Die Seele des Kollegen T.

Für Kollege T., sieht es nicht gut aus. Seit Jahrzehnten steht seine Seele in einem Einmachglas auf einem staubigen Regal in einer Garage in der Birkensiedlung im Kreisstädtchen H. Zusammen mit vielen anderen Einmachgläsern voller Seelen. „Das erzähle ich dir nur, damit du weißt, wie dieser Backes tickt“, sagte T., „für 20 Pfennig hat er jedem, der es wollte, die Seele abgekauft. Das war eine Menge Geld. Damals kriegte man dafür ein großes Eis. Fein säuberlich hat er auf alle Gläser Zettel mit Namen geklebt, so als würde sich darin Erdbeermarmelade, hausgekocht, befinden.“

„Ne, echt? Was für eine bizarre Story.“

„Das ist erst der Prolog. Die eigentliche Geschichte ist noch viel krasser. Backes ist zwei Jahre älter, als ich. Schon zweimal sitzen geblieben und in dem Schuljahr, war er schon wieder versetzungsgefährdet. Er durfte sich keine Fünf mehr leisten, um durchzukommen. Auch nicht in Kunst. Unser Kunstlehrer war ein Grüner, Friedensbewegung, Bart, gutmütig. Also ermahnte er Backes jede Schulstunde, er solle endlich sein Bild abgeben, wenn er es nicht tue, müsse er ihm eine Sechs geben. Die Aufgabe lautete: Male ein Plakat.“

„Hä? So einfach? Und er hat es nicht abgegeben?“

„Am letzten Abgabetermin fragt der Lehrer wieder: Wo ist Dein Bild. Backes trägt einen DIN A 4 großen Schulranzen. Wir haben immer auf A3, also doppelt so groß gemalt. Niemand glaubte, dass er ein Bild dabei hätte. Aber Backes zückt aus dem Ranzen ein Blatt Papier, faltet es auf und sagt: „Da!“ Alle staunen. Der Lehrer ist verblüfft. Auf dem Blatt hatte Backes vor der Schule mit Kuli geschrieben: Der Wald ist grüner, als die Grünen glauben

„Ahahaha“, ich schlug mir auf die Schenkel, „das ist ja eine bizarre Story“.

„Es kommt noch besser“, sagte T., „Der Lehrer betrachtet das Plakat, und kommentiert: Backes, da fehlt ein L. Du hast geschrieben der Wald ist grüner, als die Grünen gauben. – Gib her, sagt Backes, nimmt sein Kunstwerk und reißt am unteren Ende das Wort gauben ab. Der Wald ist grüner, als die Grünen.

Alle waren natürlich gespannt auf die Notenvergabe und keiner glaubte, dass Backes auch nur den Hauch einer Chance hätte, versetzt zu werden. Vier Minus.“

Scheitern – ein Annäherungsversuch

Vom Scheitern.

Vom Scheitern, sage ich eben großmütig, könnte ich ja ein Buch schreiben.

Ich bin das Scheitern.

Menschen, die scheitern, sind mir grundlegend sympathisch, wie sie an einem Bauzaun lagern und hungerleidend ausschauen und jämmerlich eine geklaute Krücke in der Hand halten, um ihren Mitmenschen zu zeigen, ich bin notleidend – vor sich einen Pappbecher, in den nie nie nie jemand einen Pfennig wirft und am Bauzaun hat ein Hip-Hopper geschrieben „1-Mann-Armee“. Selten sieht man solche Menschen, aber sie sind mitten unter uns. Für gewöhnlich werfe ich einen Euro in solche Pappbecher, weil ich weiß, dieser Mensch kann sich ein Brötchen dafür kaufen oder Bier. Und für gewöhnlich scheint die Sonne, denn in diesem Weblog scheint immer die Sonne.

Seit etwa zehn Jahren ist mir bewusst, dass wir Menschen das Scheitern-Gen besitzen. Es löst nach 30 Jahren einen Prozess aus, dem wir uns mit aller Macht zu widersetzen versuchen und dessentwegen wir Dinge tun, die uns selbst zwar verraten, aber weil alle das Gen haben und alle letztlich scheitern, nehmen wir das nicht wahr. Es ist wie ein blinder Fleck. Gescheiterte sind mitten unter uns und führen ein ansehnliches Familienleben, aber wir erkennen sie nicht!

Ich sitze auf der Südterrasse und lausche dem Wind in den Pappeln an der Südgrenze des einsamen Gehöfts, was wie Melodie in meinen Ohren ist – und über Jahre, gar Jahrzehnte, wenn ich so lange lebe, so sein wird. Über das Gesäusel in den Bäumen hinweg, werde ich das Scheitern als Lebensprinzip nie wahrnehmen, es sei denn, ich habe den Mut, es mir einzugestehen.

