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Wirrer Artikel über das Erleben

Die Szene kommt nie wieder. Ich bin in Eile, haste mit dem Auto über die Landstraße. Es dämmert. Alles versinkt in Grau. Schwere Wolken hängen über dem Land. Kaum einen Kilometer vom einsamen Gehöft entfernt hat man einen weiten Blick über den Kreuzberg, die Stadt Z., das benachbarte Frankreich. Im Frühling ziehen sich satte, lehmschwere Felder bis zum Horizont. Das tun sie sonst auch, aber im Frühling kommen sie wirklich zur Geltung. Da ist zum Beispiel ein Grundstück, das ich den Pro Sieben Acker nenne. Aus einer bestimmten Perspektive sieht er nämlich aus, wie das Logo des Fernsehsenders Pro Sieben. Die Obstbäume an der Chaussee stehen in voller Blüte und die Luft schmeckt nach Wasser in seiner Urform.

Scheiße. Das wäre ein Foto. Schon überlege ich, zurück zu fahren und den Fotoapparat zu holen, es aufzunehmen. Es wäre ein grandioses Bild. Aber ich bin eilig, will zu Journalist F. „Egal! Fahr zurück,“ ruft eine Stimme, aber die Vernunft erklärt: „das macht doch keinen Sinn. Wenn du den Fotoapparat dabei hättest, wie würdest du das Bild machen wollen? Hier aus dem Auto bei 100 Sachen durch die fliegenverschmierte Windschutzscheibe? Das wird doch nix. Und anhalten mitten im Land, das kannst du wohl vergessen. Bis du einen geeigneten Parkplatz gefunden hast und zum Bild zurück gelaufen bist, ist es dunkel.“ Die Zeit, sie rinnt, tickitick tickitick tickitick tick tick.

Schreibs auf!

Mit 80 Sachen in die Stadt. Die oberen Gebiete sind unbelebt, keine Kontrollen, da rast jeder. Ich lange mir an die Brust. Häuser schieben sich aus dem Dampf des kalten Frühlingsabends, werden Stein, werden Farbe in allen Pastell-Variationen. Kein Notizbuch in der Brusttasche, keine Chance die Szene auch nur annähernd zu skizzieren, um sie später wieder zu beleben. „Du musst es im Hirn notieren, baue dir eine Merkstrecke. Du weißt es. Du kannst es. Du hast es schon oft getan. Nur wenige Worte genügen.“ Eine andere Stimme sagt: „Pah, versuche es gar nicht, die Situation ist zu komplex, gib auf, du wirst es nie rekonstruieren. Schon gar nicht ohne Fotoapparat.“

Trotzdem scratche ich in die Tiefen meiner Seele: „Birnbaum, blüht, Dunst, weites Land, Farbe im Kampf mit der Dämmerung. Werde Eins mit dem Bild. Lebe darin. Sei das Bild.“

Bei all der Notationsarbeit berücksichtige ich notdürftig die Verkehrsregeln, bremse in Zone 30 auf 50, vergesse für die hunderte von Metern, die es benötigt, die Worte in die Seele zu kratzen, das Bild ansich und addiere, schon fast auf der Autobahn: „Es ist das Neunkircher Kreuz der Erinnerung. Dort wo sich A6 und A8 treffen, ist alles, was du wissen musst.“ Lobhudele derweil einen halben Blogartikel, der sich mit dem Mythos Irgendlink beschäftigt und diese seltsame Weblogfigur als egomanisches Wesen entlarvt, was nicht unbedingt schlecht sein muss, „denn“, so kratze ich weiter in die Seele, „nur die Egomanie, und das in dir selbst sein, und das dich selbst lieben und verehren bis zum letzten Tag, kann solche Texte – ahaha, solche Texte denkst du, du hast sie doch noch gar nicht geschrieben – kann solche Texte hervorbringen.“

Auf der A6 hatte ich eigentlich nur noch ein Ziel: so schnell wie möglich einen Zettel und einen Bleistift in die Hand zu kriegen, um die Ideen vor dem Vergessen zu retten.

Bei einem Schiffsbruch muss in der Regel binnen weniger Minuten gehandelt werden. Ein angeschlagenes Schiff sinkt in allerkürzester Zeit und zieht im Sog alles mit, was sich darauf befindet. Klar: mein Schiff ist das Schiff der Geschichten und Erlebnisse. Geschichten, insbesondere aber Erlebnisse haben eine sehr kurze Halbwertszeit. Auf hoher See keine Überlebenschance. (Zur Rettung von Geschichten habe ich vor etwa einem Monat an dieser Stelle geblogt).

