, wurden Baugebiete erschlossen, wurde die ehemalige Kaserne konvertiert, wurden die Truppen- und Lagergebäude abgerissen, das Areal in schicke kleine Parzellen eingeteilt, gerade groß genug für ein Einfamilienhäuschen und Carport. Die Enge kriecht geballt den Berg herauf. Neue Straßen entstanden, die allesamt den Namen US-amerikanischer Bundesstaaten tragen: California, Missouri, Oklahoma und wie sie alle heißen, bis hin zum finalen Straßenzweig, einer Sackgasse. Die Sackgasse ist das letzte Aufgebot der Landnahme. Ein Gewerbegebiet am Rande der Stadt, das nie bebaut wurde. Welch wunderbare finale Brache. Wie so ein toter Ast an einem alten Nussbaum, wie so ein fehlfunktionierendes Traumhirn, das ein paar Minuten mitten in der Nacht gelüftet wird und dem Denken freien Lauf lässt, ohne sich ins gewohnte Zeitkorsett zu zwängen.
Für gewöhnlich ist in der finalen Sackgasse freitagsabends immer etwas los. Dann trifft sich die motorisierte Jugend zum Quatschen, Kiffen, Trinken, Spaß haben. Vorglühen für das Wochenende in einem Etablissement am anderen Ende der Stadt oder in der nächstgrößeren Stadt oder noch weiter weg in einer riesigen anderen Stadt und sie kehren nachts zurück zum Hupen, Reifenjaulen, Rennenfahren auf den zweihundert Metern Sackgasse, in der nie ein Mensch sein Gewerbe ansiedeln möchte.
Am Rande der Stadt – also rein theoretisch, also wenn ich eine Stadt wäre – passieren dunkle Dinge jenseits der streng getakteten Zeitzone des Bewussten, wird mir klar. Unkontrollierbares lässt sich aus auf den wenigen hundert Metern Freiraum, die die Stadtväter und -mütter im Bauausschuss einst schufen, in der Hoffnung, ein Steurzahler, eine Steuerzahlerin kommt daher und lässt sich nieder.
Stille herrscht in dieser Nacht, absolute Stille. Ein Samstag. Bei Vollmond, leichtem Frost und jeder Menge Niemandszeit, die in keinem Buch der Geschichte auftaucht.
It’s a holiday by accident. Der Nieselregen manifestierte sich in der Morgendämmerung. Vehementes Hämmern aufs Zelt wie mit tausend kleinen Uhrmacherhämmerchen, die den halbkupfernen Deckel einer verbeulten, uralten Taschenuhr dengeln und wieder in Form bringen. Einer jener Tage zum nicht-Aufstehen, zum nicht aus dem Zelt gehen, zum zum-Buch-greifen, es aufschlagen, an einer Stelle weiter lesen. Donnerstag. Oder Mittwoch? Die Turmuhr schlägt. In der Gegend, in der ich mich befinde schlagen die Kirchturmuhren zur vollen Stunde immer zwei Mal: eins zwei drei vier fünf sechs und ein paar Minuten später noch einmal eins zwei drei vier fünf sechs, zähle ich. Drehe mich noch einmal um. Die Isomatte knartzt. Unheimlich bequemes Ding, das mir die Liebste mitgegeben hat auf die Reise. Zwei Wochen Urlaub, wird mir im Halbschlaf klar. Junge, du hast es tatsächlich durchgehalten, zwei Wochen lang das Blog nicht anzurühren oder in einem sozialen Medium über das Vorantreiben auf Reisen zu schreiben. Du hattest Urlaub. Sags laut: DU HATTEST URLAUB!
Das mag sich für die Lesenden dieses Blogs merkwürdig anfühlen. Der Typ ist doch immer auf Urlaub! Ich seh das doch. Ich les doch die Blogeinträge, wie er mal hier, mal da radelt oder wandert oder sonstwie tourt um irgend ein Land. Das Irgendlink-Blog ist eine Ausgeburt gelebten freien Lebens. Ohne Zeiteinteilung und Drangsale durch einen Chef oder eine Chefin. 24 Stunden, 7 Tage die Woche Reisegenuss pur. Ich seh das doch!
