Gewohnheiten #UmsLand

Ein Fähranleger am Lago die Como. Kunstvoller Bau mit Spitzbogen und Flügeln. Dahinter der See und dahinter zackige Berge

Nachts wach, weil etwas im Unterholz raschelt. Etwas Großes, aber es grunzt nicht. Das ist gut. Dann ist es kein Wildschwein. Mit Füchsen, bilde ich mir ein, werde ich fertig. Aber Wildschweine? Die sind der Endgegner, wenn sie aufgeregt, in die Enge getrieben, ihre Jungen bedroht sehen. Ich liege gut auf weichem Waldboden unter uralten Kastanien. Ein Wunder, dass ich den Platz am gestrigen Abend noch fand. Ich war drauf und dran mich bis Agno durchzukämpfen, was nicht so einfach ist im Tessin. Lugano verlassen ist an sich nicht einfach als Ortskundiger. Nun, da ich dies schreibe, kann ich nur empfehlen, die Straße nach Agno einzuschlagen oder die Seestraße weiter zu radeln. Ich habe alle Fehler gemacht, die man beim Verlassen von Lugano begehen kann. Ich folgte einer Radroute mit einem abgebildeten Berg und einem Stern, so vermute ich, die in einen Ort namens Paradies führen sollte. Tut das nicht, bzw. nur, wenn ihr in einen Ort namens Paradies fahren wollt.

Die Route war schön, mäßig beschildert, steil, steil steil. Am Ende verließ ich die ausgeschilderte Strecke, weil mir ein paar offene Flächen in der Nähe des Ortes Montagnola lukrativ erschienen. Ich stellte mir gemähte Wiesen vor, freundliche Bäuerinnen und Bauern bei der Arbeit, die man fragen könnte, ob man das Zelt aufstellen darf. Null Problemo also. Doch zunächst Schiebstrecke. Ich schätze, ich hatte am gestrigen Tag meinen ersten 30-Prozenter gefunden und zwar nicht zu kurz, mehrere hundert Meter windet sich die Straße hinauf nach Montagnola. Durch dichten Wald. Die Zeltplatzwiese und der freundliche Landwirt wollen bitter erschoben werden. Ruhige Sträßchen, auf denen hin und wieder solche Karossen daher kommen – mit stark betontem »solche«. Oben angekommen finde ich die Zeltwiesen, die ich mir erträumt hatte, von schicken Villen bebaut, und begrüßen mich Privatbesitzschilder und Überwachungskameras. Also doch weiter rollen nach Agno zum Campingplatz. Eine Hundegassigängerin grüßt freundlich. Sie trägt ein papageienbuntes Outfit wie nicht von dieser Welt, über die Maßen parfümiert und geschminkt. Eine wirklich sehr sehr feine Dame, der man ansieht, dass sie es sich leisten kann, in einer der Villen zu leben. Hund von Rasse, pudelklein und frisch frisiert. Schätzungsweise, wenn man alle Dinge, die unsere beiden Körper umgeben, der Hund als Ding mitgemeint, wenn man also alles, was nicht menschlich ist an uns beiden wegnehmen und nackt dastehen lassen würde, erhielte man als Erlös der materiellen Aura der Dame ein vielleicht Hundert- oder gar Tausendfaches des Erlöses meiner materiellen Aura.

Die Dame ist freundlich, aber ich merke schon, dass sie eigentlich eher mit einem Bediensteten spricht als mit mir. Nein, nein, nicht diesen Weg einschlagen, sondern den da, runter zur Chiesa, zur Kirche und dann die sinistre, die linke Straße nehmen, da gehts nach Agno.

So irre ich durchs Labyrinth der Reichen. Kein Flecken, an dem man nicht beobachtet ist, kein Plätzchen, kein Bänkchen, kein Park, in dem ich mich trauen würde, die Hängematte mal eine Nacht lang aufzuspannen.

Solche unwildzeltbare Flecken begegnen mir hin und wieder. Nicht oft, immer öfter? Abgeschottet und nicht willkommen.

Die gestrige Radroute war durchwachsen. In Colico am nördlichen Ende des Comersees war erst einmal Schluss mit Eitelradweglein und ich radelte auf der mäßig befahrenen Uferstraße bis Riva, wo die Fähre nach Menaggio ablegt. Eigentlich kein Problem. Bloß die recht dichten Überholvorgänge selbst bei guter Sicht und freier Gegenfahrbahn. Ich kam zu dem Schluss, dass der Verkehr in Italien anders tickt als in Deutschland und dass man mit theoretisch 1,5 Metern Sicherheitsabstand in Deutschland doch recht verwöhnt ist. Ich weiß nicht, ob es diese 1,5 Meter in Italien oder der Schweiz als Vorgabe überhaupt gibt. Wohl eher nicht. Wohl eher lautet die Regel, überhole so, dass du niemanden gefährdest. Zwischen zwanzig Zentimetern und mit Mühe und Not mal 1,5 Metern ist eigentlich alles drin.

