Der innere Bisquitkuchen der Seele

Begleiten Sie mich auf einen Spaziergang durch das einsame Gehöft, in dessen hintersten Winkel über dem Hühnerstall unter einem löchrigen, Moos bewachsenen Dach sich meine spartanisch eingerichtete Künstlerbude befindet. Schlagen Sie die Bettdecke auf in der Morgendämmerung, steigen Sie mit mir die Leiter hinab aus dem Hochbett und vier Stufen wieder hinauf in die schäbige Küche, wo sich seit gestern Abend frisch gespültes Geschirr neben der Spüle stapelt bis auf Brusthöhe. Zapfen wir uns gemeinsam ein paar Deziliter Wasser und erhitzen es in einem uralten Wasserkocher, dessen Wackelkontakt wahlweise dafür sorgt, dass das Wasser nur lauwarm wird oder dass es kocht und kocht und kocht, während wir die Bude verlassen, der Katze die Ateliertür öffnen, damit sie fressen kann, durchs Atelier scharwenzeln. Vorbei am Bierkasten, stellen  wir die leeren Flaschen des Abends hinein, rammen die klemmende Stahltür am anderen Ende des Raums auf und laufen auf der Nordseite zwischen der Halle mit den Wohnwagen und dem Lagerschuppen vorbei zum Hühnerstall. Die zehn Hennen kriegen je 35 Gramm Körner und 70 Gramm Legemehl. Dafür hatte ich einmal zwei alte Blechdosen abgewogen und markiert – damals waren es noch vierzehn Hühner und ein Hahn. Es ist also wichtig, die Becher nur zu zehn Fünfzehntel zu füllen.

Der Hühnerstall ist eigentlich ein ehemaliger Schweinestall, an dessen Mittelgang rechts und links noch die alten Tröge flankieren. Es ist immer ein Balanceakt – im wahrsten Wortsinn, mit den beiden Bechern durch die hungrigen Tiere zu balancieren, den halben Meter hinauf auf die Trogkante und auf der anderen Seite wieder hinab bis zu den Hühnernäpfen, die eigentlich keine Näpfe sind, sondern aus Brettern zusammengenagelte längliche – ja, ich würde sagen, ebenfalls Tröge. Zwei Stück. Daneben stehen zwei alte Kochtöpfe, in denen Wasser ist. Vergessen Sie nicht, nachzuschauen, ob noch genug drin ist, sonst müssen die Viecher dursten. Auf dem Rückweg schauen wir in der dunkelsten Ecke des Stalls in den Nestern direkt neben den Schlafstangen, ob schon Eier darin sind. Meist sitzt noch ein Huhn in einem der Nester, seien wir behutsam.

Langsam fährt das Hirn hoch. Also meines. Ich weiß nicht, wie es sich mit Ihrem Hirn verhält. Aber meines ist frühmorgens immer so wunderbar unschuldig, noch umlullt von Träumen – hoffentlich guten Träumen – mein Hirn ist dann in einem friedlichen Zustand und voll und ganz integer. Es denkt noch kaum, nimmt wahr, lässt den Körper automatisch funktionieren, lässt ihm wie einem kleinen, süßen, pelzigen Tier die nötige Ruhe, in Unschuld zu erwachen und sich an dem großen, friedlichen Nichts zu nähren, das die Grundlage für ein ruhiges, unbesorgtes Sein ist. Ein Nichts wie ein Bisquitkuchen, kurz bevor er mit Marmelade beschmiert wird und gerollt wird. Eine schier unendliche Weite feinsten, duftenden Bisquits, auf der schlicht alles möglich ist, alles möglich sein könnte, solange man nicht darüber nachdenkt, was möglich ist und was man gegebenenfalls in der Zeitspanne jetzt bis irgendwann erreichen könnte. Der innere Bisquitkuchen der Seele gilt so lange als unendlich unschuldig, bis man anfängt, ihn mit Marmelade zu beschmieren und ihn zusammen zu rollen. Mit diesen beiden Akten wird er festgeschrieben zu dem was er ist und er erhält seine Bestimmung, die er vorher nicht hatte und mit seiner Bestimmung verliert er alle anderen Bestimmungen, die er hätte haben können. Er entsteht. Entstehen macht Vergehen erst möglich.

Doch zurück zu den Hühnernestern. Ein Ei. Nicht schlecht. Ohne das weiße Huhn anzuschauen, das im Nest daneben sitzt, nähern wir uns langsam und greifen nach dem Ei und schon geht das Gegacker und Gezeter los. Hühner dulden keine Nähe. Die Henne flattert ab. Staub stiept. Ein weiteres Ei kommt zum Vorschein, wir schnappen es. Es ist noch huhnwarm.

