Dieser Tage – Verbuddeln des seit Jahren Unverbuddelbaren

Dieser Tage. Also Anfang März, das sei für die Akten gesagt, falls Zukunft A eintritt. Dieser Tage fiel die Entscheidung für eine Radreise mit Open End und Open Ziel. Grob ist die Richtung, nordwärts, angedacht. Grob ist der 17. Juni als Starttag angedacht. Nein, ziemlich exakt.

Der 17. Juni ist ein besonerer Tag für den Radareisenden in mir. Er ist die Wiege meiner Radtouren- Leidenschaft. Die ersten Radreisen von der Nordpfalz zum Bodensee, gemeinsam mit meinem Vater und Freunden, starteten wir meist in der 17.-Juni-Woche, also um jenen ehemaligen Feiertag der BRD, der sich Tag der Deutschen Einheit nannte.

Der 17. Juni ist eigentlich zu spät, um mein – grob – geliebäugeltes Ziel zu erreichen, den Polarkreis bei Mitternachtssonne zu überqueren. Aber egal. Ich habe in den letzten Monaten geübt, suboptimale Lebens- und Arbeits- und Vorankommensbedingungen zu durchstehen. Ein Springen über den inneren Schatten des Perfektionismus, der mich mein Leben lang schon ausbremst. Und wenn es nicht der 9. Mai werden kann, die Tour ohne Ziel und mit offenem Ende nordwärts zu starten, so bin ich auch mit dem 17. Juni zufrieden und ich bin sogar damit zufrieden, einfach daheim zu bleiben. Denn ich habe genug erlebt. Alle Ziele sind erreicht. Es gibt eigentlich nichts mehr zu tun für mich als das Leben so gut es geht zu genießen. Und Neugier. Aber ohne Gestaltungswillen.

Das Ende des Gestaltungswillens ist auch ein Neuanfang, in eine Laissez-faire Phase einzutreten und sich von der Gegenwart überraschen zu lassen. Ja, vielleicht ist so das echte, tiefe, unillusorische, nicht von anderen Zeitmodi verstellte Erlebnis von Gegenwart erst möglich? Ich weiß es nicht.

Ich glaube, ich bin seltsam in einem Zustand guten Vorankommens. Selbst wenn ich auf der Stelle trete und mich an Kleinigkeiten aufhalte, treffe ich Entscheidungen oder lasse sie einfach fallen und handele danach, mache dabei Abstriche an mein Selbst an meine im Lauf der Zeit angewöhnten Ansprüche, an die So-sollte-es-seins. Das ist gar nicht mal so übel. Im Tausch Schluderei-und-weiter gegen stehen-bleiben und grübeln, wie ich dieses oder jenes Problem am einfachsten löse, komme ich unversehens voran. Es fühlt sich gut an, längst liegen Gebliebenes einfach zu erledigen.

Letzte Woche war sicher ein Meilenstein. Seit Jahren steht ein Wassertank im Hof der Frau Mama, den wir schon immer mal eingraben wollten. Also eigentlich sollte ich das tun. Ein 6,5 Kubikmeter großes schwarzes Monster. Die Modalitäten, wie es begraben wird, sind schon seit Anbeginn klar: Bagger mieten Loch graben, Monster rein, zuschaufeln. Aber mach das mal, wenn du es noch nie gemacht hast und nur eine vage Idee hast, wie es geht. In Gedanken habe ich das Ding schon hundert mal vergraben.

Dieser Tage zog eine wandernde Baustelle am Hof der Mama vorbei. Fünf Männer verlegten Glasfaser mit zwei Baggern, Rüttler, kleinen LKWs. Brachiale Kerle, die ordentlich ranklotzen. Also frag ich mich samstags zum Polier durch, ob sie nicht Kapazität hätten, mal eben schnell ein Loch …? Zack. Nachmittags nach der Schicht rücken sie an, und verbuddeln das Ding.