Was bist du für ein verwöhntes Nordradelbübchen, denke ich. Viele Radlerinnen und Radler unterwegs und alle scheinen mit einer gewissen Demut die knappen Überholvorgänge zu dulden. Weil sie sich daran gewöhnt haben?

Die Rennradler haben immerhin noch Warnbliklichter direkt unter dem Sattel, was mitunter lustig aussieht, weil es grell rot direkt aus dem Po zu blinken scheint. Radeln im Polichtmillieu, dichte ich einen Tweet, der niemals abgesendet wurde.

Nachdem ich das Dorf Montagnolo hinter mir gelassen habe, strebe ich Richtung Agno. Dort gibt es Campingplätze, was ja auch kein Fehler ist. Mich mal eine Nacht lang wo einmieten, Duschen, statt Brunnenwäsche oder Flussbaden. Müde bin ich, achtzig Kilometer in den Beinen, schon freue ich mich auf einen Campingplatz, schon finde ich ein verlassenes Grundstück in einer Kurve, schon will ich weiter radeln, schon leses ich das Schild, das an einer Kette hängt, die die Zufahrt versperrt, Müll abladen verboten, okay, das klingt wie nicht privat, nicht Zelten verboten, schon wuchte ich das radel über die Kette und werde im hinteren Teil des urigen Geländes fündig, eim wunderbarer Platz auf blättrigem weichem Boden unter Kastanienbäumen. Topfeben, fast wie Camping. Entgegen meiner Gewohnheit mitten im Wald.

Gewohnheiten ist der Arbeitstitel dieser Zeilen. Es gaukelte mir schon lange ein Artikel zu dem Thema im Kopf, nun bin ich doch ins Reiseplaudern gekommen, habe das Thema nur knapp mal angeschnitten. Man muss es ja nicht erzwingen, denke ich.

Heute, Sonntag, dürfte der zehnte Radelreisetag sein – vier Tage Elsass bis in die Schweiz und nun der sechste Umrundungstag.

Nachdem ich das Kastanienzeltlager verlassen hatte, war ich nach wenigen hundert Metern auf der Straße nach Agno, neben der – tadaaa! – ein schöner breiter Radweg führt. Ich weiß nicht, ob er bis Lugano durchgebaut ist, will es auch nicht erkunden, freute mich des Morgens. Ein bisschen Sonne gabs auch, doch nun trübt es sich ein. Soll wohl gewittern am heutigen Tag.

Ich befinde mich seit Agno auf der Radroute 3, der Via Romea Francigena. Ich glaube, sie führt nach Bellinzona. Falls es von dort weiter ins Wallis geht, werde ich sie womöglich weiter verfolgen. Falls nicht, fahre ich vielleicht durchs Centovalli und nehme in Domodossola den Zug nach Brig.

Rohtext, enttippfehlert von der Homebase

Tage sieben und acht #UmsLand

Großer Fluss neben felswand zur Linken und mit Flachem Ufer zur Rechten. Der Fluss hat an einer Stelle mächtige Stromschnellen

Es gab vermutlich einen  leichteren Weg, vor vielen Mannsattelstunden am Rhein. Der holländische Weg rund um die Schweiz. Er folgt strikt den drei nationalen Radrouten Rhein, Rhône und Jura. Soweit ich es überblicke, wären in den Alpen nur der Oberalppass und der Furkapass zu überwinden. Sonst nichts.

Im Schweizer Passgewirre kann einem schon recht schwindlig werden. Vor allem als Radler läuft man Gefahr, sich in einem Tal zu verirren, auf eine Felswand zuzufahren, schlimmstenfalls auf einer stark befahrenen, engen Passstraße. Dehalb halte ich mich am liebsten an ausgewiesene Fahrradrouten, obschon auch die nicht Garant sind für eitel Radelfahren auf ebener Piste ohne Fernverkehr.

Pässe sind nunmal Nadelöhre. In Landquart traf ich vorgestern die Entscheidung, die Rheinradroute zu verlassen und der lokalen Route 21 Richtung Klosters und Davos zu folgen. Die Radroute führt zwar laut Open Cycle Map nur bis Klosters, ich war aber zuversichtlich, dass es irgenwie weiter geht. Bis Davos, dann ein Pass, der Flüela? Wie auch immer.