Vielleicht ist das der Moment, an dem es beginnt, an dem das Hirn, also meins – kommen Sie mal mit rein und schauen sie sich um, versuchen Sie gemeinsam mit mir herauszufinden, ob das der Moment ist, an dem mein Hirn in seltsamen Denkschleifen damit beginnt, Systeme aufzubauen, die nicht nur das Denken, sondern auch das Handeln betreffen. Das Hirn denkt, das Heu in den Nestern könnte mal wieder erneuert werden. Das impliziert unweigerlich, dass Hände das alte Heu herausnehmen müssen und neues Heu hinein füllen. Kein Thema. Ganz einfache Sache. Doch wohin mit dem alten Heu und woher das neue Heu? Wir lassen die Nester erst einmal wie sie sind und nehmen die Eier. Im Vorraum des Hühnerstalls steht ein Korb mit frischem Heu. Das alte Heu muss in die entgegengesetzte Richtung zur Südseite des einsamen Gehöfts auf den Komposthaufen. Hierzu müsste man die Südtüre des Stalls öffnen, die Gehegetüre öffnen, zum Komposthaufen neben dem Quittenbaum gehen und das Heu dort hinschütten. Um es überhaupt schütten zu können, müssen wir es vorher in einen Korb füllen, den wir zunächst finden müssen und zu den Nestern bringen müssen. Okay, wir könnten auch einen Schubkarren finden und die Nester insgesamt darauf packen und sie am Komposthaufen … ein Schublarren steht bestimmt bei den Körben irgendwo in der großen Halle des einsamen Gehöfts, wo sich allerlei Gerätschaft, Rasenmäher, Traktoren und Schweißgeräte befinden. Wir lassen das erst einmal bleiben mit dem Nester neu mit Heu bestücken, kommen Sie mit.

Unser Kaffeewasser kocht bestimmt schon. Auf der Nordseite kommen wir am alten Traktor vorbei. Ein schöner, grüner Deutz, der leider kein Tüv mehr hat. Die Motorhaube steht offen. Ein Batterieladegerät hängt an. Da es nach über 24 Stunden noch immer nicht grün leuchtet, können wir davon ausgehen, dass die Batterie kaputt ist. Eigentlich ist die ganze Elektrik im Arsch. Das Hirn gibt schon seit Monaten Anweisungen, dass der Körper sich wie auch immer einmal um den Traktor kümmert. Immer, wenn wir an dem Traktor vorbei kommen, setzt eine Art Mahnreflex ein, der dem Gehirn ja auch nicht gut tut. Wertvolle Rechenzeit geht dabei drauf, wenn man wieder und wieder etwas anmahnen muss, statt es einfach zu erledigen. Doch so einfach ist das nicht mit dem Traktor. Im Prinzip ist es wie mit dem erneuern der Nester. Ein Rattenschwanz an Dingen hängt an der einzelnen Tat, Traktor reparieren. Viele Türen müssen geöffnet werden.

Ein elektrischer Defekt, der wie ein Hühnernest funktioniert. Dafür muss man viel nachdenken und davor scheut man sich. Also besser die Denkenergie ins Mahnen stecken. Das sind immer nur ein paar Sekunden, wenn der Traktor ins Sichtfeld kommt. Um ihn zu reparieren muss man Stunden am Stück nachdenken und obendrein auch noch handeln. Fehler finden, Bauteile bestellen, Schrauben lösen … schnell weg, das vergessen wir besser. Vielleicht den Schubkarren oder einen Korb? Ach ne, das Kaffeewasser erst einmal. Katze frisst. Ateliertür einen Spalt offen lassen, damit sie anschließend raus kann.

Wir schaffen es bis in die Wohnung. Eier in den Kühlschrank. Endlich ein Kaffee. Irgendwie haben wir es geschafft, ohne Größeres zu schaffen, Katze und Hühner zu füttern, zwei Eier zu retten und Kaffee zu kochen und sitzen nun in den beiden Sesseln in der Künstlerbude unterm löchrigen Dach mit dem vielen Moos darauf. Mhmmm Kaffee. Blick zum Fenster. Könnte geputzt werden. Blick zum Dach. Müsste erneuert werden. Gut, dass es nicht regnet und apropos, der Winter naht und man müsste die Regenrinne so umbauen, dass das Wasser nicht mehr in die Regenfässer fließt, sondern über ein fünf Meter langes Rohr direkt in den Garten geleitet wird. Außerdem müsste das Wasser abgelassen werden aus den Fässern und, seit Jahren denken wir darüber nach, alle Fässer einmal gründlich zu reinigen und die komplizierte Schlauchkonstruktion, mit der sie verbunden sind zu erneuern. Sind Sie noch bei mir? Gell, es ist ganz schön verwirrend, in so einem fremden Hirn zu stöbern?!