Gegen acht bin ich wieder wach, raffe die wenigen Lebensmittel in einen Beutel, stopfe den Schlafsack, zwänge mich in die Radelhose, verstaue alles in den Packtaschen. Zuletzt das nasse Zelt, nur notdürftig ausgeschüttelt. Tacho auf null stellen, GPS starten, Track aufzeichnen. Das sind die einzigen Handlungen, die ich aus dem „herkömmlichen“ Reisekunstbetrieb mitgenommen habe in den Urlaub. Track aufzeichnen stresst nicht besonders. Du drückst morgens einen Knopf am Handy und abends, wenn das Zelt aufgebaut ist wieder. Außerdem freut sich die geliebte Frau SoSo zu Hause stets, wenn ich ihr meine Tour sende. Sie kann dann auf der dünnen Linie an Hand der Zeitstempel ungefähr nachvollziehen, wie sich die geradelte Strecke wohl anfühlt. Bist du langsam, gehts berghoch, pausierst du, hängst du womöglich in der Hängematte zwischen zwei Bäumen und ruhst dich aus. Einmal war ich erstaunt, als Frau Soso mir vor ein paar Tagen aufgeregt sagte, boa ej, da hattest du bis vier Uhr erst vierzig Kilometer im Sack und bist dann doch noch auf insgesamt über hundert gekommen.
Ich erinnere mich an den Tag. Ich war so müde, schlief gegen halb eins bei einer Kanalschleuse am Rhein-Rhône-Kanal in der Hängematte ein. Es war warm, nein heiß, so heiß, dass selbst der starke Wind, der unter der Hängematte durchwehte mich nicht auskühlte. Zwischen dem eisernen Griff einer Leiter, die hinunter führte in die Schleuse und einer Laterne hatte ich die Matte aufgehängt. Blick auf den Radweg, der an diesem Tag gut bevölkert war. Zig Reiseradelnde, ein Radrennteam, Freizeitradler, Spaziergänger. Ein langsamer Mahlstrom glücksuchender, sich entspannender, irgendwohin wollender oder irgend eine Absicht hegender Menschen, die da an mir vorbei flanierte. Der Radweg als Bühne. Der eigene Kopf das Hinterstübchen einer geheimen Regiekammer, in der das Theaterstück dirigiert wird. Ich hatte den Impuls, die Klapptastatur auszupacken und etwas ins Blog zu notieren. Baumelte stattdessen, schlief, trank ab und zu einen Schluck, dachte etwas, vergaß es wieder, dachte etwas anderes und vergaß auch dies. Schon da spürte ich deutlich die heilsame Wirkung des Nichtstuns auf Reisen. Loslassen. Sich zu nichts zwingen. Das Daheim, die Sorgen, die man zurückließ sind weit weg. Die Zukunft: muss nicht geplant werden. Allenfalls plagt einen die Sorge, dass man vor Ladenschluss keinen Supermarkt mehr erreicht, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Doch selbst diese Sorge ist gering, wenn man verinnerlicht hat, dass es da draußen im freien Raum, der immer lieb zu dir ist, auch mal eine Nacht ohne Essen geht, ohne Anspruch auf normale Gewohnheiten. Noch so eine Erkenntnis. Das Korsett der Alltagsgewohnheiten, das einen beherrscht. Das unseren Lebenstakt bestimmt wie eine frisch gedengelte, halbkupferne, uralte Taschenuhr. Das Korsett, das mich beherrscht und in das ich im Laufe des halben Jahrhunderts Lebens in dieser meiner Gesellschaft so sehr hinein gewachsen bin, dass ich mir ein Leben ohne diesen ebenso schützenden wie zwängenden Lebensgewohnheitspanzer gar nicht vorstellen kann.