Das Verbuddeln der großen scharzen Monsters, des seit Jahren Unverbuddelbaren bringt eine Art Lawine ins rollen. Von Fleiß und Ehrgeiz gepackt nehme ich weitere kosmetische Operationen am einsamen Gehöft vor, und auch in der Künstlerei bin ich fleißig. Schneide einen Kunstfilm, räume Datenspeicher auf, rette den PC der Liebsten und und und. Ich kann gar nicht glauben, wie flott das alles geht. Fast gerate ich in einen Schaffensrausch. So müssen sich Bluthunde fühlen, wenn sie das Eisen im Saft riechen. Runter zum Waldrand, zwei im Winter bereit gelegte Eichenstämme hochschleppen, Brennholz, Brennholz, Brennholz immer wieder.

Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen. Wichtig ist, dass vieles geschieht auf engstem Raum und in engster Zeit und auf einer zweiten Schicht meines Daseins gaukelt auch wieder die Reisekunstlust. Ja ja. Anfang März wurde der Grundstein gelegt, so vermerke ich es hiermit als Aktennotiz. Der Sommer wird zeigen, ob ich tatsächlich aufbreche.

Vermutlich bin ich gerade in einem quantenphysischen Wechselzustand, in dem mehrere Zustände gleichzeitig stattfinden, bis sich einer am Ende durchsetzt?

Wichtig ist, einfach drauflos, merke ich.

Das gilt auch für diesen Artikel, den ich nicht beabsichtigte zu schreiben, der mir eigentlich zu grob und unreif scheint, aber im Nachhinein muss ich sagen, klar wird der veröffentlicht! Wichtig ist doch auch, für die eigene Dokumentation zu arbeiten. Falls einem doch einmal etwas Bahnbrechendes gelingt, man plötzlich gefragt wäre auf dem Markt, sind die Chronistinnen und Chronisten froh, auch solche Tagebucheinträge zu finden?

Ich hab nichts zu verlieren. Das Blog ist frei. Niemand muss es lesen und nur einer, nämlich ich, muss es schreiben.

Dir, der Du bis hierher last, sei gedankt.

 

Das Skagen des desolaten Gemütszustands | Von Morgenangst und Abendmut

Die Träume sind wild dieser Tage. Ich glaube, irgendwann trete ich die endgültige Flucht ins eigene Ich an und komme nie wieder raus. Ich bleibe im Traum. Das Leben im Traum ist jedoch selten leicht. Oft erwache ich mit einem unheimlichen Schwerlastdruck, einem Kratzen an kryptonisch harter unüberwindbarer Mauer mit einem Schuss Gewissheit, dass das große Ganze da draußen eine Allmachtsposition angenommen hat. Ich nenne es die Morgenangst. Im Traum selbst ist die Angst zwar auch real, aber es gibt im Traum keine Nichtangst, die man als Messlatte verwenden könnte.

Ein bisschen erinnert mich das an die Zeit des kalten Kriegs. An das ewige Ausbleiben der finalen Katastrophe, von der man ab den 1990er Jahren erleichtert das Gefühl hatte, es ist vorbei, nichts kann mehr passieren. Die Welt ist marod, aber wir können sie reparieren. Ich glaube, es gab ein zwei Jahrzehnte Hoffnung. Unbeschwertheit.

Wenn man in Dänemarks Norden, in Skagen ein paar Kilometer durch die Sanddünen läuft bis zur äußersten nördlichen Spitze Jütlands, blickt man auf ein beeindruckendes Schauspiel zweier Meere, die sich nicht vereinen können. links, im Westen die Nordsee, rechts die Ostsee. Die Wellen schwappen von hie nach da und von da nach hie, aber wegen des unterschiedlichen Salzgehalts fällt es den beiden Wassern schwer, sich zu vermischen. Ein wunderbares Bild für mein Gefühl der Morgenangst, das sich tagsüber mit dem auch existenten Gefühl des Abendmuts mischen will. Halbherzig, schwer mischbar, unneutralisierbar, so dass ein Status Quo zwischen diesen meinen beiden Gemütszuständen nicht möglich ist. Seltsam, dass mir das erst jetzt klar wird. Ich bin dieser Tage wie in den 1980ern. No Future auf gutbürgerlichem Fundament, nicht frech genug Punk zu sein, nicht angepasst genug, im sicheren Schwamm der Gesellschaft aufgesogen zu werden. Ich bin eine Chimäre, ein unmögliches Halbwesen.