Der Kaffee tut gut. Unser Blick fällt auf die drei Poster dreier Reisen, die nebeneinander über dem Bürotisch hängen. Der Bürotisch ist genial vor Regen geschützt. Falls es denn mal wieder so stark regnet, dass es durchs marode Künstlerbudendach tröpfelt, denn überm Bürotisch ist auch ein Teil Hochbett. Das Wasser würde also zuerst ins Bett und dann auf den Computer und die Poster. Das Bett rettet die Kunst. Der Preis ist doch vertretbar, oder sollen wir das Dach reparieren?

Schon seit Sommer sollte eigentlich ein viertes Poster an der Wand hängen, das halb fertig designt im Computer gaukelt. Sieht ziemlich gut aus, aber ich bin noch nicht ganz zufrieden. Sie wären auch nicht ganz zufrieden, wenn Sie ich wären, vermute ich. Irgendwas müssen wir daran noch ändern, kommen Sie, wir schalten mal den Computer ein und klemmen uns hinter die Sache. Derweil gackern die Hühner im Stall unter uns. Wieder ein Ei im schmutzigen Nest. Während das Betriebssystem lädt, könnten wir doch die Körbe, damit wir die Nester, aber dann müssten wir am Traktor vorbei, der ja kaputt, ach herrjeh, was nicht alles kaputt ist, steht nicht irgendwo bei den Schubkarren und Körben auch das Schweißgerät, mit dem wir das Blechteil des großen Balkenmähers schweißen könnten, damit entweder Sie oder ich später, wenn wir mit der Computerarbeit fertig sind, das hohe Gras unter den Quittenbäumen mähen könnten …

Das System ist geladen. Was wollten wir? Erst einmal Mails checken und bis das Mailprogramm geladen ist, den Browser öffnen und da er nicht richtig beendet wurde am gestrigen Abend – waren Sie das, der den Computer einfach so ausgeschaltet hat, oder ich – öffnen sich alle Fenster vom Abend, Twitter gucken, Facebook. Achgott und da ist noch die Bestellung beim Elektronikladen, die wir noch nicht weggeschickt haben, weil wir erst einmal das Bankkonto anschauen müssen in einem anderen Browserfenster.

Die Mails sind da. Jemand will was zu einem bestimmten Zeitpunkt und da fällt uns siedend heiß ein, dass wir eine Sache verbummelt haben und deshalb einen Umweg machen mussten und warten mussten bis Bedingung A und B erfüllt sind, damit wir uns an C aktiv ranmachen können und dem, der per Mail etwas will, endlich zur Seite stehen können. Alles kein großer Akt, aber so filigran zerzieselt wie ein Fraktal. In Twitter gibt es diverse interessante Nachrichten, kommen Sie, wir lesen erst einmal diesen verlinkten Zeitungsartikel über die Regierungsbildung in Bayern. Diese Freien Wähler sind Ihnen doch auch suspekt, oder? So eine Art CSU, nur anders, ach, lassen wir das, der Artikel ist hinter einer Bezahlschranke. So ärgerlich. Sollen wir uns beschweren bei dem Twitterer, dass er solche Artikel überhaupt verlinkt?

Die Bestellung kann raus, auf dem Bankkonto ist genug Geld.

Wir schauen mal im Ordner mit dem Poster, was wir noch ändern können … Obschon, das Hirn ist mittlerweile derart durcheinander, dass es zu kreativen Dingen überhaupt nicht mehr fähig ist. Blitze zucken. Was für ein Donnerwetter. Alles, was wir jetzt anpacken und was Feingefühl benötigt, wird zur groben Masse – wenn es ein Bisquitkuchen wäre, würden wir einen hässlichen, übel schmeckenden Kuchen zusammenrollen, der keinerlei Gehalt hat und sogleich in seine Einzelteile zerbröseln würde.

Irgendwo ist noch ein Browserfenster offen mit einem Blogartikel, den wir begonnen haben lange bevor alles aus dem Ruder lief hier bei unserem Spaziergang durch mein Leben, durchs einsame Gehöft, vorbei an all den Dauerbaustellen. Ein kleines Wunder von Blogartikel. DIESER hier. Ein Glück, dass alles, worüber in diesem Blogartikel berichtet wird noch nicht geschehen ist. Ich finde, wir sollten ihn publizieren. Was meinen Sie?

Und dann setzen wir uns einen Kaffee auf, füttern die Katze und die Hühner und machen einen Spaziergang durchs einsame Gehöft.