An dieser Stelle sollte ich den Mann erwähnen, der mir kurz vor meiner langen, frühnachmittaglichen Baumelpause auf dem Radweg am Rhein-Rhône-Kanal begegnete. Ein bisschen sah er aus wie ein zeitgeössischer Jesus. Total zerlumpt, ein A4 großes Filzbrett von Haaren rechts des Kopfs, Sandalen, unheimlich dreckige Fetzen am Leib und über der Schulter einen speckigen, dunkelgrünen Schlafsack. Von Weitem rief er mich auf französisch an, bonjour, bonjour, bonne journée. Ein Singsang mit zarter, flötender Stimme, so dass ich das Radel stoppte. Wenn man seine Ruhe haben will und sich surreales Gelaber ersparen möchte, sollte man in so einer Situation nicht anhalten. Wenn man helfen will und die Untertöne im bonjour, bonjour, bonnne journée wahrnimmt, dann schon.
Ich will nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Wir redeten eine viertel Stunde, vielleicht auch zwanzig Minuten. Die Geschichte ist ohnehin wirr. Vor mir steht ein angeblicher Däne, der sich, warum auch immer, in hannoveranischem Deutsch übt, englische und französische Fetzen einflicht in seine Sprache, aber sich wie ein waschechter Deutscher anhört. Auf meine Herkunft, Pfalz, fällt ihm Helmut Kohl ein, Doktor Helmut Kohl, den er sehr bewundere – egal, kann er ja machen – den habe er mal gehört in einem Vortrag über den Westfälschen Frieden. Doktor Helmut Kohl sei nämlich ein echter Doktor und habe zu dem Thema promoviert. Am Grad meiner Duldsamkeit schräger, nicht linearer Erzählungen gegenüber merkte ich, wie Tiefentspannt ich bin, wie sehr sich der waschechte Urlaub aus Versehen auf mein Gemüt auswirkte. Ich wollte nichts. Nicht nach Montbéliard kommen zu einem bestimmten Zeitpunkt, nicht auf einer Bank sitzen, nicht nicht-zuhören, nicht mich-nicht-einlassen. Während unseres „Gesprächs“ grüßte mein „Jesus“ alle Vorbeiradelnden mit bonjour, bonjour, bonne journée, hart an der Peinlichkeitsgrenze. Aber so ist das nunmal in dem „Beruf“ und das ist seine Masche, den Fluss des Reisenden zu brechen und im Kehrwasser eines Gesprächs eine Art Nähe aufzubauen, damit derjenige ihm ein paar Münzen gibt. Ich gab ihm alle Münzen, die ich im Beutel hatte und wenn ich kleine Scheine gehabt hätte, hätte ich ihm die gegeben. Nicht einmal aus Mitleid oder sonst einem Gefühl – Gefühl kommt immer erst im Nachhinein. Es war eine rationale Handlung. Ich meine: wir waren ja in diese Situation der Zwischenmenschlichkeit geraten und durchliefen diese paar Minuten auf dem Radweg ganz aufgeräumt wie einen Prozess. Der Regelschalter in meinem Inneren sagte mir nunmal, dem gibste was, so will es die gerade ablaufende Situation. Du hast einen vollen Bauch und ein paar Lebensmittel in der Packtasche, bist halbwegs gewaschen, fühlst dich wohl und dein Gegenüber, das sich zwar auch wohlfühlt, hat noch nicht Mal einen Sack dabei mit altem Brot oder was auch immer. Ich kramte eine Banane aus der Tasche und steckte sie dem Westfahlenjesus zu. Die Begegnung sollte mich noch tagelang beeindrucken und wer weiß, vielleicht war sie eines der Puzzlestücke, die dazu führten, dass ich das Alltagskorsett besser verstehe, in dem ich mich verortet sehe. Tage später sollte ich in einer mantrisch verregneten Bergauffahrt den Kapitalismus „besiegen“.
Frühmorgens. Neun Grad. Ich frage mich jeden Winter, wie lange das noch gut geht. Ich meine, man wird ja nicht jünger. Der Körper mit jedem Jahr empfindlicher. Die Zipperlein von Tag zu Tag zipperlicher. Ein verrenkter Knochen hier, etwas Merkwürdiges da und über allem breitet sich eine seltsame Müdigkeit aus.
Wenn Ihr mich fragt und einen Lebenstipp haben wollt, so orakele ich wie ich dies schon vor zehn Jahren tat:
Was du früher auf später verschiebst, wünscht du dir später, früher getan zu haben.