Gute Strecke auf ehemaliger Straße, und direkt am Fluss namens Landquart. Spektakuläre Felswände im Gleichklang mit Katarakten im Fluss. Wiesen. Abends vorbei an einem Schützenhaus, wo der Radweg gesperrt war und umgeleitet wurde, damit niemand verletzt wird. Wie oft so in der Schweiz. Es stehen Fahnenmasten vor den Schützenhäusern, die gehisst werden bei Schießbetrieb.

Ich fand einen schönen Zeltplatz ein paar Kilometer hinter der Umleitung, auf Kies, direkt am Fluss, konnte mich waschen. Zum Baden war das Wasser zu kalt.

Tags drauf, gestern, ging es direkt nach dem Packen schon richtig zur Sache 25 Prozent Steigung zum Frühstück. Das Tolle daran: auf 100 Metern Strecke schafft man sich 25 Meter höher. Im Kriechgang. Und überhaupt laufe ich ja auf der Hypothenuse und die 100 Meter gelten für die Gegenkathete zu den 25 Metern, alles klar? Schiebeschwitzmathematik bis Klosters, auch die späteren zehn bis zwölf Prozente kein Amüsement, zumal oft Kies. Das geht selbst Schieben schwer.

Direkt am Bahnhof Klosters Platz angelangt, fackele ich nicht lange – es steht ein Zug nach Scuols am Gleis –, kaufe eine Fahrkarte, der Zug fährt mich zum Inntal, denke ich, ahne ich, bin nicht ganz sicher, frage Menschen, ja, sagen sie, Scuols ist am Inn. Dort ist wieder ein Radweg eingezeichnet, dem ich folgen möchte. Karte gekauft, im Zug sitzend, fällt mir auf, dass es noch Zwischenstationen gibt. Ich hätte gar nicht bis Scuols durchbuchen müssen, kostete 23 Franken nochwas, Lavin die zweite Station nach dem Tunnel hätte gereicht, aber egal. Bei der ersten Station, die noch einen Tick höher im Inntal liegt, hätte es keine Brücke bis zum Radweg gegeben und ich hätte über Lavin oder Zernez auf der Landstraße radeln müssen.
Alles klar?

Passwirrwarr. Ich weiß nun, dass der Flüela von Davos nach Zernez führt und dass der Ofenpass von Zernez nach Irgendwo führt, sowie der Innradweg auf dem Malojapass endet, von wo aus die Route sich noch durch ein paar Schweizer Orte bis zur italienischen Grenze in die Tiefe stürzt.

Das hatte mir ein radelndes Paar aus Scuols erklärt, auch wie es sich mit den beiden Engadins verhält, dem Ober- und dem Unterengadin und überhaupt, sei die Gegend so schön, so abenteuerlich, so kulturell und pittoresk, da lohne sich Langsamkeit, schauen, sich driften lassen.

Tue ich auch, unterhalte mich kurz vor Zernez mit einem Norweger aus Tromsø, der lange in der Schweiz lebte und nun wieder zurück siedelt. Er hat einen dreibeinigen Hund, der den Knochenkrebs überlebte, nun aber eben nur noch drei Beine hat, ein glückliches Tier mit weißem Fell, das in der Wiese herumtollt. Fürs Radeln und Wandern gibt es einen Auflieger am Fahrrad, wo der Hund sich halb auflegen, halb auf den verbliebenen Hinterläufen laufen kann.

Zernez. Die Wolken jagen mich talaufwärts. Bombastischer Rückenwind. Entgegenkommende Radlerinnen und Radler keuchen im Anblick des Dusters im Tal. Ich hab stets einen Streifen Sonne vor mir, Lücken in den Wolken. Vor Sankt Moritz wirds nochmal steil, aber letztlich führt der Innradweg wie ein ganz normaler Flussradweg bis zur Passhöhe in Maloja bei 1815 Metern Höhe.

Dann nur noch abrollen. Ich kann es nie glauben, wenn ich Pässe übberwunden habe und wieder abwärts fahre, dass ich hinauf geradelt bin. Kann mir bei fünfzig, sechzig Sachen nicht vorstellen, dass man das überhaupt radeln kann.

Etliche Kilometer bis zur italienischen Grenze gibts keinen Radweg und der Verkehr ist auch nach 19 Uhr noch ziemlich stark. Langsam zwar und die Straße ist breit, und abwärts bin ich ohnehin genauso schnell wie der Mahlstrom der Motorisierten.