Als Irgend Link eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einer ungeheuren Oma gegen Rechts verwandelt.

Ganz ehrlich? Im Nachhinein scheint mir der Kalte Krieg mit Wettrüstung und stets über uns gaukelnden, damoklesken Atombomben wie ein Theaterstück, dem man zuschaut, es endet und man geht mit gemischten Gefühlen raus.

Ja, man ging raus und man hat überlebt. Die Katastrophe blieb aus. Mag sein, dass ich das nur nachträglich schöne und deshalb die jetzige Situation mit ebenso damoklesk gaukelnden Atombomben um so bedrohlicher erscheint.

Ich vermute jedoch, dass jetzt und heute ganz anders ist. Unberechenbarer Autoritarismus, gedeckt von milliardenschweren empathielosen Egoisten, die die Weltbevölkerungen als ihr Melkvieh ansehen, das sie über die Jahrzehnte auf leicht beeinflussbaren Konsumdrang eingeschworen haben. Ganz ehrlich, machmal wünsche ich mir einen weltweiten solidarischen Konsumstreik, der die Sümpfe der Weltenmelkenden ein für alle Mal trocken legt. Welch schöne Utopie? Illusion? Na, jedenfalls ganz und gar unrealistisch. Selbst ich, der fast ohne Geld lebt, habe es schwer, es zu 100 Prozent umzusetzen. Wer verzichtet schon gerne auf seine Krankenversicherung, seinen Mobilfunk. Die Blogs hosten sich leider auch nicht kostenlos …

Im Skagen meines allgemein desolaten Gemütszustands spaziere ich jeden Tag hinauf zu Spitze wo sich die Meere der Morgenangst versuchen zu mischen mit den Wassern des Abendmuts. Vergebens. Dieses mein Skagen des desolaten Gemütszustands ist ein dystopischer Ort. Am Ostmeer des Muts stehen alte Betonbunker, sieht man die Tanker auf dem Weg zu fremden Häfen, Mut und Aufbruch, uralte Bunker, die im Sand versinken, die seit bald einem Jahrhundert keinen Krieg mehr gesehen haben und an deren Wänden sich Tang verfängt, Einsiedlerkrebse verlassen ihre zu klein gewordenen Muscheln und schlüpfen in alte Getränkedosen, toter Fisch, Netz und Strandgut, die See ist blaugrün. Eine gerade Linie nordwärts zeichnet sich ab. Beide Wasser züngeln. Links die kalte, salzhaltige Nordsee. Nordwestwind wirbelt Sandwolken über die Meerzunge, vernebelt die Sicht. Schemenhaft fahren von Pferden gezogene Touristenkutschen so weit es geht über einen festgefahrenen Weg durch die Dünen. Die Menschen steigen aus, frösteln, schießen ihr Foto, gehen zurück zur Kutsche, die sie zum Infozentrum bringt. Ansichtskartenkauf und Leckeis. Ich verloren da draußen.

Der Abendmut, muss ich sagen, ist vorzüglich. Ein wirklicher und echter und wahrhaftiger und kraft spendender Mut. Er bringt Weitsicht. Er teilt den Nebel. Er macht den Beobachter in mir zum Akteur. Jaja, der Abendmut dieser Tage ist wirklich etwas Feines.

Ich bin zwei Öltanks. (*)

Zwei Ichs überlagern sich in mir. Das kann ich nicht erklären. Ich lebe in Spaltung.

* Der Satz fiel mir ein, weil ich kürzlich mit der Bahn am Dorf Gensingen in Rheinhessen vorbei fuhr. Damals in den atomar damoklesken 1980er Jahren gab es ein großes Öltankgebilde am Ortsrand, auf dem der Schriftzug „Ich bin zwei Öltanks“ zu lesen war. Damals wunderte ich mich. Heute denke ich nach.