Wir müssen Pflanzen kaufen – Anthologie Du fehlst im Verlag Q5

Vielleicht würdest du springen.
Direkt vom Bahnhof, wo mich die Nachricht erreichte, besuchte ich dich im Krankenhaus. Fünfter Stock. Tür zum Balkon unverschlossen. Ich lüftete das Zimmer. Dein Bett am Fenster, das andere unbelegt. Schwach warst du. Du hattest die Sterbehaltung eingenommen: wie ein Embryo auf der Seite liegend. Wie dein Bruder vor anderthalb Jahren. Der Arzt sagte, es sei unheilbar, man müsse sich bereit machen. Der schmutzige Balkon war teils von Schnee bedeckt. Die Lichter der Stadt kämpften mit dem Nebel. Vielleicht würdest du dich auf den Balkon setzen, um zu erfrieren? Erfrieren soll kein schlimmer Tod sein, habe ich einmal gelesen. Wenn man eine gewisse Schwelle überschritten hat, fühlt sich der Körper warm an. Man schläft ein.

Weiterlesen?

Am 20. Juli erschien das Buch DU FEHLST, für welches ich obige Geschichte geschrieben habe. Eine von fünfzig Geschichten, die aus 730 Beiträgen für das Buch DU FEHLST ausgewählt wurde.

60% des Erlöses gehen an Hospize und helfen so Menschen dabei, Leben, Abschied und Sterben so würdig wie möglich zu gestalten.

Buchcover in zartem Blau und weiß mit dem Buchtitel 'Du fehlst'. Das Titelbild zeigt eine Blüte, dieim oberen Bereich schwarz-weiß ist und im unteren Bereich farbig in den Tönen blau, gelb und elfenbein.
Anthologie mit 50 Geschichten von Leben und Tod. Darunter die Kurzgeschichte „Wir müssen Pflanzen kaufen“ von Jürgen Rinck

Einen Blick ins Buch gibt es auf der Verlagsseite > q5-verlag.de
Kaufen kann man die Anthologie in allen Buchhandlungen (oder per Mail bei mir bestellen (siehe Mail-Link unten)).

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Das Buch eignet sich gut als Geschenk für Menschen, die einen lieben Menschen verloren haben.

Dass neben meinem eigenen Text auch einer von Sofasophia mit im Buch ist, freut mich ganz besonders und obwohl ich die anderen Autorinnen und Autoren nicht kenne, stehe ich voll und ganz hinter diesem Buch.

Ich hoffe, dass es viele Menschen lesen, teilen, verschenken und sich bewusster und intensiver mit unser aller Vergänglichkeit auseinandersetzen.

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In eigener Sache:
Wer das Buch gerne über mich beziehen möchte, damit ich (und/oder Sofasophia) eine Widmung hineinschreiben kann, darf mir gerne eine Mail schreiben.

(Die Preise sind die gleichen wie im Buchhandel: € 19.99/ca. 24 Fr. zuzüglich Versandkosten.)

Bayern auf Radwegen | #UmsLand

Nachdem ich 2017 und 2018 zwei UmsLand-Projekte durchgeführt habe, habe ich in den letzten Wochen das (wahrscheinlich) nächste Projekt – auf Radwegen rund um Bayern – geplant. Die Blog-Serie UmsLand, die auch unter dem Hashtag #UmsLand in Textfragmenten auf Twitter gezeigt wird, hat das Ziel, ein Land oder eine Region möglichst grenznah und möglichst auf Radwegen zu erkunden und darüber zu berichten.

Wie ticken die Menschen in dem Land, wie ist das Land aufgebaut, welche Regionen gibt es, wie schön ist es dort, fühlt es sich gut an, macht es Spaß, schmeckt es, gibt es Probleme  – das sind nur einige Fragen, denen ich unterwegs denkend und radelnd und schreibend nachgehe. Am Ende einer Runde, so meine Hoffnung, habe ich mir die jeweilige Gegend mit viel Schweiß und Abenteuer erradelt und schließe sie in mein Herz. Und weiß mehr über Land und Leute.

Bayern wird das dritte Land, das ich auf diese Weise portraitiere. Begonnen habe ich im Frühling 2017 mit Rheinland-Pfalz, das mit der großartigen Rheinland-Pfalz-Radroute einen fertigen fast durchweg gut beschilderten Rundkurs auf 1040 Kilometern geschaffen hat.

Das war bei Bayern leider nicht der Fall, weshalb ich meine eigene Strecke auf Basis des ziemlich gut im Netz aufgestellten Bayern-Radwegenetzes zusammengestellt habe. Vom Bayrischen Innenministerium gibt es auch eine Gratiskarte aus Papier, die ich bestellt habe. Mann, war das ein Schock, als eine Woche später ein Brief des Innenministeriums im Kasten war und ich mich nicht mehr erinnerte. Sofort fragte ich mich, was ich wohl ausgefressen habe. Aber es war zum Glück nur die Radlerkarte, die alle Radwege, die man auch als GPX Dateien auf der Seite findet, enthält.