Zum Glück ist mir der Spruch früh genug eingefallen. Zwar verschob auch ich Dinge auf später, aber nicht nach dem ganz großen Lebensenthaltsamkeitsmotto, das manche sich vielleicht geben: Ich klotze ordentlich ran, mache Kohle, gehe mit 50 in Frührente und schippere über die Meere. Das ist eine Karrierebübchenrechnung, die man ohne die Vergänglichkeit des eigenen Körpers macht. In manchen Fällen klappt das. In manchen Fällen macht einem die Gesundheit ein Strich durch die Rechnung. Oder man verändert sich im Laufe des Karrieremachens so sehr, dass man gar nicht mehr aufhören kann damit oder es klappt einfach nicht mit der Karriere. Oder die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern sich, das Rentenalter und somit die Frühberentungsmöglichkeit wird verändert, der Generationenvertrag kümmert sich nicht um Einzelne. Im Ungünstigsten Fall gerät dein Land in einen Krieg. Dann ist vor dem 60sten Geburtstag ohnehin Wehrdienst angesagt. Tschüss Weltumsegelung.
Hmmm. Eigentlich wollte ich mit dem Beitrag ganz woanders hin. Hab das Hirn treiben lassen und sich an dem Früher-Später-Zitat festbeißen lassen.
Ich blogge wieder nächstes Jahr. Oder ich geb’s dran mit der Kunst und dem Schreiben. Momentan bin ich zwiegespalten. Die zehn Jahre als Freischaffender haben mich verändert.
Hab die Tasse zum Motto dieses Blogbeitrags mal bei Seedshirt eingestellt.
Ein Spaziergang im Wald am gestrigen, brilianten Sonntag. Wir sammeln Birkenrinde zum Feueranzünden. Daheim tauen die Grillwürste auf, die beim Wintercamping mit Freunden Ende Februar noch übrig geblieben sind. Offizielles Angrillen. Frau SoSo fragt, was ich mir bei einem Blogartikel, den ich kürzlich geschrieben habe, gedacht habe; wie ich auf diesen oder jenen Gedanken kam. Ich weiß nicht mehr, um welchen Artikel es ging. Ich antworte spontan, ich habe gar nichts gedacht. Ich denke nicht. Es denkt in mir und ich bin mir nicht sicher, ob es mich als Ich überhaupt gibt. Die Bezeichnung Ich für sich selbst ist doch nur ein Notbehelf für etwas, das man bezeichnen muss, das man aber nicht erklären kann. Das mag verrückt klingen. Durch jungkeimendes Grün stapfend, unter umgestürzten Fichten hindurch limboisierend, bin ich plötzlich ziemlich perplex und denke, der Ich heute ist ein Anderer als der Ich vor ein paar Jahren und als der vor zig Jahren und wieder ein Anderer als der Baby-Ich. Fast wie ein kleiner Freispruch, dass wir alle einmal als gute Menschen auf diesem Planeten begonnen haben und die Zeit formt uns zu dem, was wir in der jeweiligen Gegenwart sind.
Plötzlich vibriert das Telefon. Mein Freund, der Automechaniker J. ist dran, was sehr ungewöhnlich ist. Normalerweise rufe ich ihn an, weil ich irgendwelche Schrauberkniffeleien lösen muss, aber die letzten beiden Male, geht die Kontaktaufnahme komischer Weise andersrum. Vielleicht haben wir die Grenze von der Zweckgemeinschaft zur Freundschaft überschritten? Die Grenze zur Schweiz wird dicht gemacht, sagt er, habs gerade im Liveticker gesehen, du solltest das wissen, bist du in der Schweiz? Nein, die Schweiz ist bei mir. Frau SoSo wird hellhörig und hier, so im kraftstrotzenden Wald, der sich gerade wieder aufrappelt von den Winterstürmen, herrscht plötzlich in zwei komischen Ichs, die sich auf Füßen fortbewegen eine klamme Stimmung. Wie? Was heißt das, Grenze dicht? Keiner rein, keiner raus? Darf Frau SoSo noch in die Schweiz einreisen und falls ja, darf sie durch Frankreich fahren, oder muss sie den Grenzzipfel bis Karlsruhe umfahren, sich auf die mörderische A5 begeben, last Exit Basel …? Fragen über Fragen, die sich die massenhaft getöteten Bäume, die kreuz und quer liegen, sicher nie gestellt hätten.