So stelle ich mir vor, dass ich beim Ziel, Journalist F., völlig erschöpft aufschlage und zur Begrüßung schreie: „Schnell! Zettel und Bleistift,“ und mich wie ein Sterbender über das Blatt beuge.

Aber alles kommt anders, denn das Radiogedudel lenkt mich ab und ich vergesse.

Vergesse, vergesse, vergesse. Endlich vergessen.

Angekommen beim Journalisten wartet schon das Abendprogramm. Es gilt, gemeinsam die 5-stündige Fernsehfolter des Senders Pro S. zu überstehen, denn dort ist an diesem Abend Frontsänger O. zu Gast bei dem allseits beliebten Spiel Schlag den R. Seit gut einem Jahr stelle ich seiner Band die Galerie als Proberaum zur Verfügung.

Nix Zettel, nix Bleistift, nix Geschichten retten, sondern einzig stupide Glotzerei in einem zugegeben spannenden Zweikampf, den O. nur knapp verloren hat.

So bleibt es leider bei den wenigen, in die Seele gescratchten Worten, aus denen ich mühsam diese Zeilen extrahiere.

Notiz an mich selbst: Lebe im Bild.

PS: der Sender, der die Show macht, heißt genau wie der oben genannte Acker ;-)

Ich im Dialog mit ich über die Lebenszeitdiebe

Wie ich an einer roten Ampel warte und wichtige Gedanken wälze – die vielleicht Leben retten könnten oder eine bahnbrechende Erfindung hervorbringen, Gedanken die mich mindestens glücklich machen, weil ein paar gute Worte dabei sind, die man im Weblog notieren könnte – fällt mein Blick auf ein Großflächenplakat am anderen Ende der Kreuzung. Ein Technikmarkt wirbt für billige Dinge bis zum 25. April, man erhalte 30 % Rabatt auf dieses Gerät und 25 Rabatt auf jenes, und ganz besonders billig sei alles, was in der und der Warengruppe angeboten werde. Klingt ziemlich verlockend, vor allem, weil eine rotlippige Frau auf dem Bild ist. Die Ampel wird grün. Sie wird wieder rot.

Staunend baue ich die Angebote in mein Leben ein und fabuliere von brillianten Großbildern auf der TV-Leinwand und atemberaubendem Tonerlebnis mit der neuen Rundum-Stereoanlage, sowie lieblichen Stunden mit der Rotlippigen auf einem Sofa, welches auf dem Plakat daneben nur 399 statt 699 Euro kostet. Die Ampel wird grün. Sie wird wieder rot.

„Was tust du?“ frage ich mich selbst.

„An einer Ampel stehen und auf Grün warten“.

„Paperlapapp, was tust du wirklich?“

„Öhm, von billigen Produkten träumen“, räume ich kleinlaut ein.

„Und …?“ fordert mich ich auf.

„Okayokay, ich verschwende Lebenszeit, weil irgend so ein Idiot mir ein großes Plakat vor die Nase gestellt hat, das ich von Oben nach Unten lese und auswendig lerne. Ich werde dort einkaufen.“

„Idiot,“ ermahnt mich ich, „eigentlich müsstest du doch alt genaug sein und dein abgrundtiefer Hass auf den Konsum und die Marktschreierei müsste sich so tief in deine Seele gefressen haben, dass du solche Botschaften nicht mehr wahr nimmst. Wie viele Minuten hast du den wichtigen Gedanken an die lebensrettende Maschine, die du gerade erfinden wolltest, abgewürgt und statt dessen in der siebten Hölle des modernen verschlonzten Konsum-Unwetters verbracht? Hm? Hmm? Hmm?“

„Ich wollte keine Maschine erfinden und auch kein Leben retten“, rechtfertige ich mich vor ich, „ich hab friedlich vor mich hin gedacht und die Welt an mir vorbei flanieren sehen. Die Plakate sind ein Teil der Welt, also habe ich sie in meine Gedanken eingebaut. Ich weiß noch, bevor ich sie entdeckt habe, ging es um die Zahl Pi und dass alles rund läuft.“

„Und dann stoppt dich die Botschaft der Werbehaie und nix Pi, nix rund, nix läuft mehr. Du verbringst deine Zeit in Traumwelten, die du dir kaufen kannst oder von denen du wenigstens glaubst, du kannst sie dir irgendwann kaufen. Du brauchst keinen Flachbildfernseher und auch kein Sofa und schon gar keine rotlippige Frau. Denk lieber an deine arme alte Mutter.“