Meine Route startet in Lindau. Sie ist über 2000 Kilometer lang. Ich rechne mit 30 Tourtagen. Hier habe ich die Karte skizziert. Neben dem offiziellen Mittelpunkt sind in meiner Karte die Etappen in Reiseschriftsteller tauglichen 70 Kilometer Abständen als orangene Punkte markiert. Die Extrempunkte der Strecke, Ost, West, Süd und Nord sind blau. Grün markiere ich Sonderziele, die ich eventuell besuche (um Freunde zu treffen). Das Titelbild zeigt übrigens nicht den Umriss Bayerns, sondern die Radwegestrecke. Täuschend ähnlich, nicht wahr?

Bei der Planung habe ich schon einiges über Bayern gelernt. Dass es sieben Verwaltungsbezirke gibt und dass die Pfalz, die einmal teil des Königreichs Bayern war, ähnlich strukturiert ist. Ich weiß nun endlich, wo Oberbayern liegt und wo Niederbayern, weiß von Franken, dass es in Mittel-, Nieder- und Oberfranken gegliedert ist und dann gibt es noch Schwaben und die Oberpfalz (nicht zu verwechseln mit der ‚echten‘ Pfalz in Rheinland-Pfalz). Den Mittelpunkt des Landes habe ich auch gefunden (lila Punkt auf meiner Karte).

Wann die Tour stattfindet? Vielleicht schon bald, vielleicht erst nächstes Jahr. Auf dem heimischen Hof gibt es erntebedingt viel zu tun und ab Oktober wird es auf den Höhen des ersten Abschnitts auf dem Bodensee-Königssee-Radweg sicher schon recht ungemütlich.

Aber vielleicht sitze ich ja schon übernächste Woche im Sattel, wenn ich einen Erntebuddy finde, der die vielen Äpfel im Obstgarten aufliest und sie zu Saft pressen lässt.

Wie auch immer. Neben der Arbeit an vergangenen Projekten und der Hofarbeit schufte ich dieser Tage auch an zukünftigen Projekten wie diesem.

Vergangene Ums Land Projekte

  • Rheinland-Pfalz-Radroute, zwei Wochen im Frühling 2017, 1040 Kilometer. Hier nachzulesen.
  • Paminablog, neun Tage in der künstlichen Tourismusregion PAMINA, die Pfalz, Nordvogesen und Baden umfasst, im Frühling 2018.

Geplant in der Umsland-Serie

  • Bayern 2200 km
  • Saarland 350 km
  • Schleswig-Holstein
  • Münsterland
  • Schweiz 1200 km