Vielleicht

Okay, der Plan steht. Vielleicht. Ich hacke diese Zeilen. Dann packe ich mein Bündel, sattele das Radel, fahre nach Neunkirchen (Saar) zum Bahnhof. Um 10:10 Uhr schaue ich mir den RE3 an, ob es sich gut anfühlt einzusteigen und ob es einen Platz gibt im Fahrradabteil. Sprich: Ist die Bude voll, radele ich zurück oder woanders hin, ist die Bude erträglich, fahre ich mit und steige in Ingelheim (Rhein) aus. Dort radele ich Selz aufwärts und zweige zu gegebener Zeit ab nach Oberolm. Im Zug noch rufe ich QQlka an, ob er auch zum Treffen mit der Walpodenakademie kommt, draußen beim Forsthaus. Ab 12:30 werden wir, eine handvoll Künsttlerinnen und Künstler, unterwegs sein, spazierend, plaudernd, dichtend, malend und musizierend. Die Walpodenakademie veranstaltet diese Art Collective Walking Act jedes Jahr im Frühling.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich zu oberst schrieb „vielleicht“. Tja. Und das sagt schon alles. Das und dass ich alt und müde geworden bin, mein Sofa und mein Bett über alles liebe, mich so langsam aufs Lebensende vorbereite, aber hej, das hindert mich nicht daran, ab und zu auszubrechen.

Ein unsichtbarer Graben | #UmsLand #UmsLandBawü | Tag 2 Freudenstadt nach Christophshof

Welch wunderbare Furche! Kurz vor zwölf lümmele ich am Bahnhof Freudenstadt und weil die Kälte anzieht, es hier oben auf womöglich 600 oder 700 Metern über dem Meer zieht wie Hechtsuppe, bin ich ständig am Tippeln, schaue hier und da. Wie ein fleißiges Bienchen der feinen Künste, das von Blüte zu Blüte fliegt. Bloß dass meine Blüten komisches Zeug sind, das normale Menschen gar nicht wahrnehmen. Wie ein gekritzeltes Ohr verlässt die Reifenspur das Pflaster, pflügt sich durchs Grün einer Verkehrsinsel, das den Winter überlebt hat. Ein wunderbarer Graben am Rande des Bahnhof, wie geschaffen von meinem Künstler-Alterego Heiko Moorlander, der mit tonnenschweren Maschinen marzialische Reifenspuren weltweit hinterlässt. Der im Gegensatz zum mir Noname-Artist-Wicht damit Millionen verdient. Der berühmt ist. Der alles hat was ich nicht habe. The Pleasurecity Golden Ear nenne ich das Kunstwerk, das er hier hinterlassen hat. Es ist kurz nach Zwölf. Ich sehe Frau Lauts Zug einrollen, aber eben noch schnell das Foto mitnehmen. Das Jahr ist zwar noch jung, aber Pleasurecity Schlitzear, so könnte es ja auch heißen, wenn ich über meine politische Korrektheit springe, ist definitiv ein Kandidat für den Moorlander-Kalender 2026. Zack im Kasten. Zack Zug. Zack windet sich Frau Laut durch die unsäglichen Gleisbarrieren und da stehen wir. Halloen uns, plaudern uns warm. Frau Laut will gleich los wegen der Kälte. Hätte aber auch noch ein paar Dinge zu erledigen, die Stadtumgebung erforderlich machen. Bankgeschäfte, Schreibwaren, Lebensmittelkauf. Sollten wir vielleicht besser hier … sag ich, wer weiß, ob da oben im Wald Briefmarken-, Geschenkpapier- Geldläden und was noch alles kommt.

Aber Frau Laut scharrt mit den Hufen. Und ich ja insgeheim auch. Essen und Wasser haben wir genug. Dennoch sei erwähnt, dass es immer richtig ist zu tun was getan werden muss, wenn es möglich ist zu tun was getan werden muss und nicht ins Blaue zu radeln, wo man nicht weiß, ob dort das was getan werden muss getan werden kann.

