Herrjeh, was für ein Gedankensammelsurium drischt da gerade auf mich ein!
Zurück aus dem Metalabor in den hessischen Wudang-Bergen (Espenschied, West-Taunus), schlage ich die Nachrichten auf (im PC Nachrichten guckend) und lese von den Pandora-Papers. Knapp zwölf Millionen Dokumente, die geleakt wurden an ein Journalistisches Netzwerk. Die Papers sind ein Machwerk, das von Korruption erzählt, von den Verbrechen sich bereichernder Mächtiger, von Geldgierern, die die Gesellschaften dieser Erde ausbluten. Zusammengefasst in einem 15 Minuten-Clip auf ARD.
Wo stehe ich in diesen großen Mechanismen? Ich blute Geld, nicht viel, aber die Masse derer, die auch nicht viel bluten machts.
Ich bin mit so vielen kleinen feinen Menschen vernetzt, die einfach nur ihr Leben leben und Steuern zahlen und darauf hoffen, dass sie sinnvoll und zum Wohle aller verwendet werden. Wir sind machtlos. Tröpfchen um Tröpfchen träufelt Dollar um Dollar, Euro um Euro in die Kassen der sich bereichernden und wir können vermutlich nichts dagegen tun.
Natürlich verträgt eine solide Gesellschaft diesen Schwund. Schön ist das trotzdem nicht.
Ein Netzwerk der Machtlosen muss her, denke ich. Bloß wie erlangen diese Machtlosen die Kraft, um sich dem entgegen zu stemmen? Wie können wir es schaffen, die Löcher in unseren Steuerzahlerinnenseckeln zu stopfen? Wie kann man es abstellen, korrupten, geldgierigen Etwasen, die die Gemeinschaft schwächen, ihre feinen Häuschen in London, Kalifornien, Neuseeland und sonst überall zu finanzieren? Gar nicht?
Gar nicht! Ich bin pessimistisch, gebe ich zu. Oder realistisch? Ist halt so. Deckel drauf, Kröte schlucken, weiter malochen, während die Straßen vor der Haustür zerfallen, Kindergärten nicht finanziert werden, woanders verhungert wird und die Milliönchen nach hie und da fließen, nur nicht dahin, wo sie dem ganz normalen Menschen tatsächlich etwas nutzen.
Netzwerk. Fang mit Deinen Nächsten an, denke ich, sammele doch einfach mal Deine eigenen Kontakte, sage ich mir. All die feinen Menschen. Mach Dir ein Bild.
Mal Dir eine Karte Deiner Menschen, die Dich begleiten, die Du kennst, die sich ebenso wie Du Gedanken machen, zeichne Dein bestehendes Netzwerk!
Was nicht einfach wird, denn Internet sei Dank ist man ja heutzutage über die Ganze Welt vernetzt und man kennt nur die Einen oder Anderen persönlich, weiß um ihre Rechtschaffenheit, weiß, dass sie nicht so sind wie die Ausbluter. Weiß, dass sie von „denen“ betrogen werden. Weiß von ihren tollen Projekten, die sie mit viel Lebensenergie voranbringen.
So habe ich plötzlich einen Rattenschwanz an Menschen im Sinn, mit denen ich es mehr oder weniger persönlich zu tun habe und denke darüber nach, den einen oder anderen mit dem anderen oder einen in Kontakt zu bringen. Nicht, dass ich selbstherrlich zur Zentralfigur meines kleinen, selbst erdachten Univerums werde. Mein Netzwerk, das ja tatsächlich so existiert, wie ich es mir in Gedanken vorstelle, kann sich gegenseitig weiter bringen. Oft sind es ja nur wenige Impulse, die dem einen ahnlungslos Suchenden, sein Leben lebenden fehlen. Und die er dem anderen ahnungslos Suchenden geben könnte, um zu einer Art wechselseitigem Aha zu kommen.
Konkret denke ich darüber nach, eine Mindmap zu erstellen mit allen Leuten, die ich so kenne und von denen ich weiß, der und der macht das, die und die macht jenes.