Ein Baum-Ich, das wäre mal etwas. Leben und empfinden wie ein Baum. Ich stelle mir das sehr selbstzufrieden, vielleicht ein bisschen fatalistisch vor. Du kannst als Baum selbst in tausend Jahren deinen Standort nicht wechseln. Der 1111 Jahre alte Olivenbaum nahe der Pont du Gard kommt mir in den Sinn, den wir um Weihnachten schon zum zweiten Mal besucht haben. Von seiner Position am Nordufer des Gardon hat man einen schönen Blick auf das Römeraquädukt. Was dieser Kerl alles gesehen hätte, wenn er ein Mensch wäre? Das gesamte Mittelalter, die Renaissance könnte er berichten, vielleicht war sogar Goethe schon bei ihm? Er könnte über die dreckige Zeit der 1970er bis 2000er Jahre berichten, in der die schmale Departementsstraße noch über eine Straßenbrücke direkt neben dem Aquädukt befahren war, in der Scharen von Touristen ihre Autos wild am Straßenrand parkten in ausgefahrenen trockenen Buchten im Ocker zerriebenen Kalkkonglomerats. Wie oft man ihn wohl angepisst hat in den 1111 Jahren? Wieviele Familien unter seinen Zweigen ihre Picknickdecken ausbreiteten und Käse, Wein, Baguette picknickten? Ob er sich erinnert, dass wir auf den Tag genau fünf Jahre zuvor auch bei ihm waren? Da war er schon erlöst von der scheiß Departemenstsstraße. Seit etwa zwanzig Jahren ist das Bauwerk, das, so glaube ich, auch Welterbe ist, für den Publikumsverkehr neu geregelt. Die Straßenbrücke wurde um die Jahrtausendwende stillgelegt, ein Besucherzentrum mit angrenzendem Park errichtet. Man darfdas Gelände von Norden her nur noch mit Eintrittskarte betreten (von Süden kann man über die Wanderwege unkontrolliert zum Pont du Gard, zumindest außerhalb der Saison). Um diese Zeit muss auch jener erhabene Moment gewesen sein, als man ihm, dem Olivenbaum, einen Stein beiseite legte mit einer Metalltafel, auf der sein Alter eingarviert ist. Vielleicht waren Honoratioren anwesend und der Moment wurde gefeiert (von Menschen für Bäume, von Menschen für Menschen?) Ob es ihn juckt, den Methusalem? Ob er sich als Ich sieht?
Ich werde es nie erfahren.
Ich huste. Die Nase kitzelt. Der Hals kratzt. Hab ich den Virus? Schon seit Freitag geht das so. Ich hatte Freund Jounalist F. mal wieder beim Einkaufen geholfen. Als Dialysepatient ist er vier Mal die Woche außer Gefecht und obendrein nicht sehr mobil. Schon seit Oktober assistiere ich. Dieser Tage jedoch kommen mir Bedenken. Die Dialyse findet im größten Klinikum hier in der Gegend statt. Tausende Menschen arbeiten auf dem vielhektargroßen Gelände. Eine kleine Stadt am Rande der Stadt. Ich erinnere mich an die Zeiten der Vogelgrippe vor etwa zehn Jahren, als man an den Pforten zum Gelände Schilder aufstellte: Wenn sie aus Land A, B oder C kommen und Symptome haben, melden Sie sich da und da. Im Laufe der Zeit wurden die Schilder immer größer und zu Land A, B und C, gesellte sich Land D, E, F und so weiter. Ich fand das bemerkenswert.
Schilder waren gestern. Heute sind es Liveticker.