Wir sind beides Nordkap- Veteraninnen. Wir dürfen dass. Wir wissen etwas von hunderte Kilometer Lappland ohne nichts durchqueren, ohja, was sind wir für herrliche Reisebübchen und -mädchen :-)

Raus aus Freudenstadt vorbei am Hospital. Immerhin gibts eine Sparkasse. Frau Laut tankt Geld. Ich bin ja schon einen Tag on Tour und hab alles. Vermutlich. Und zack, Wald.

Hohe Tannen. Schneeplacken. Kalter Wind. „Ich komme mir vor wie in einem Rainer-Dornburg-Film“, sagt Frau Laut. Ha! Köstlich. Ich muss lachen. Gefällt mir. Besser als Blair Witch Project denke ich; sage ichs? Mag den Humor der Frau Laut. Rainer Dornburg wohnt in der Gegend und auf Youtube gibt es zahlreiche Radreisevideos. Unter anderem spielen die deswegen auch in der Gegend, hier im tiefen, dunklen, winterlichen, kalten, dennoch anheimelnden Wald.

Etwa 15 Kilometer im Sattel rasten wir an einer Schutzhütte. Die Sonne scheint. Wir kochen Kaffee, essen Bananen und Kekse und Brot. Genau da oben haben die geschlafen, der Rainer und seine Tochter. Frau Laut zeigt zu einer Luke über dem Eingang der Hütte. Natürlich alles abgesperrt, aber bestimmt kann man die mieten, jaja, genau da oben. Ich finde das berauschend, so dicht dran zu sein. Rainer ist auch ein bisschen ein Idol. Und jetzt sind wir hier.

Der Radweg führt nordwärts meist auf Waldwegen, die zum Glück nur manchmal von Forstfahrzeugen zu einer Schlammschlacht gemetzelt wurden. Meist läufts gut für uns. Anhand der Schneedichte sehen wir, wie hoch wir sind oder nicht. Das GPS zeigt an manchen Abschnitten 900 Meter und da wirds dann schon schwierig bei Schnee aufwärts wie abwärts. Aber wir haben Ruhe, Zelte mit, eine Liste mit Schutzhütten und überhaupt, hey, wir sind doch Nordkap-Veteraninnen. Du kannst uns gar nichts, Schwarzwald!

Ähm. Naja, untrainierte Nordkap-Veteraninnen, das sind wir. Ich muss ganz schön schnaufen auf diesem Pamir-Highway des kleinen Mannes, der kleinen Frau, obschon er mehr oder weniger den Höhenlinien folgt, gehts doch immer wieder auf und ab. Frau Laut hat zudem mit Krämpfen zu kämpfen, beide Oberschenkel und ob ich denn wüsste, wie man das dann dehnen muss, so rum oder so rum, um dem entgegen zu wirken, fragt sie verzweifelt. Ne, weiß ich nicht. Sie schaut im Internet nach. Wir schieben. Der Frost ist da. Die Sonne bald weg. Hier oben auf den Weiten tun sich unbewaldete Wiesen auf, herrscht gemeiner Wind. Es hilft nichts, Langsamkeit ist unser Freund, unsere Freundin. Gen Besenfeld.

Was erwartet uns dort? Gibt es da alles, was Frau Laut noch kaufen möchte? Wegen der Weite hat man einen wunderbaren Blick über das kleine Dorf. Es wirkt nicht so, als gäbe es dort überhaupt etwas außer Kirche, Häuschen, Glascontainer, weiter weiter weiter, streifen wir durch das Dorf. Frau mit Kind vorab. Ich frage, gibts da einen Laden, aber ja, sagt die Frau, gradaus, vorbei am Rathaus, linke Seite, beste Pizza der Welt. Der Dorfladen erweist sich als geradezuer Glückstreffer. Im Netz lese ich, nun da ich dies schreibe, dass es ihn nicht immer gab. Im Jahr 2014 wurde er eröffnet. Warm. Freundlich. Bereich mit Tischen und Stühlen zum Hocken. Wir kaufen Brot und Lebensmittel und Bananen. Es gibt sogar Magnesiumtabletten und Geschenkpapier. Bloß Briefmarken, die gibt es nicht. Wärmen uns auf. Der Abend naht. Wir sind auf der Wasserscheide zum Enztal. Bald gehts nur noch bergab. Schauen die Navis an, wo die wenigsten Höhenmeter sind, die wenigsten Bundesstraßenabschnitte, denn mit den wiederkehrenden Oberschenkelkrämpfen ist beides Gift. Auch abwärts rollen ist mühsam. Eigentlich ist alles Gift. Die Kälte beißt. Im Westen geht die Sonne. In der Dämmerung irren wir im Wald hinüber zu einer kleinen Kreisstraße, die ins Enztal füht. Dunkelheit. Wir bleiben auf der Straße. Sie ist wenig befahren. Wir haben viel Licht.