Vom Wert der Zwiebel

Randgedanken. Nichts als Randgedanken zwischen zwei Reisen. So kommt es mir manchmal vor im Künstlermorgenblütenreiseleben. Wann hat es eigentlich angefangen, dieses Blog zu vernachlässigen und all die feinen Gedanken, die all-täglich immerdar in einem garen, zu vergessen? War es Twitter Ende 2014 – immerhin fließt seither vieles an Ideen in den 280-Zeichen-Nachrichtendienst.
Das Irgendlink-Blog ist zu einem reinen Reise-Kunstblog geschrumpft, so dass man als Außenstehender, als Außenstehende vielleicht den Eindruck hat, da ist nichts mehr, da ist nur noch das ‚Geschäft‘. Ich glaube es sogar selbst. Fast komme ich mir vor, als existiere ich zwischen den Reisen gar nicht und die Vermutung macht sich breit, dass mein Hirn durch meine Beine angetrieben wird, steampunkig, mechanisch, mit viel Pomp und Dampf und Pleuelstangen und Chrom und Messingglanz, wie in den glorreichen Mechanisierungszeiten des Neunzehnten Jahrhunderts.
So sehe ich mich, der kurbelnde Junge im Wind, die Welt auf dem Fahrrad erkundend und über Menschen schreibend.
Aber es gibt ja noch so viel Alltag dazwischen. Unterwegs bin ich doch höchstens drei vier Wochen im Jahr, vielleicht auch mal länger, aber der Rest des Jahres ist knallharter ganz normaler Alltag, der auf einem einsamen Gehöft stattfindet, selbst versorgend, Garten schuftend, Dinge reparierend, Probleme lösend. Manchmal auch was Digitales. Kürzlich habe ich mein Dasein einmal als eine Art Hausmeistertätigkeit bezeichnet. Sowohl physisch, als auch digital. Die Leute kommen mit kaputten Dingen und Problemen zu mir und ich repariere und löse sie.
Kürzlich habe ich auch einmal gesagt, wenn ich ein Ding repariere, gehen zwei kaputt. Das ist so auf einsamen Gehöften, die in die Jahre gekommen sind und auf denen viele alte Dinge lagern, die schon seit Jahren die Obsoleszenzgrenze überschritten haben. Es lagern hier vor Ort auch noch viele Dinge, die so alt sind, dass man noch keine Vergänglichkeit eingebaut hatte. Dinge, die man noch reparieren kann.
Und so komme ich auch zum Kern und zum Anlass dieses Aufsatzes: die Gangschaltung an einem 30 Jahre alten Fahrrad versus die Gangschaltung an einem neun Jahre alten Fahrrad. Wie ich so auf dem uralten Fahrrad aus dem Jahr 1985 sitze und für mich hin kurbele, letztes Wochenende, muss ich nämlich feststellen, dass die Schaltung auf dem Sechsfach-Ritzel schnurrt wie ein feingeölter Nähmaschinenmotor, wohingegen mir die Neunfach-Schaltung an meinem ’neuen‘ Fahrrad aus dem Jahr 2009 derzeit etwas Probleme bereitet, trotz dass ich sie runderneuert habe. Sie ist so präzise und verzeiht so wenig Fehler, dass sie sich nicht mehr einstellen lässt, wenn das Schaltauge oder die Mechanik auch nur einen Millimeter aus dem Lot sind.
Vernünftige Menschen werden sagen, das Fahrrad ist neun Jahre alt, schmeiß weg. Kauf Dir ein neues. In der Tat liebäugelte ich im Fahrradladen vor der Neuauslage tatsächlich mit einem neuen Radel. Etwas für drei- bis sechshundert Euro. Mit Licht und Schutzblechen und Scheibenbremse und Nabendynamo. Was wohl billiger ist: alle zwei Jahre ein drecksbilliges neues Fahrrad kaufen, oder das bestehende Rad zu reparieren? Die Reparatur kostet mit Reifen, Bremsen, Kette und Ritzeln und Arbeitszeit wohl an die 250 Euro. Vielleicht sogar mehr.
Ich will nicht sagen, dass technischer Fortschritt nicht gut ist und keine Verbesserung bringt. Dennoch habe ich das Gefühl, dass man sich mit jeder Neuerung, jeder mutmaßlichen Verbesserung, an welchem Produkt auch immer, auch etwas unsichtbares, unheimliches, ungutes ins Haus holt. Jede vermeintliche Verbesserung schleicht ein Gift in die Produkteigenschaften, zementiert eine neue Fuge in der Mauer der Abhängigkeit, mit der der Produkthersteller Dich nach und nach in einem Verlies einkerkert. Mit jeder neuen raffinierten Verbesserung besteht auch die Gefahr, dass man seine Selbständigkeit verliert, die Möglichkeit, die Maschine zu durchblicken und sie mit herkömmlichen Werkzeugen selbst zu reparieren. Für die Schaltungen der neuen Fahrräder gibt es zum Beispiel Lehren, mit denen man genau prüfen kann, ob sie verbogen sind. Man sieht es nicht mit bloßem Auge und die hochgezüchtete Technik gewährt null Toleranz. Immer mehr habe ich das Gefühl, die Welt funktioniert nach dem Apple-Prinzip und im Hintergrund der Entwicklungsabteilungen sitzen sadistische Entwicklungsingenieure, die sich für die Produkte fiese Fallen ausdenken, mit denen man sie so schwer reparierbar wie möglich macht und die Produktlebenszeit so präzise wie möglich steuert.
Längst geht es nicht mehr darum, ein gutes Produkt zu erzeugen, sondern es geht darum, den Konzern so genau wie möglich zu berechnen, um die Gewinne zu maximieren. Die Produkte der Konzerne sind eigentlich nur kollateral. Ein Konzern könnte prima ohne Produkte auskommen, wenn es je gelänge so etwas zu erfinden. Ein perfektes, feinjustiertes betriebswirtschaftliches Konstrukt, das aus sich selbst existiert – ha – was für eine Vorstellung.
Vom Wert der Zwiebel wollte ich übrigens auch einmal schreiben, hier so, zwischen den Reisen. Davon, dass es sich nicht lohnt, selbst Zwiebeln anzubauen, weil sie so unendlich billig sind. Jede Sekunde, die man investieren würde, selbst Zwiebeln zu pflanzen, ist vergeudete Lebenszeit. Rein betriebswirtschaftlich gesehen. Gehe lieber arbeiten und verdiene dein Geld mit etwas anderem, aber baue keine Zwiebeln an.
Und irgendwann stehst Du dann da und weißt nicht mehr, wie man Zwiebeln pflanzt, mehr noch, Du wirst vergessen haben, dass man sie überhaupt pflanzen kann, dass sie wachsen können und dann bist Du der perfekte Abhängige.
Die Zwiebel ist natürlich nur ein Platzhalter.