„Mutter?“

„Ja. Mutter, wie sie manchmal da sitzt, nachdem sie den Briefkasten ausgeräumt hat und die Werbeprospekte aufmacht und dir manchmal daraus vorliest: Herzlichen Glückwunsch, Frau Link, Sie haben gewonnen. Ihren garantierten Gewinn von 2000 Euro in bar erhalten Sie auf einer Gratis-Fahrt ins Dahner Felsenland des verschlonzten Konsums, wo wir sie einsperren im Hinterraum einer hässlichen Gaststätte und Sie von geschulten Psychofolterern so lange bearbeiten lassen, bis Sie eine Matratze mit Eisenspänen kaufen, das ist gut für Ihr Kreuz und Sie kriegen noch eine Kaffemaschine, ein Wurstpaket und einen Gartenzwerg, alles umsonst. Sagst du dann nicht grundsätzlich zu ihr: Du solltest das nicht lesen, du solltest deine Lebenszeit nicht auf diese Art verschwenden. Jeder Gedanke, den du damit verbringst, verkürzt dein Leben, du könntest Schöneres tun? Schmeiß den Brief ungeöffnet in den Müll.?“

„Diese gemeinen Zeitdiebe,“ antworte ich ich, „gut, dass du mich zur Raison bringst. So betrachtet knöpft mir der große Werbeagent, ja ein paar Minuten meiner Lebenszeit ab, weil er mich in seine Scheiße rein zieht, die mich nix angeht. Wenn ich täglich an dem Plakat vorbei kommen würde und immer nur zwei Minuten in der Plakatwelt leben würde, dann wären das bei optimistisch geschätztem Restleben ja über 20 Tage Ablenkung. Ohne Schlaf“

„Richtig gerechnet. Aber du lebst vielleicht gar keine 40 Jahre mehr. Morgen könnte es vorbei sein.“ droht mir ich.

Nun sehe ich ein: „Nicht auszudenken, wenn mich beim Betrachten der Plakate ein Auto überfahren hätte. Dann hätte ich – und du übrigens auch – den kläglichen Rest meines – und deines – Lebens nämlich damit verbracht, an Flachbildschirme und rotlippige Frauen zu denken, anstatt sich den entscheidenden Lebensfragen zu stellen.“

Anmerkung: Ich hätte den Dialog auch ohne die ich-ich-Variante schreiben können, wäre vielleicht weniger verwirrend. Aber nun ist er fertig, that’s Weblog, kaum geschrieben, schon offen im Netz. Ich hänge es mal in die Schreibtipp Kategorie, weil es eine Übung für experimentellen Dialog ist.

Le Courant

Le Courant, der große Strom des Lebens macht, dass Du dich gerade im Moment an der Position befindest, an der Du bist. Du liest diese Zeilen.

Le Courant zeichnet verantwortlich dafür, wen Du wann kennen gelernt hast, wen Du kennen lernen wirst. Die Kombination willkürlicher Zufälle lässt Dich bei Aldi an der Kasse stehen. Hinter wem stehst Du? Knüpfst Du ein Gespräch mit diesem Menschen? „Ah, Rotwein! Der Merlot ist gut und gar nicht mal so teuer.“ Wen lässt Du vor, nur weil Dein Karren elends voll ist? „Kommen se, ham ja nur Katzenfutter, gehn se nur vor.“

Le Courant ist unerbittlich. Der träge Kahn Deines Daseins lag fest verankert am Ufer? Kein Erbarmen kennt der Strom, er reißt Dich trotz massivster Ankerketten mit.

Ein kurzer Claim vom Regnen

„Was nass wird, wird auch wieder trocken“, ist einer meiner Lieblingssprüche beim Radfahren. Das Zitat wird in den großen Zitatensammlungen der Zukunft einmal Herrn Irgendlink zugeschrieben werden. Ich habe das Wort in Skandinavien erfunden, benutzte es in Irland, am Rhein, in Frankreich, der Schweiz und Italien. Selbst im unsäglich heißen Sommer 2003 benutzte ich den Spruch, den Neckar hinauf radelnd, in umgedrehter Form: „Was trocken ist, muss unbedingt genässt werden“. In regelmäßigen Abständen tauchten wir unsere T-Shirts in Brunnen oder in den Fluss und streiften sie klatschnass über, um uns von der bis 40-Grad Hitze zu schützen.

Einzig in Island 1992 setzte ich den Spruch zeitweilig außer Kraft, bis es mir gelang, die Trockenheit neu zu definieren; ich nenne die Eigenschaft seither „island-trocken“, was ungefähr dem Zustand frisch geschleuderter Kleider aus der Waschmaschine entspricht.

Heute erster Regentag seit Langem.