Gompelstal, Enzklösterle. Die Welt gefriert. Weit kommen wir nicht mehr. Meine Finger steigen langsam aus, sprich, tun es der Welt gleich und gefrieren. Zum Glück hatte ich mir Schutzhütten gemerkt im Enztal. Zwei Stück unmittelbar bevor. Bei der zweiten bauen wir unsere Zelte auf, kochen uns auf dem Trangia Nudeln, guter Laune. Frau Lauts Zelt ist klein genug, dass es unters Vordach der Hütte passt und ich muss mit meinem Zelt draußen unter dem unheimlich klaren, funkelnden Sternenhimmel bleiben. Wie mit dem Stechbeitel geschnitzter Mond.

 

 

UmsLand Bawü – Prolog Tag 2 | Gernsbach nach Freudenstadt | Tour de Murg

Es regnete die ganze Nacht. Heilfroh, dass ich das Zelt in der Schutzhütte des Grillplatzes oberhalb Gernsbachs aufgestellt hatte. Nicht, dass das Zelt undicht und untauglich wäre, aber es ist nie gut, ein klatschnasses Zelt am Morgen zu verpacken, es ggf. und mit etwas Glück tagsüber wo trocknen zu können. In der Nacht war ich kurz draußen, um den Kochtopf unter einem Rinnsal, das vom Dach der Hütte plätscherte aufzustellen. Das aufgefangene Wasser würde das Spülen am Morgen erleichtern und Trinkwasser sparen.

Gegen Dämmerung kamen zwei Gemeindeangestellte in orangenen Klamotten am Lager vorbei. Grüßten freundlich. Spät dran verpackte ich alles, kochte einen schnellen Kaffee und verschob das eigentliche Frühstück mit Brot und Marmelade und Alles auf später irgendwann. Hatte eigentlich um vier Uhr im Halbschlaf überlegt, schon aufzubrechen, dann hätte ich genügend Zeit zum radeln gehabt, um rechtzeitig gegen 12 Uhr in Freudenstadt zu sein, wo ich Frau Laut treffen will, so der Plan, High Noon in Freudenstadt.

Die Tour de Murg ist ein feiner etwa sechzig Kilometer langer touristischer Radweg, der meist abseits der Bundesstraße das Murgtal hinauf schlängelt. Ich hätte ihn prima auch im Dunkeln radeln können. Verwarf, im warmen Schlafsack wälzend, dem Plätschern des Regens lauschend jedoch die Idee, mitten in der Nacht aufzustehen und in den Morgen zu radeln (obschon das gar wunderbar sein kann), schlief wieder ein, erwachte gegen halb neun.

Es würde niemals reichen, die etwa 50 Kilometer bis Freudenstadt bis 12 Uhr zu schaffen. Theoretisch wäre es zwar kein Problem. Aber der Künstler in mir hat dabei mitzureden. Er will ständig stoppen, schauen, sich Gedanken machen um die Beschaffenheit der Welt, fotografieren, jaja und vielleicht würde er auch wo eine längere Rast halten wollen und ein paar Zeilen ins Tagebuch schreiben. Kunstmaschine still alive.