Gleich nach der Grenze beginnt ein Radweg, gut beschildert, keine Autos, der laut Karte weiter und weiter und weiter führt. Fährt sich bestens, geteeert, nur ab und zu Straßenquerungen, superschön. Eine Tanzgruppe mitten auf dem Weg und kurze Zeit später eine Reifenpanne. Dichter Tag. Ich repariere eher lustlos mit Notfallkit. Statt zu warten, bis die Kautschukmilch sich ins Loch setzt, radele ich weiter, hab nach fünf Kilometern wieder platt, muss also doch noch eine Schwarze-Hände-Session einlegen. Auf einer Bank beim Stadion fange ich an mit der Reparatur. Ein Radler kommt vorbei, stoppt, schaut mich fragend an. Ob er helfen kann? Ich winke ab, krieg ich schon hin. Aber der Junge bleibt und schaut zu, und gibt schließlich Tipps, als die uralte Luftpumpe nicht funktionieren will. Nichts geht. Das Ding ist Schrott. Ich hätte es gar nicht mitnehmen dürfen.

Da ich kein Italienisch kann und der Junge kein Deutsch, reden wir mit Händen und Füßen, irgendwann bedeutet er, ich soll einen Moment warten, setzt sich aufs Rad, kommt nach zehn Minuten wieder mit einer Profiluftpumpe, so eine Standluftpumpe mit Druckanzeige.

Perfekt. Also ob mir ein Engel geschickt worden wäre.

Wieder im Sattel die nächsten Engel. Drei Männer auf einer Wiese rollen Heuballen auf einen Anhänger. Ich muss nur bitten und mir wird gegeben: Darf ich hier zelten?, frage ich und sie sagen ja, winken mich am Zaun vorbei zur Einfahrt der Wiese.

Einzige Wermutstropfen, um kurz vor sieben Uhr morgens lärmt mich ein Motorsensentrupp der Gemeinde aus dem Zelt, sie mähen die 500 Meter Grasstreifen entlang des Radwegs just gegenüber meiner Wiese.

Nun bin ich schon am Comersee. In der Nähe von Colico, dreißig Kilometer in den Beinen. Die Menschen strömen halbnackt ins Strandbad. Surfbretter werden montiert. Motorräder, Autos, Badeschlappengeräusche.

Der Radweg hat Lücken, ist aber noch relativ gut. ich hoff, das bleibt so bis zum Hafen nahe Bologna, ab dem ich die Fähre nehmen möchte. Ich hoffe, das Schiff nimmt mich mit Radel mit. Bis Menaggio.

Rohtext, enttippfehlert von der Homebase

Von Paradies nach Widnau #UmsLand

Pink farbener Heißluftballon vor einer Brücke. Der Ballon liegt noch und winzig steht daneben ein Auto mit Anhänger

Eine Frau mit vier Hunden flaniert durchs Kraterähnliche Areal, gerade habe ich das Zelt abgebaut und das Radel gepackt und mich ein paar Meter herab begeben zu einem der granitenen Steinblöcke, die als Sitzgelegenheiten rings um einige Feuerstellen gelegt wurden. Das Areal mag etwa einen Hektar groß sein, vielleicht auch etwas mehr. Am gestrigen Abend ein Glückstreffer.

Es war schon fast dunkel, ich musste zehn fünfzehn Kilometer weiter radeln als geplant, denn die ausgespähte Zeltwiese auf der Landkarte erwieß sich als Naturschutzgebiet. Jenseits des Bodensees durchquerte ich Österreich, also ein kleines Stückchen, vielleicht drei vier Kilometer am neuen Rhein, welcher ein schnurgerader Schussbach ist, der zwischen hohen Deichen gebändigt wird. Schöne Wiesen, eigentlich gut zum Zelten, aber leider auch gut einsehbar. Da fühle ich mich wild zeltend nicht besonders wohl.

Eine Attraktion am Wegrand bei Lustenau war die Befüllung eines Heißluftballons. Ein kuheuterfarbenes riesiges Monster, an dem sich einige Menschen zu Schaffen machten, zunächst mit Kompressor Luft hinein pumpten, bis der Ballon sich halb aufgerichtet hatte und dann mit dem Gasstrahler Hitze hinterher. Am Ballon hingen vier dekorative Zitzen, ob er wohl tatsächlich ein Euter darstellen sollte? Ich wartete nicht bis zum Start. Es dämmerte schon.