Freitagsmorgens auf dem Weg zu Journalist F. hatte ich mir überlegt, ich sollte vorsichtig sein. Ich streifte eine Schutzmaske über, aber schon beim Freund in der Wohnung war klar, dass das kaum hilft. Es schütze ohnehin eher die Umwelt als einen selbst und da ich davon ausging, dass das Virus wenn, dann von ihm, der er täglich sechs Stunden im verkeimten Klinikum ist und mit weit herumgekommenen Taxifahrern unterwegs ist, zu mir springt, denn umgekehrt, ließ ich das mit der Maske wieder sein. Spätestens als Journalist F. schwindelte, er sich nicht mehr am Rollator halten konnte, in seiner Wohnung drohte zu stürzen und ich ihn mit beiden Armen unter die Achselhöhlen fassen und stützen musste und wir uns sehr nahe dabei kamen, wurde mir klar, ich kann es auch sein lassen mit der Maske. Ich bin sowieso nicht kompetent genug, sie fachgerecht anzulegen.
Ich setze die Waschmaschine auf, derweil sich Journalist F. ein wenig ausruht. Wegen der Plümeranz wird dem Freund etwas bange und er sagt, richte mal vorsorglich die Krankenhaustasche, vielleicht fahren wir da hin.
Weiter im Standard-Programm der Assistenz. Ich machte den wöchentlichen Einkauf in einem proppenvollen Aldimarkt – seit Oktober habe ich den Markt noch nie so hektisch erlebt, denke ich mir. Eine Frau neben mir am Pfandautomaten macht ein kleines Wettrennen und wir schmunzeln vor uns hin, 4,75, sage ich, 6,50, sagt sie, 7,75 kontere ich. Sie füttert fast ausschließlich anderthalb Liter Flaschen, während ich kleine Energiedrinkdosen einfülle und somit schneller bin. Mit satten 11 Euro gewinne ich knapp. Wie in einem Spiel ohne Gewinner verlassen wir den Automaten. Es ist fast wie eine kleine Blutsbrüderschaft.
Einkaufsliste abarbeiten. Normalerweise bin immer ich der, der den vollsten Wagen hat, aber nun sehe ich zig Menschen, die sich unendlich viel einladen. Trotzdem gibt es alles, was Journalist F. auf der Liste hat. Sogar Erdbeeren. Die Stimmung im Laden ist angespannt. Alle drei Kassen sind besetzt.
Draußen vor dem Laden steht der Hühnerfred. An der wie eine Hölle auf Rädern wirkenden Grillbude stehen einige Menschen Schlange, lechzenden Mundes auf die sich ruhig drehenden Hähnchen starrend. Hühnerfred steckt mit beiden Armen bis zu den Ellenbogen im Fett knusperbrauner Hühnerhaut. Selbst ohne die Pandemie im Nacken könnte ich aus purem Ekel vor den feinen Härchen seiner Arme, die sich gewiss ins eine oder andere Hähnchen verirren, nichts davon kaufen. Die Menschen, die anstehen, es sind nicht wenige, scheint das überhaupt nicht zu kümmern. Hasardeure, denen der Speichel in den Mundwinkeln rinnt. Ich sehe nicht, wie sie das mit dem Geld regeln, aber irgendwie müssen sie den Fred doch bezahlen und er muss ihnen wechseln und die Höllenbude sieht nicht danach aus, als wäre dort ein Waschbecken, in dem man mal eben zwei Vaterunser lang seine Hände waschen könnte.
Zurück beim Journalisten bin ich erfreut, ihn wieder munter zu sehen. Es ist nicht neu, dass sein Kreislauf zusammenklappt, das sei gesagt, aber eben, die Virussache macht einen etwas hysterisch und dann erkennt man nicht mehr, was sich als normal eingestellt hat an Gefühlen und Befindlichkeiten, und was durch die Angst, die einen ob der Nachrichten ergreift, aufgepfropft ist.