Per Rad über den Schwarzwald – Himmelreich-Schluchsee-Waldshut | #palsui

Rein rechnerisch müsste man den Aufstieg zum Titisee und Schluchsee ab Freiburg oder dem nahen Kirchzarten bequem per Radel bewältigen können. Wenn der Radweg Grüne Straße auf einer alten Bahnlinie verläuft und etwa vier fünf Prozent Steigung hat und der Titi- und der Schluchsee etwa acht neunhundert Meter hoch liegen und noch so einige Idealbedingungen. In der Tat sieht der Radweg am stürzenden Flüsschen aus wie eine Bahntrasse mit seinen typischen Bahnkilometersteinen. Das steinige Flussbett (vermutlich die Dreisam), das ich vorgestern Abend passierte, war gespickt mit badenden Menschen, kleinen Amüsiergrüppchen, Sonnenhungrigen, Abhängern und vielen einzelnen dösend Lesenden. Graffitys an den Brücken, Steinmännchen in den Stromschnellen. Da ein einzelner, verwaister Stuhl vom Sperrmüll mitten im Flussbett. Dort eine Schaukel an einer Brücke befestigt.

Ab Himmelreich, wo ich zwischen Bahnlinie und Bundesstraße bei einem Bauernhof zeltete – und erstaunlich gut schlief – ist jedoch schluss mit Lullifulli-Bahntrassensimulat. Noch einige Kilometer folgt der Radweg der Bundesstraße. Die gestern schon sehr früh wieder an Fahrt aufnimmt, lärmt, stinkt, lärmt und nervt, so dass die AnwohnerInnen riesige Schilder am Straßenrand aufgestellt haben mit der Aufschrift Tunnel jetzt und Schluss mit Lärm und Gestank.

Jenseits von Höllental frühstücke ich auf einer Wiese, lade das iPhone an der Solarzelle. Spartanisch mit trockenen, tagealten Brötchen, gesotten in Butter. Viel habe ich nicht mehr und zu kaufen gab es nichts seit dem Nachtlager. Frühestens Hinterzarten. Doch das ist fünfzehn Kilometer entfernt und der Radweg Grüne Straße wendet sich ab Höllental – gottlob – ab von der Bundesstraße, deren Lärm mich ganz aggressiv macht. Im Tausch gegen Ruhe wird die Strecke aber steil, vielleicht acht Prozent, vielleicht mehr. Im ersten Gang schwitzend, kaum Schrittgeschwindigkeit. Irgendwann treffe ich einen Fernwanderer aus Heilbronn, steige ab, schiebe neben ihm her und wir verstricken uns in ein mäandrierendes Gespräch um das Woher und Wohin und das Reisen, den Schwarzwald und den ganzen Rest. Der Mann ist unterwegs nach Meran und hat schon knapp zwanzig Kilometer in den Beinen seit dem Morgen – wie macht er das – immer wieder bleiben wir stehen, verschnaufen, reden und es pendelt sich ein guter Rhythmus ein. Früher war er Haumeister, also professioneller Holzfäller. Im Prinzip erhalte ich einen Crashkurs über Sicherheit beim Baumfällen, nicht zuletzt, weil mein Mitwanderer auch einige Geschichten zum Besten gibt, die sehr böse hätten enden können. Einmal, bei den schlimmen Stürmen Ende der 1990er hatte es ihn sechs Meter durch die Luft gewirbelt und er blieb kopfüber zwischen Ästen hängen, so dass ihn eine Kranmannschaft mit einem Seil, das sie ihm um die Füße banden herausziehen musste. Die noch jaulende Kettensäge war bei der Nummer an seinem Helm vorbeigeschrappt und es war ein Wunder, dass er unbeschadet davon kam. Schlimmer hatte es einen Mitarbeiter getroffen, dem ein unter Spannung stehender Baum die Kettensäge aus den Händen riss und das laufende Ding seine beiden Hände bis auf ein paar Sehnen abtrennte. Nur weil die Mannschaft beherzt reagierte, die Fetzen mit Ästen schienten, die Unterarme abbanden und ihn ohne auf einen Rettungswagen zu warten, quasi wider das Gesetz, per Forstjeep ins Krankenhaus brachten, konnte er gerettet werden. Drei Monate später arbeitete er wieder im Forst.

Der Exkurs in die Holzfällerei war erhellend und ich beschloss, meine eigenen Holzfällerambitionen – trotz guter Sachkenntnis, die ich habe – neu zu bewerten. Bäume unter Spannung sind unkalkulierbare Wesen.

Mein Mitwanderer gab mir obendrein noch einen Kräuter-Crashkurs: Spitzwegerich in die Socken gegen Blasen, Breitwegerich für die Gelenke, Katzenminze für entzündete Augen, alles am Wegesrand zum Anfassen und ausprobieren. Brennesseln zerrieben für die Durchblutung der Hände – ungemein wichtig für Radler. Die Spitzen der männlichen Fichte, die etwas dunkler ist, als die weibliche, gegen Halsweh und dieses verflixte Kreuzkraut, dessen Blüten denen des Johanniskrauts ähneln bloß nicht mit nackten Händen anfassen, ist verdammt giftig, eine Plage, die sich besonders an Straßen durch den steten Strom des Verkehrswindes ausbreitet.