Gestern morgen startete ich unweit von Schaffhausen in einem Gebiet, namens Paradies und Neuparadies, so steht es in der Open Cycle Map, folgte dem Bodenseeradweg letztlich, statt mich auf die alternative Route 82 durchs Hügelland nach Arbon zu begeben. 42 Kilometer bis Kreuzlingen, verirrte mich in Stein am Rhein auf die rechte Flussseite, wie naiv ich war, zu denken, beim nächsten Ort kann ich ja über die Brücke zurück. Die nächste Brücke kommt erst in Konstanz, erklärte mir ein Mann, der vor einer proppenvollen Metzgerei wartete, um sich einen Mittagshappen zu kaufen. Er empfahl Fleischkäsbrötli, also reihte ich mich ein, überlegte, die fünf Kilometer bis Stein zurück zu radeln, erinnerte mich zackiger Steigungsstücke, verwarf den Plan, es gibt doch bestimmt Fähren?

Gibt es. Die nächste Fähre am nächsten Fährhafen in Hemmenhofen würde um 16:05 ablegen. Jetzt erst halb eins. So lange warten? Weiterradeln! Einen Schlenker um den Untersee, zwei Stunden später war ich in Konstanz. Nie so viele Radlerinnen und Radler erlebt wie an diesem Tag auf dem Bodenseeradweg und insbesondere in Konstanz.

Bei Kilometer 60 endlich wieder in der Schweiz in Kreuzlingen. Dem Radweg folgend, welcher ziemlich gut ausgebaut ist, sehr gut beschildert und in den Dörfern entlang des Sees sind Pfeile bei allen Abzweigungen auf die Straße gemalt, aber auch Verbotsschilder bei Stichwegen und Privatstraßen.

Nie so viele Zäune gesehen wie an diesem Tag. Das Seeufer ist wohl das privatbesessenste Seeufer der Welt. Villen und Zäune und Zaunfirmenschilder an den Zäunen, die Werbung für Zaunfirmen machen. Ab und zu ein Strandbad. Ab und zu ein Hafen, ab und zu eine größere Stadt, naja, eigentlich nach Kreuzlingen nur noch Romanshorn, Arbon und Rorschach.

Kunstwerke und Verlassenes und immer wieder weite Blicke über den See. Ab etwa Romanshorn sieht man die Berge deutlich. Zackiges Vorarlberg und auch bis in die Züricher Gegend. Ein Glück, dass der Rhein bis mindestens Chur oder Landquart ein tiefes, flaches Tal gegraben hat.

Mein Lagerplatz, wie gesagt, ein Glücksfall, oder eine Ausgeburt meiner Geduld. Nicht aufgeben, kommt noch was Schönes, nicht aufgeben, dein Nachtlager wird dich schon finden.

Bei dem Gelände handelt es sich offenbar um einen ehemaligen Bahnhof. Eine stillgelegte Schiene führt daran vorbei. Hinter der ewig rauschenden Autobahn liegt das Dorf Widnau.

Ach und ehe ichs vergesse, zwei der vier Hunde heißen Idefix, Theo … die anderen Namen hatte das reichlich tätowierte Frauchen zwar auch gerufen, aber ich hab sie nicht verstanden.

Nachtrag: Während ich Korrektur lese, kommt die Frau mit den vier Hunden zurück und zwar mit fünf Hunden. Als habe sie meine Bloggedanken gelesen, ruft sie die drei anderen Hunde, Anja, Lucy, Lolo.

Inseln – von Brugg nach Paradies #UmsLand

Ein schmutziger Schwan. Ein ruhiger Fluss. Leichter, noch kühlender Wind, bestes Wetter, Stille, zwei frühe Hundegassigängerinnen.

Etwa hundert Meter hinter mir steht ein Biokompostklo, daneben ein Schild, das diesen Streifen Rheinufer als Naturschutzgebiet ausweist. Zelten ist verboten. Und daran hielt ich mich auch, begab mich zurück in den dichten Wald, der, so sagte mir die Vernunft, doch eigentlich auch ein Naturschutzgebiet sein müsste. Einerlei, tu das, was die Schilder sagen und wenn keine Schilder da sind, die etwas sagen, tu was du willst, aber halte die eigene Vernunft im Blick.

Die einzige Zeltmöglichkeit fand ich bei einem kleinen Teich, der auf der Karte mit „Seeroseteich“ verzeichnet ist, Seerose ohne N. Da es schon fast dunkel war, baute ich das Zelt auf, aß meinen Nudelsalat, den ich zuvor im Denner in Eglisau gekauft hatte, trank ein Bier, sinnierte über Insellagen.