In der Morgenluft, die deutlich kälter war als tags zuvor folgte ich der Tour de Murg, passierte kleine Dörfchen, kurbelte ein paarhundert Meter direkt neben der Bundesstraße auf dem Radweg, nicht schön. Ich erinnerte mich an die frühen Touren in den 1980er Jahren als wir mit Mülltüten voller trocken zu bleibendem Tourenbedraf, Schlafsack, Isomatte, Essen, diese Bundesstraße hinauf radelten. Es gab damals noch keine Tour de Murg und in meiner Erinnerung regnete es permanent auf diesen frühen Touren von der Nordpfalz bis zum Bodensee. Meist fuhren wir in der 17.-Juni-Woche für neun Tage Alsenz-Bodensee und zurück etwa 800 bis 1000 Kilometer. Ohne Zelt, in Neubauten und Sägewerken und Schuppen hausend, in Bäckereien um Brot bittend.

Dergestalt bin ich nun geradezu hightech unterwegs. Mit allmöglichem elektronischen Zeugs, mit Winterzelt – und das werde ich auch brauchen. Die kommende Nacht soll es Frost geben, Regenklamotten, Hochdichtigkeitspacksäcken, pi, pa und po.

Ich fotografiere am Wegrand. Nebel, der sich löst, ein merkwürdig senkrecht aufgestellter Anhänger, Straße, Landschaft, Schilder, bummele in der Gewissheit, dass durchs Murgtal alle Stunde die S8 ab Karlsruhe bis nach Freudenstadt, ach was, weiter noch, bis nach Bonndorf fährt. Gegen zehn schaue ich bei einem Bahnhof, um welche Zeit der Stunde in etwa die Züge fahren. Bahnhöfe gibt es alle paar Kilometer. Dieser hier ist ein Bedarfshalt. Man muss einen Knopf drücken, wenn man möchte, dass der Zug anhält und einen mitnimmt. Genauso ist es im Zug. Dort gibt es auch Bedarfshaltsknöpfe. Fast ist es wie die gute kleine Waldbahn im Bayrischen Wald. Nur eben Baden-Württembergischer. Hmmm. Was heißt Baden-Württembergischer? Weniger streng, weniger autoritär, eine Prise Unordnung vielleicht? Denn, schaue ich mir die Fahrradabteile an, sie sind nicht als solche zu erkennen. Ich steige in Langenbrand zu. Halb elf etwa. Noch 40 Kilometer bis Freudenstadt. Der Bahnhof liegt abseits des Dorfs, durch das der Radweg führt. Um dahin zu kommen, empfiehlt ein Schild den Radelnden, die Treppen der Unterführung der Bundesstraße hinab zu steigen und drüben wieder hoch. Das spare ich mir. Quere die Bundesstraße, rolle bis zum Bahnsteig, hab noch zehn Minuten Zeit. Keine 250 Meter über dem Meer liegt das Gleis, sagt eine Höhenkote am Bahnhofsgebäude. Plaudere mit einer Fahrgästin. Smalltalk über den Segen, den die Bahn übers Tal brachte. Dass früher Flößer am Fluss unterwegs waren und dass es eine Grenze zu Schwaben gab, irgendwo weiter oben und dass die Flößer da nicht drüber durften und daher eine Seilbahn gebaut wurde, elende Kleinstaaterei und Handaufhalten für freie Bahn. Gott seis getrommelt, dass das vorbei ist. Zack sitzen wir im Zug. Ein Mädchen im Vierersitz neben dem Fahrradabteil weiß leider keinen Rat, wie bitteschön und wo man denn hier Fahrräder abstellen kann, soll oder darf. Das Fahrradabteil ist einer von vielen Einstiegen am Zug. Es gibt jedoch einfach nur den Eingangs- und Ausgangsbereich. Daneben ist die Gummimanschette des Wagengelenks, wo theoretisch Platz wäre fürs Rad. Doch dort ist ein Schild, Fahrrad abstellen verboten. Die S8 ist eine rollende Doublebind-Situation. Ich stelle das Fahrrad mitten in den Türbereich und so ists wohl gedacht. Bei jedem Halt muss ich schauen, dass ich ggf. die Tür freigebe, an der Leute zu- oder aussteigen möchten. Zum Glück ist nicht viel los im Zug.