Das Programm VYM – View Your Mind, kommt mir in den Sinn. Das könnte funktionieren. Man kann mit dem Werkzeug so etwas ähnliches wie Landkarten malen. Punkte verbinden. Jeder Mensch wäre ein Punkt. Es gibt Verknüpfungen. Das wäre für meinen Personenkreis ziemlich überschaubar. Eine Reihe von Menschen, die ich persönlich kenne, meist Kunstleute oder solche, die mit Kunst viel zu tun haben, aber auch jede Menge virtuelle Bekanntschaften, von denen ich mir im Laufe des gemeinsamen, sich immer wieder Begegnens im Netz ein Bild gemacht habe. Viele wissen gar nicht, dass ich sie „auf dem Schirm“ habe und ich weiß auch nicht, wieviele mich „auf dem Schirm haben“.
Das Unbekannte ist bekanntlich um ein vielfaches größer als das Bekannte und damit muss man im tiefen Vertrauen auf gemeinsames Sein auch leben. Das gibt Kraft. Ich weiß nicht, wer mich als Webexistenz wahrnimmt, aber ich weiß, dass das so ist. Menschen nehmen immer andere Menschen wahr und machen sich ein grobes Bild. Das Bild muss nicht mit der tatsächlichen Person, die irgendwo auf dem Planeten tatsächlich lebt, übereinstimmen. Es reicht, wenn ich mir ein Bild von Dir mache. Das hilft mir, Dich als Freund oder Feind einzuordnen, als sympathisch oder nicht sympathisch. Und Dir hilft es, wenn Du Dir vorstellst, wie ich womöglich bin.
Obschon ich ja anders bin. Ich bin sogar für mich selbst, das Bild, das ich mir von mir mache, oft völlig anders und ich überrasche mich manchmal, so zu sein und nicht so. Das kann verstörend sein.
Was bleibt vom selbst geschusterten Ich und von den geschusterten Anderen, ist nur ein grober Rahmen. Viele, vor allem virtuelle Bekanntschaften haben ein Platz in meinem Universum, auf meiner noch zu zeichnenden VYM-Landkarte der Freunde und Wegbegleiter, ohne dass sie es ahnen. Ich bin nicht sehr kommunikativ und schreibe jeden Menschen direkt an, über den ich nachdenke und von dem ich mir einen Rahmen ervorstellt habe. Einen zum Beispiel hatte ich gebookmarkt als jemanden, mit dem ich per Auto zum Nordkap fahren könnte. Mit jemand anders stelle ich mir vor, ein IT-Projekt zu realisieren. Mit dem und dem würde ich wohin radeln, jenen einfach mal treffen und ein bisschen Quatsch machen.
Allen gemeinsam ist, dass ich sie nicht vereinnahmen will, dass ich nicht mit ihnen Handel treiben will, an ihnen profitieren. Gleichzeitig bin ich – oder wäre ich bereit, zu geben was ich eben geben kann. Knowhow. Ideen. Geld. Je nach Bedarf.
Auf meiner heutigen Radtour, die mich zurück führte aus Espenschied runter zum Rhein und dann dessen Nebenflüssen Nahe und Alsenz folgend, begegnete ich etwa einem Mann, der sich an einem Picknickplatz nahe Trechtingshausen ausruhte. Er hatte ein Gefährt neben sich, voll bepackt. Ein Radreisender? Ich war neugierig und nachdem ich schon hundert Meter an ihm vorbei geradelt war, kehrte ich um, grüßte und wir schwätzten ein bisschen. Er hatte gar kein Fahrrad, sondern nur einen voll bepackten Anhänger, auf dem sich offensichtlich all sein Hab und Gut befand. Ein Obdachloser.
Zwei Gefühle beim näheren Betrachten: Ohje, hoffenlich verwickelt der mich nicht zu lange in ein Gespräch (ha, dabei war doch ich es, der den Anfang machte) und: wie kommen wir zusammen? Wie arrangieren wir uns als zwei Wildfremde, die einander begegnen auf dem Weg, den sie zufällig zur gleichen Zeit gemeinsam gehen.
Das Gespräch lief sachlich nach dem typischen Reisendenbegegnungsmuster: woher kommst du, wohin gehst du, garniert mit Tipps fürs weiterreisen in die jeweilige Richtung. Dass er kein Rad brauche, weil er langsam sein kann, sagte mein Begegneter und dass er den Hänger schiebe. Am hinteren Ende des Hängers hing ein Teddybär. Das machte mich sentimental. Eine Mischung zwischen ach wie süß und herrjeh, wie verloren, wie Kind wir doch alle sind, hineingeworfen in unsere Leben und es irgendwie rumbringend. Mein Begegneter machte keinerlei Anstalten, aufdringlich Geschichten zu erzählen, an mir kleben zu bleiben. Eher hatte ich den Eindruck, dass er befürchtete, oh Mann, hoffentlich bleibt der Typ nicht an mir kleben.