Wie es sich wohl anfühlt, Frosch zu sein in diesem Teich, fragte ich mich. Muss es nicht so ähnlich sein wie Mensch auf diesem Planeten? Eine Insel, die man, bzw. Frosch, nicht verlassen kann. Und wenn, dann nur unter größten Anstrengungen zugeneigt der eigenen Neugier, des eigenen Forschungsdrangs, aber gegen die Natur ansich?

Okay, der Vergleich hinkt. Ich schlief ein, wurde nachts nur ab und zu wach wegen des lauten Gequakes, das, keiner erkennbaren Regie gehorchend, mal aufflammte, dann wieder gänzlich erlosch; manchmal quakte ich mit.

Der gestrige Tag war wider Erwarten anstrengend. Ich hätte es wissen können, schließlich war ich die Rheinroute 2016 abwärtsgeradelt und ich erinnerte mich, dass die Etappe Schaffhausen bis Bad Zurzach selbst abwärts radelnd immer wieder Steigungen mit sich brachte. Thur und Töss sind zu überwinden. Die Gegend ist zerklüftet. Zwischen den beiden Flüssen, die nur wenige Kilometer von einander entfernt in den Hochrhein münden, befindet sich ein Hügelmassiv namens „der Irschel“. Die Dörfer heißen oft mit Beinamen „am Irschel“.

Tagsüber gab es zudem Netzwerkprobleme. Meine Schweizer Simkarte wollte und wollte nicht funktionieren. Selbst Telefonie war nicht möglich, weshalb ich in Hohentengen auf deutscher Seite einlief, mich bei der Kirche breit machte, versuchte, das Kommunikationsproblem zu lösen, bzw., Frau SoSo eine Nachricht zu senden, dass ich wohlauf bin und es nur ein technisches Problem gibt. Nichts ging, auch in Hohentengen nicht. Ich kaufte ein, startete einen letzten Versuch, scannte nach Drahtlosnetzwerken ohne Passwort, fand eins, und obschon es nicht meine Art ist, mich in unbekannte, womöglich unsichere Netzwerke einzuloggen, loggte ich mich ein, bestätigte die AGB – einer Technikfirma, war drin, konnte entwarnen.
Und nun? Zurück in die Schweiz erst einmal. Vielleicht hilft ja die Kur in Deutschland, mein Schweizer Netzwerk zu heilen?

Geduld zahlt sich in technischen Dingen oft aus. Nach zehn, zwanzig Kilometern, ohne mich um das Problem zu sorgen, bimmelte plötzlich der Kurznachrichtendienst und da ich die Schweizer Karte eingestellt hatte, konnte es sich folglich nur um die Ankunft einer Botschaft handeln. Tat es. Ich war wieder da. Das Telefon funktionierte auch. ich rief M . aus Winterthur an, ob wir uns treffen. Winterthur ist ab der Mündung der Töss nur 14 Kilometer von der Rheinradroute entfernt, doch M. würde erst am nächsten Tag wieder daheim sein, gegen Mittag. Das hätte mich zu sehr aus dem Radelrhythmus geworfen.

Kennt ihr dieses Gefühl, voran kommen zu wollen, sei es noch so langsam. Da stört dann jedes Verharren, das nicht der eigenen Regeneration dient. Jene Art böses Verharren, das Warten bedeutet.

Wir verabredeten uns also für ein Andermal, M. und ich.

Gegen neun Uhr abends erreichte ich den Rheinfall, passierte eine Drehschranke, lief den kurzen Rundweg links des Wasserfalls bei der Burg Laufen. Der Rheinradweg führt direkt am Wasserfall vorbei. War fast alleine. Noch ein Liebespaar und noch ein Liebespaar. Beim ersten fotografierte sie den Rheinfall, bat ihn, das Bild zu verlassen, beim zweiten fotografierte er sie vor dem Rheinfall. Ich durchlief den Parcours. Den Wasserfall so still und fast menschenleer zu erleben, hätte ich nicht gedacht. Beim letzten mal, 2016, passierte ich die Touristenattraktion nachmittags. Frittenbude, Asian Food, Leckeis, Souvenirs und in der Burg, unweit des Drehkreuzes (ich kann mich nicht erinnern, ob das damals schon existierte), war ein Areal mit Blenden abgeschirmt, hinter denen ein medizinisches Team eine Wiederbelebung machte. Polizei und Hektik, schnell weg.