So wanderten wir etwa sechs Kilometer bergauf, sehr gemütlich und nach knapp drei Stunden trennten sich unsere Wege just auf der Kuppe, ab der der Radweg Grüne Straße wieder abwärts führt nach Hinterzarten und zum Titisee. Noch im idyllischen Wald kurz vor dem Schwarzwaldsee war meine Stimmung bestens und ich scherzte in einem Tweet, „Herr Hallervoorden, ich werde einen See nach Ihnen umbenennen (spreche Titisee mit breitem fränkischen Akzent), darauf eine Flasche Pommes Frites“.

Ab Titisee ist der verkehrsarme Spaß jedoch vorbei. Der Radweg führt direkt neben der Straße hinauf zum Schluchsee und so sehr man auch die Ruhe bewahrt, die Aggressivität der Autofahrenden überträgt sich. In Bärental-Feldberg, wo eine Bundesstraße kreuzt, nimmt ein beispielloses Gemetzel seinen Lauf, als ein Tourist einen Fahrfehler begeht, jemand bremsen muss, jemand anderes auch, die Kreuzung plötzlich blockiert ist und sich ein Konzert aus Hasshupen über ihn ergießt. Vielleicht trifft mich, der ich über hundert Meter entfernt bin, der Hass und der Lärm gar mehr, als das arme, tapsige Fahrfehleropfer. Jedenfalls ist die Radlerlaune im Keller. Im Prinzip habe ich eine Art Krieg erlebt, bloß, dass sie nicht aufeinander geschossen haben. Oder ein Gemetzel in einem Hühnerstall, bei dem sämtliche Hennen auf der schwächsten herumhacken und man kann sich dem Schauspiel nicht entziehen.

Schnapsmuseum in Bärental. Ich hasse Schnaps. Ich hasse Museen, ich hasse Autofahrer in diesem Moment, Hupen und LKW-Fahrer hasse ich, hasse den Lidlmarkt vor meiner Nase, den Fastfood, die Verkehrskreuzung, die Hitze, die Sonne, das Universum, mich, mein Rad. Es muss etwas geschehen. Bloß ist es nicht einfach, aus dieser Überladung von Aggression wieder rauszukommen. Vielleicht wenn ich eine Hupe hätte oder einen Schnabel und Krallen oder eine Planierraupe. Zu allem Überfluss verirre ich mich noch am Bahnhof Altglashütten. Weg von der Straße. Stille. Schattige Bank. Rumliegen. Zack, Ruhe. Dann weiter zum Schluchsee. Der sich als Stausee entpuppt. Ich wusste das. Habe mich nur nicht erinnert. Zufällig liegt die Route, die ich nehme direkt bei der Staumauer. Also nicht wie befürchtet noch ein paar Kilometer aufwärts, sondern – nach einem allesreinigenden Seebad – direkt runter ins Schwarzatal, das bis fast nach Waldshut-Tiengen auf einem Betonweg erschlossen ist. Den Betonweg verdankt es wahrscheinlich dem Kraftwerk Häusern und dem Stausee unten im Tal. Jedenfalls rolle ich die etwa 20 Kilometer stets bergab. Kein Auto, keine Radler, nichts. Selbstreinigender Schwarzwald, der die gepeinigte Seele in Frieden entlässt ins Rheintal, wo einen die Hitze mit Wucht trifft. Die Luft ist schwer und feucht, ganz im Gegensatz zu den lauen Schluchsee-Lull-Lüftchen.

Mit Frau SoSo verabrede ich mich vorm Bahnhof Koblenz – nicht die Stadt in Rheinland-Pfalz, auch die Schweiz hat ein Koblenz. Nur wenige Kilometer wären es noch bis zu ihr. Aber die Route an der Aare hinauf nach Brugg kenne ich zur Genüge und es ist so verlockend, das Fahrrad ins Auto zu verfrachten und einfach heimzufahren.

Bei der Hitze.

Die kurze Auszeit – unter dem Hashtag #PalSui auf Twitter zu finden – tat mir gut. Es klappt noch mit dem Radeln und Schreiben und ich liebäugele mit einem größeren Radreise-Schreib-Kunstprojekt noch in diesem Jahr. Entweder die schon seit zwei Jahren geplante Tour auf dem Atlantik-Radweg in Frankreich, oder ein weiteres UmsLand Projekt etwa 2000 Kilometer rund um Bayern.

Ich bedanke mich fürs virtuelle Mitradeln.