Abends danach, also vergangenen Freitag, erster Schnupfen. Hirn sagt sofort, Alarm. Halskratzen, trockener Husten. Samstags früh alles wieder bestens, bis sich das Hirn wieder auf den Schienenstrang der Hysterisierung begibt und hie und da ein Zwicken feststellt. Gibt es psychosomatischen Schnupfen? Husten, all das? Ich besinne mich im Laufe des Wochenendes, messe sogar erstmals seit zwanzig Jahren Fieber, 36,6, fühle Puls, entferne zwei Holzstücke, die ich im Verdacht habe, dass sie vom Rußrindenpilz befallen sind aus dem Brennholzstapel – denn die Suche nach Alternativen zum Virus, die den Reizhusten ausgelöst haben könnten, hat längst begonnen. Ohnehin, wird mir jetzt erst einmal bewusst, wie oft ich solchen Husten habe. Ziemlich oft. Sogar beim Staubsaugen der Künstlerbude kriege ich Husten. Meine Lunge ist einfach nicht mehr das, was sie einmal war. Und sie ist auch nicht das, was ich von ihr denke, was sie nun ist.
Es ist ähnlich wie mit dem, was in mir denkt und diese Zeilen schreibt, von dem ich nicht weiß, wer oder was es ist und wie es funktioniert, das aber einfach da ist und eigentlich keine Begründung bräuchte. Ja ja, ich glaube, das lässt sich tatsächlich vergleichen mit dem was man fühlt und wenn man Schnupfen fühlt und Husten, dann ist das zwar Schnupfen und Husten, aber welche Ursache sie haben, das verschließt sich einem, wenn man nicht in der Lage ist, einen Labortest zu machen.
So sitze ich denn hier am Montagmorgen vor der eigentlich hätte beginnen sollenden Radelreise nach Andorra und weiß nur eins, ich habe leichte Erkältungssymptome wie eigentlich öfter mal, die mich überhaupt nicht einschränken und weit davon entfernt sind, sich wie eine alles ausknockende Grippe anzufühlen. Ich ḱönnte sofort aufs Radel steigen, tja … die Grenzen sind dicht. Ich kann die Reise nicht beginnen. Wie zum Hohn baut sich das erste große Frühlingshoch über dem Land auf, aber es gibt Schlimmeres als nicht reisen zu können, denke ich mir. Andorra mit seinem einen Virusfall läuft mir nicht weg.
Freund Journalist F. dürfte aufatmen und froh sein, dass ich weiterhin assistieren kann. Obschon ich mich ganz und gar nicht danach reiße, das einsame Gehöft zu verlassen.
Pandemisch gesehen ist nämlich ein einsames Gehöft der perfekte Ort, um Zeit verstreichen zu lassen.
Ich musste abschalten. Mehr oder weniger und so gut es denn geht. Die informations- und desinformationsgeflutete Welt macht dem Gemüt arg zu schaffen. Fernsehen habe ich schon seit zehn Jahren nicht mehr. Radio auch nicht. Die Augen vorm Internet zu verschließen ist für einen, der darin und damit arbeitet leider nicht so einfach. Meide die Sozialen Medien, überlies die Nachrichten so gut es geht, konzentriere dich auf deine kleinen feinen Themen. Lullifulliethemen, Randgebiete dessen was gelesen werden will, was gewusst werden kann – wenn ich es mir genau betrachte stehe ich un(scharf)informiert einem gewaltigen Zwitschern von Meinungen, Informationen und scheinbar Wissbarem gegenüber, aber als kleiner Mensch habe ich nicht die Möglichkeit so weit in die Tiefe zu schürfen und zu überprüfen, ob Meldungen richtig oder falsch sind, ob sie diesen oder jenen Zweck erfüllen, ob man in diese oder jene Richtung beigebogen wird, mitzumeinen im großen Meinungskanon.