Ich schreibe diese Zeilen am Rheinufer sitzend gegenüber der deutschen Exlave Büsingen. Wieder so eine Insel, denke ich. Eine künstliche Insel, mit Grenzen von Menschenhand gezogen. Wie sich wohl die Pandemische Grenzschließung auf den Ort Büsingen, der ja faktisch mitten in der Schweiz liegt, ausgewirkt hatten?

Ich befinde mich in der Schweiz. Auf meinem Handybildschirm werden übrrigens Ortsbezeichnungen wie „Paradies“ und „Neuparadies“ angezeigt.

Ums Land Schweiz #UmsLand

Reiserad vor zwei Hinweisschildern, die nach links den Col de la Schlucht ausweisen, nach rechts Cernay und Thann. Man schaut in eine weite Ebene, offenbar von einem sehr hohen Berg aus. Rechts steht ein Mülleimer aus Beton.

Oder lieber das Sofa? Schon stehen neue Orte auf meinem Zettel, schon skizziere ich ein genaueres Bild der Schweiz, suche nach Radrouten durch Graubünden: Landquart, Klosters, Davos (da wo’s steil wird :-) ), Sankt Moritz. Mir unbekannte Passstraßen, Flusstäler, elend hohe Berge ringsum und schließlich die italienische Grenze. Alleine das Schauen auf der Karte macht mir schon Herzrasen.
Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass ich mehr plane als ausführe. Viel mehr. Dass ich fast nur noch in Plänen und Luftgebäuden aufgehe und kaum noch etwas in die Tat umsetze und mit jedem neuen Plan kommt mehr Angst, mehr Unruhe, reift ein komplexes System aus Verunsicherung in mir.
Und wie sollte es auch anders sein? Wir leben in ungewissen Zeiten. Ungewisser als auch schon. Umgeben, geradezu eingelullt von schlechten Nachrichten, Klima, Krieg, Militärübungen ungeahnten Ausmaßes, Rankwerk für Ungewissheiten allüberall. Fürs einfach nur Kleinmenschsein bleibt kaum noch Kraft. Alles saugt, zerrt, versucht Dich auf die eine oder andere Seite zu bringen, eines unüberschaubaren Bildes, zu dem du dir eine Meinung bilden sollst, ohne überhaupt irgendwelche Tatsachen zu verstehen. Es gibt nur noch Expertenrat. Den Glauben, die Behauptung, die vorgibt, sakrosankt zu sein.
Leicht begreifbare Dinge wie etwa: In zweiundzwanzig Kilometern zweigt Radweg A von Radweg B ab und führt über Pass C ins Flusstal des D, vernebeln, verschleiern, spielen überhaupt keine Rolle im großen Spiel der Weltenränkeschmiede. Als trüge man gezwungener Maßen eine ewige Weitsichtbrile, die einem vorgaukelt, man habe eine Zukunft im Blick, könne etwas bewegen, habe die Chance, teilzuhaben. Nichts hat man.
Ein paar Tage Vergangenheit auf Reisen liegen hinter mir. Etwa 450 Kilometer in den Knochen, die mich von der Pfalz in den Aargau führten. Zunächst radelte ich nördlich und westlich der Vogesen entlang von Kanälen, Blies abwärts, Saar aufwärts, quer durchs westvogesische Hügelland, querte das Departement Meurthe et Moselle, streifte die Vogesen, begab mich direkt hinein, folgte der Route des Crètes, die westlich des Vogesenkamms als ehemalige Militärstraße gebaut wurde.
Einst führte die Narbe mitten durch unsere Gegend. Nun herrscht Friede, Freude Bergtourismus. Die Route des Crètes per Fahrrad? Hmm, ja. Vor 10 Uhr früh und nach 17 Uhr abends ist es recht erträglich. Dazwischen Motorradtourismus, Wohnmobile, PKWs, teils recht knapp überholend und ungeduldig. Gefährlich war es trotzdem nicht. Kriegt man etwas geschenkt auf der Route des Crètes? Nein. Sie führt von Vogesenpass zu Vogesenpass und erzeugt quer zu den Pässen ein eigenes System künstlicher Pässe. Beim Col du Bonnehomme stoße ich nach einstündiger Schiebstrecke über die ehemalige Route de Colmar auf die berühmte Gratstraße. Etwa 900 Meter hoch. Erwartete ich ab dort Flachland? Nein. Ich folge dem Auf und ab und lerne schnell, dass ich zu jedem der west-östlich verlaufenden Pässe in den Vogesen von den künstlichen Pässen, die