Noch mehr verwirrt mich die Ansage im Zug, also eigentlich ist sie klar: Beim nächsten Halt kann man im hinteren Teil des Zugs nicht aussteigen, Schönmünzach? Egal, ich will ja nach Freudenstadt und bleibe also sitzen. Da kommt ein Zugbegleiter vorbei und macht mich rennen: Also wenn sie nicht zurück nach Karlsruhe wollen, müssen sie nach vorne in den Zug. Puh, schnell raus und fünfzig Meter weiter vorne in den anderen Zugteil. Keine Ahnung, ob der hintere Wagen abgehängt wurde. Für mich als einfacher Fahrgast heißt am-nächsten-Bahnhof-nicht-aussteigen-können nicht, dass der Zug geteilt wird und der Nichtaussteigenkönnten-Zugteil in die andere Richtung fährt.

Gegen elf Freudenstadt-Stadt. Das ist der höher gelegene Bahnhof in Freudenstadt. Frau Laut muss am tiefer gelegenen Bahnhof noch einmal umsteigen, damit sie die 50 Höhenmeter nicht bis hierher kurbeln muss. Sie wird eine Stunde später hier sein. Ich quäle das vollbepackte Reiserad zwischen labyrinthischen Gittern hindurch über die Gleise. Irgendwie besser als nicht funktionierende Aufzüge durch Unterführungen, finde ich. Eine Scharade mit vielen anderen, die durch die Gitter müssen. Treibe mich in der Stadt herum, komme just als ein Glockenspiel bimmelt, das bestimmt eine Sehens- und Hörenswürdigkeit ist, in dessen Nähe, folge dem Klang, filme, stehe auch gleich vor einem Café. Da geh‘ ich rein. Da ess‘ ich Kuchen. Da trinke ich Kaffee. Da bummele ich und warte und beobachte und geh‘ aufs Klo und wasch‘ die Hände. Es gibt Schwarzwälder Kirschtorte, was sonst, Schwarzwälder Kirschtorte und Milchkaffee für nur acht Euro. Ich bin glücklich. Es ist warm. Im Café sitzen nur Frauen. Ich muss an Frau Rebis denken, die in der Türkei oft in Teestuben voller nur Männer sitzt und daran wie privilegiert ich bin, dass ich als Europenner männlichen Geschlechts hier einfach so sitzen kann, ohne begafft zu werden, ohne gar als Fremdkörper angesehen zu werden.

Später bummele ich zurück zum Bahnhof, fotografiere seltsame Dinge, abblätternde Farbe an Mauern, eine Reifenspur auf einer Grünfläche. Freudenstadt erschließt sich mir nicht so recht. Ich bin ja auch nur kurz hier, zu kurz, um künstlerisch warm zu werden mit der Stadt und da bleibt dann nur das Standard-Entdecken, stadtbummlerischer Mainstream, da entdeckste nichts Neues. Die blinden Flecke, die man neuen Gegenden gegenüber oft hat, müssen erst überwunden werden und dafür braucht es Zeit und Ruhe und Kirschtorte und Kaffee und Wiederholung und Muse und keinen Termin. Mag sein, dass wenn ich bis Nachmittag bleibe, das Glockwerk ein weiteres Mal beim Bimmeln schaue, dass dann die Szene kippt, dass ich dann sehe, dass dann die Scheuklappen fallen? Aber nun bin ich fixiert auf Bahnhof. 12:09 kommt der Frau-Laut-Zug und die kenne ich ja kaum. Sie sagte, sie würde mitradeln als ich die Tour vor Tagen auf Mastodon ankündigte und ich sagte: ja gerne. Wir sind uns erst einmal kurz begegnet, radelten jahrs zuvor nebeneinander zur Natenom-Gedenkstätte.

Ob wir zurecht kämen miteinander oder nicht, das würde sich dann zeigen. Und überhaupt, es sind ja nur 70 Kilometer bis zu unserem gemeinsamen Ziel in Pforzheim.