Man könnte sagen, ich habe vergessen, dass ich nichts weiß. Und ich beiße mich an all dem Wissbaren fest, das wie lecker Nahrung breitwürfig informativ in den Medien ausgebracht wird. Im Prinzip wie einkaufen und ins Supermarktregal greifen und diese oder jene Marke dieser oder jener Preisklasse herausfischen. Neben dem hochwertigsten, unter idealsten Bedingungen produzierten Bioprodukt lauert billigst gepanschtes Zeug, das es irgendwie durch die Kontrollen vorbei an den Normen geschafft hat und man kann es kaufen, man kann es essen und es schadet einem womöglich nicht. Das Perfide bei Information wie auch bei Lebensmitteln ist, man kann niemandem trauen und doch muss man vertrauen. Sonst würde man verrückt oder verhungern. Okay, bei Lebensmitteln hat man noch einen Ausweg: Man produziert sie selbst, wenn man denn ein Stückchen Garten hat. Aber auch da kommen möglicherweise giftige Unwägbarkeiten ins Spiel: Versprüht der Nachbar krebserregende Pestizide auf dem Feld, die keinen Halt machen vor Grundstücksgrenzen? Wer hat das Saatgut, das man nutzt, unter welchen Bedingungen hergestellt? Wie ist die Luft- und Wasserqualität rings um meinem Garten? Und so weiter.
Doch zurück zur Information und zur großen Quoten- und Klickschlacht in den Medien. Wem kann ich vertrauen? Welche Nachricht ist echt und gut recherchiert und welche ist nur ein billig produziertes Konsumgut? Hier gibt es zum Glück Medien, die halbwegs seriös sind. Manchmal namhafte große Medienhäuser, aber auch und vielleicht sogar insbesondere die weniger namhaften, noch nicht institutionalisierten Graswurzelmedien, einzelne Fachbloggerinnen und -blogger, die sich mit dem jeweils beackerten Thema auskennen, Menschen, die informieren wollen um des Informierens willen – das ist etwa so schwierig wie eine Putzhilfe zu finden, die putzt, um zu putzen. Die Komponente Geld und Rentabilität in inniger Paarung mit menschlichem Egoismus, Narzissmus und Gier spielt sicher eine große Rolle bei der Produktion von … ja von was? … von eigentlich so gut wie Allem. Wenn ich mein Geld mit Fleisch verdiene, schaue ich, dass ich das Fleisch so wirtschaftlich wie möglich produziere; auf engstem Raum mit billigstem Futter, aufs Schnellste gemästet. Wenn ich das Geld mit einem Campingplatz verdiene, bin ich als gewiefter Giermensch natürlich darauf aus, so viele Zelte wie möglich auf dem kleinen Areal unterzubringen. Egal wie sich das für die Campierenden anfühlt. Idealer Weise liegt der Campingplatz bei einer unausweichlichen Sehenswürdigkeit, einer Stadt, die jeder besuchen möchte (Kiel zum Beispiel). Bin ich Nachrichtenproduzent, dann achte ich auf Reizworte und gebe den Informationen, die ich mir so billig wie möglich einkaufe klangvolle Namen, die den Nerv meines Klientels treffen, Nachrichten, die süchtig machen. Es ist mir egal, wie gut oder schlecht der Artikel relotiert ist, Hauptsache, er verkauft sich. Bin ich schwedischer Möbelproduzent, so schaue ich im Laufe der Jahrzehnte, dass ich die für mich scheißteuren Bilderrahmen aus Echtholz mit poliertem Glas durch genau gleich aussehenden Dreck aus gepresstem, furniertem Sägemehl ersetze. Bin ich Industrieller, so sehe ich Arbeitskraft als Kostenfaktor und kaufe sie dort, wo sie möglichst billig ist. Habe ich meine Drecksgriffel im Rohstoffegeschäft, ist es mir ein großes Anliegen die Umweltkosten so gering wie möglich zu halten, meine Rohstoffe in Ländern mit korrupten bestechlichen Behörden einzukaufen.
Uns so weiter und so fort.
Wo hatte ich begonnen? Ach ja. Beim Dichtmachen. Beim nicht mehr Medien konsumieren. Was nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit gänzlich wegschauen. Natürlich weiß ich, was vorgeht in der Welt und wie übel unsere Karten sind. Ähm nein, wissen ist falsch! Hab ich doch glatt verdrängt, dass ich nichts weiß. Aber ich bin auf der Spur. Ich habe eine ungefähre Ahnung. Mein Bild ist unscharf. Ein ungefähres Etwas von Realität, das erst dann, wenn es ganz nah ist an Schärfe und Wucht gewinnt.