die Gratstraße erzeugt, wieder absteigen muss. Col de la Schlucht, Col de Cavaillère, glaube ich, ne, der war vor la Schlucht, aber einerlei, erst etwa zehn Kilometer südlich von la Schlucht wird die Gratstraße etwas milder. Beim Abzweig zur Burg (oder ist es ein Berg, oder beides?) Hohneck sitze ich die Mittagshektik aus, liege auf einer Holzbank vor einer geschlossenen Auberge. Ein Trupp Soldaten trifft nach hartem Marsch bei einem uralten Omnibus ein, der beim Parkplatz vor der Herberge auf sie wartet. Sie rauchen, sie plaudern, ich lausche, ich warte. Ja, doch, die Route des Crètes lohnt sich per Fahrrad. Aber nicht in der Hochzeit, in der Hinzchen und Kunzchen ihre Nachmittagsausflüge motorisiert, „ei wie ist das fein, dahin zu brausen“, absolvieren.
Man möge mir diesen Ausreißer in die vergangenen Tage verzeihen. Es handelt sich um ein „Was bisher geschah“. Im Grunde sind die vergangenen vier Radeltage schon Teil meiner Umradelung der Schweiz. Eine Art Prolog und mit den Vogesen auch ein kleiner Vorgeschmack auf die bevorstehenden Pässe.
Ich erreichte die Schweiz beim Dreiländereck in Hunigue, Weil am Rhein, Basel und begab mich direkt auf den Rheinradweg. Die nationale Fahrrdroute Nummer zwei der Schweiz. Nicht ganz einfach, nur auf Basis der Beschilderung mich durch Basel zu wursteln, vorbei an Muttenz, hindurch durch Pratteln, ein Streifzug vorbei an den römischen Ausgrabungen in Kaiseraugst.
Es war heiß, so heiß! Wann war das? Letzten Donnerstag. Nun seit ein paar Tagen bei Frau SoSo, ihren Geburtstag gefeiert, nette Menschen getroffen, und unterschwellig immer wieder mit meinem Vorhaben gehadert. Eigentlich könnte ich auch wieder nach Hause fahren, denke ich oft. Heimisches Sofa. Heimischer Garten. Stille im Kokon.
Mein Plan, via Finnland ans Nordkap zu radeln scheiterte krachend. Das sollte ich an dieser Stelle erwähnen. Ich wurde gebraucht. Und zwar sehr. Als amtsrichterlich bestellter Betreuer von Freund Journalist F. war es eine nervenaufreibende Zeit, drei vier Wochen zuvor, ihn durch die Ethikkommission des kosmodämonischen Krankenhauses zu bringen, ihm einen würdevollen Tod zu ermöglichen. Er ging friedlich am 27. Mai, drei Tage, nachdem meine Fähre nach Finnland ablegte. Durch Finnland ans Nordkap ist „die beste gescheiterte Reise“, die ich je gemacht habe, schrieb ich in mein Notizbuch.
Ich bin natürlich sehr traurig. Viele andere Menschen trauern auch um Journalist F. Zu Lebzeiten wunderbar vernetzt und am Ende doch fast mutterseelenalleine.
Ich stellte fest – während der rekonvalezendierenden vier Tage radelnd in die ganz andere Richtung (nach Süden, statt nach Norden) – die Begleitung hatte mich über die Maßen beansprucht. Oft merkt man erst hinterher, wie gefährlich eine die eigene Gesundheit beeinträchtigende Ausnahmesituation im Alltag ist. Hörsturz, Herzschmerzen, Schlaflosigkeit, zum Glück wieder besser. Nichts von all dem ist geblieben. Die Ohren funktionieren wie eh und je, das Herz tuckert im steten Rhythmus … nur diese allgemeine Lebensunruhe begleitet mich noch. Ich nehme sie mal mit, rheinaufwärts, wenn ich morgen weiter radele.
Aktueller Standort im Aargau ist die Kleinstadt Brugg. Mein Plan ist, ins schweizerische Städtchen Koblenz an der Aaremündung zurück zu radeln und der Radroute Nummer zwei zu folgen, die in Andermatt in die Radroute Nummer eins, die Rhôneradroute, übergaht und schließlich ab Nyon am Genfersee durchs Jura zurück nach Basel. Das sei ein in den Niederlanden beliebter Klassiker rund um die Schweiz, erzählten mir einmal zwei Radler aus Utrecht. Es gebe sogar einen Reiseführer zu der Strecke. Mal schauen, ob ich den Graubünden-Schlenker noch einbaue.
Oder doch lieber heimisches Sofa und Garten?