Während des Schwätzchens dachte ich ständig darüber nach, hey, der Mann hat offensichtlich keine Bleibe und der hat auch bestimmt kein Einkommen, ein bisschen Geld könnte ich ihm schenken. Den Fünf Euro-Schein im Geldbeutel zum Beispiel, aber das Gespräch ließ es irgendwie nicht zu, über den Fluss von Geld und Materie nachzudenken, es zu thematisieren und so radelte ich schließlich weiter.
Die nächsten Kilometer waren hart und ich dachte darüber nach, umzukehren und ihm den Fünfer zu schenken, kam mir gleichzeitig doof vor, wollte ihn nicht düpieren, ihn gar kränken. Was weiß denn ich, zwei Fremde, die einander streiften an diesem heiligen 3. Oktober. Deutschlandflaggen zerrten im Wind auf Campingplätzen und in Vorgärten und weiter weiter weiter strampelte ich. Viele begegneten mir, Radlerinnen, Joggerinnen und erst gegen Bingen hatte ich meinen eigenen Point of no Return erreicht, an dem ich mit mir selbst Frieden schloss und mir sagte, kehr nicht um. Es gibt auch die Anderen. Die können ihm auch etwas geben und herrjeh, vielleicht, nein, wahrscheinlich war es dem Mann ohnehin egal, ob ihm jemand etwas gibt oder nicht. Wahrscheinlich würde er sich freuen, wenn ja. Und wenn nein, ist es auch gut. Vermutlich hätte er gefragt, wenn er etwas benötigt hätte. Das Leben eines Fremden umzukrempeln, dem man flüchtig begegnet, ist ohnehin zwecklos. Es sind nur Impulse, die wir hinterlassen in den Leben der anderen. Gutso.
Eine typisch irgendlinksche Gedankenkette erzähle ich ich hier. In der Stille geschieht es. Niemand sieht es. Und man vergisst es auch wieder und es herrscht dann Friede. Ich weiß nicht, ob es jemandem da draußen so ähnlich geht. Ich weiß auch nicht, was in dem Mann mit dem Schiebeanhänger vor sich ging. Was er über die Begegnung dachte.
Manchmal möchte man zurückgehen. Nicht, um das zu tun, was man denkt, man hätte es tun können (im Fall fünf Euro zu verschenken), sondern, um zu sehen, was der andere denkt, empfindet, womit er hadert.
Doch zurück zu den Papers, den Gesellschaftsausblutern und Nichtsnutzen, die nur sich selbst im Sinn haben. Archetyp despotisch egoistischer Mensch.
Was kann man ihnen entgegen setzen? Das Netzwerk der Machtlosen? Oder, um klein anzufangen, die wenigen Menschen dieser Erde, von denen man ein Bild hat und die man für die Guten hält?
Ich werde meine Landkarte dieser Menschen, die mich umgeben tatsächlich in VYM skizzieren. Sie wird gar nicht mal so klein. Gut möglich, dass auch Du, der Du dies liest darauf bist. Ohne es zu wissen. Wie auch ich nicht weiß, ob ich auf Deiner Landkarte verzeichnet bin. Ich vermute aber ja :-).
Man müsste diese Landkarten verknüpfen. Viele müssten beginnen, für sich selbst solch eine Karte zu erstellen. Hast Du mal darüber nachgedacht, wie Dein Menschenuniversum aussieht? Mir wurde erst heute bewusst, dass es sich um ein Universum handeln könnte.
2015 hatte ich ein ähnliches Projekt ganz anders realisiert. Gut 150 Postkarten verschickte ich an alle Menschen, die ich kenne und die mir etwas bedeuten im iDogma-Postkarten-Projekt #AnsKap. Gute Freunde erhielten eine Karte, wohlgesonnene Verwandte. Menschen, an die ich plötzlich dachte, als ich durch Schweden zum Nordkap radelte, wildfremde virtuelle Bekanntschaften, die die Reise verfolgten, Unterstützerinnen und Unterstützer, die das von Spenden finanzierte Reisekunstprojekt mitfinanzierten.
Manche von ihnen sind schon tot.