Gute Gedanken zum Scheitern ereigneten sich eben, vor drei Minuten in meinem Kopf und ich dachte, musste unbedingt aufschreiben, ist ein Lehrstück für alle anderen da draußen: wenn du das, was du eben gedacht hast, so auf Tastatur bringst, wie du es gedacht hast, wird jeder, wirklich jeder, das verstehen und das Scheitern verliert all seinen Schrecken, weil es ja eine genetische Sache ist, für die niemand etwas kann. Es ist wie schwul sein, autistisch intelligent, oder mit 35 Krebs kriegen, oder Zwillinge gebären. Es ist von der Natur gewollt und du kannst dein Konto endlich auflösen, deinen Gläubigern sagen, tschuldigung, schulde ich dir, ist genetisch, kannichnixfür. Du bist fein raus im genetischen Scheitern.

Was ist mit den Porschefahrern mit den grauen Haaren und den 25-jährigen Freundinnen? Die sind doch nicht gescheitert,  trotzdem über 40, oder? Natürlich sind sie gescheitert! Sie sind die schöngelifteten Feinfrisure der modernen Scheiterungskosmetik. Allein kraft ihrer Bankenpotenz sind sie in der Lage, ihr persönliches Scheitern zu verschleiern (das sind ganz miese kleine Typen, die sich jeden Zentimeter ihres imaginären Schwanzes teuer erkaufen – der bekennende Scheiternde hat so etwas nicht nötig).

Ja, wir sind Lügner, wir Menschen. Allesamt gemeine kleine Lügner, die im Spiegelgefecht, gut aussehen zu wollen, über jedwede Leiche gehen, um unseren Status aufrecht zu halten.

Dass Status eine leicht durchschaubare Sache ist, mit der sich seit Jahrtausenden die Machtmenschen luftsaugend über Wasser zu halten versuchen, enttarne ich an dieser Stelle.

Für immer.

Dies ist ein provokanter Artikel. Ich habe ihn, zugegebener Maßen nicht in ganz nüchternem Zustand geschrieben. Als Blogautor kann ich mich also auf ganzer Linie als gescheitert bezeichnen.

Ich bin einer von vielen – je est un des toutes – um es brachial mit Rimbaud zu sagen, der zu jung starb, um dies zu formulieren.

Wenn ich bloß die Worte zusammenbrächte, die ich vor drei Minuten auf der Südterrasse dachte! Rimbaud hätte das gekonnt.

Aber ich, ich bin schlichtweg an diesem Artikel gescheitert.

Sry

Schreiben ist Knochenarbeit! Seit gut 20 Jahren hänseln mich gute Freunde: Du erzählst immer nur von dem Buch, aber schreiben tust du es nicht. Dabei habe ich immer wieder Anläufe genommen, ein größer gestricktes Ding zu fabrizieren, habe auf diese Weise im Selbstversuch, ohne etwas literarisches zu studieren, meine Erfahrungen gemacht und teilweise akribische Experimente gestartet. Erstaunt war ich, dass ich in fünf Stunden etwa 35.000 Zeichen schreiben kann. Das sollte ein Kurzkrimi werden und wenn er mit 35.000 Zeichen zu Recht gekommen wäre, wäre er auch fertig und lesbar. Nun liegt er als Dateileiche auf dem Rechner.
Als leistungsorientierter Bürger waren mir diese 35.000 Zeichen irgendwie wichtig.
Dabei ist Schreiben für mich etwas ganz anderes, als möglichst viele Buchstaben auf einer Tastatur in den Computer zu hacken. Das ist eine stupide Arbeit, die nichts mit Kreativität zu tun hat. Die eigentliche Kreativität meines Schreibens findet unterwegs statt. Nur dort bin ich gut. Nur dort kann ich mir Erinnerungsstützen schaffen, um später in harter Schufterei etwas Gutes zu generieren. Mein ledernes Notizbuch ist Anlaufstelle für kryptische Satzfetzen, mit denen eigentlich nur ich etwas anfangen kann. Diese Satzfetzen sind wie Fertigsuppe, die man aufkochen muss, um ein schmackhaftes Etwas zu verzehren. Manchmal, wenn ich nicht dazu komme, etwas zu notieren, baue ich mir am Wegesrand eine Merkstrecke, an der ich das Wichtige, was ich gedacht habe, befestige. Autistische Genies machen das genauso. So radele ich durch die Welt und neben einem Holzstapel habe ich DIE IDEE, also befestige ich sie an dem Holzstapel und wenn ich auf dem Rückweg daran vorbei komme, erinnere ich mich daran.
Manchmal kommt mir mein ganzes Leben wie eine Merkstrecke vor. Dann ist plötzlich alles wichtig.
Als ich vor ein paar Wochen die Kreisstadt H. durchquerte, wurde mir klar, dass ich das Buch, welches „Europenner“ heißen soll, irgendwann doch noch schreiben werde. Es gibt diese Momente, dass Vieles auf einen einzigen Punkt fällt und man sich plötzlich sagt, das ist es, das ist das Konzentrat. Es ist wie im Traum, der bekannter Maßen schnell und unbarmherzig ist, und der Ecken und Kanten und unerwartete Wendungen hat. Der Traum ist im Grunde auch nur en Komprimat von einem unglaublich großen Ding, das es gilt, nach dem Aufwachen mit viel Fleiß und ohne dabei zu verzweifeln auszubreiten, um endlich klar zu verstehen, worum es geht.
Nicht anders funktioniert mein Buch.
Es ist komprimiertes Wissen, auf den Punkt gebrachtes Leben, assoziative Wendigkeit, und ich alleine bin derjenige, der das Thema ausbreiten kann.
Um es nicht zu vergessen, notiere ich an dieser Stelle:

  • Die Ereignisse 1988 am norwegischen Fluss eröffnen das Dokument
  • Die Durchquerung von Kreisstadt H. am 6. April schließt das Dokument
  • Den Tag zu formen ist eine schwere Bürde
  • Diese Reinheit wirst Du nie wieder erlangen
  • Neben dem Bettler steht grundsätzlich geschrieben: 1-Mann-Armee
  • Du bist der Bettler. Du bist der Geringste. Du bist der, der es tut
  • Waterframe – nenne es den Waterframe. Er rahmt die Geschichte.

Dies sind Notizen an mich selbst, wie sie in meinem ledernen Buch stehen könnten. Tut mir Leid, dass Ihr damit nichts anfangen könnt. Aber so ist das nun mal, wenn man versehentlich das Notizbuch eines Anderen aufschlägt. Es ist eine Bürde, ein Geheimnis. Es lässt einen den Kopf zerbrechen, ob man nicht doch etwas herausfinden könnte. Der Mensch ist ein neugieriges Wesen. Deshalb liebt er Geschichten. Deshalb braucht er Rätsel. Die Geschichten mit Rätseln zu spicken und die Rätsel zur rechten Zeit aufzulösen, das ist die Aufgabe der Autoren.

Grundsatzartikel über die Angst

Pilger S., ich will ihn beim Namen nennen, da das Brimborium um Suchmaschinendeoptimierung hier fehl am Platz ist – er hätte sicher nichts dagegen in einem Sudelbuch im Netz vorzukommen – Pilger Siggi ist 59 Jahre alt. Drahtiger Kerl, Herzinfarkt überlebt, vier Stents, medizinisch gut überwacht. Die 120 km mit dem Radel macht er mit Bravur. Er lebt in Ehe. Kinder hat er glaube ich auch. Seine Haare werden lang und er will sie, genau wie den Bart, nicht schneiden lassen. Ich war erstaunt, dass seine Haare noch so natürlich sind, nur ein paar graue Strähnen. 38 Jahre hat er bei einem französischen Gummiekonzern geschuftet. Nun ist er Frührentner und hat sich in den Kopf gesetzt, nach Santiago zu radeln.  Vor anderthalb Wochen kontaktierte er Kollege T., dessen Telefonnummer unser gemeinsamer Fahrradhändler verpetzt hatte. Siggi will im Vorfeld alle Unwägbarkeiten, die das Pilgerleben bietet, klären. Wer möchte nicht wissen, wie die Zukunft aussieht.

Vor drei Wochen hat er im Netz einen anderen Pilger kennen gelernt, Ernst B., der nur ein paar Dörfer entfernt wohnt. Am 26. April starten sie, obwohl man Siggi gewarnt hatte: „Was denn? Mit Ernst B. willst du auf Pilgerschaft gehen? Der lässt dich doch am nächsten Straßengraben stehen, wenn du außer Puste bist und nicht mehr weiter kannst“. Trotzdem überlässt Siggi die komplette Planung der Reise Ernst B. Dieser hat sämtliche Etappen bis auf den Meter genau ausgerechnet, Hotels klar gemacht, Ziele definiert und Siggi eine Packliste in die Hand gedrückt, was er alles einpacken soll. Ernst B. hat alles Werkzeug, das Zelt, die Landkarten und den Plan im Sack. Siggi glaubt, das ist richtig und will Herrn B. folgen. Am ersten Tag machen sie 126 Kilometer bis nach Metz. Gewagt, finden T. und ich. Aber wir sind ja auch Lumpen, die die Imponderabilien des Lebens in Form von Spelunken, Waldschenken und sonstigen Verlockungen auf dem Opferstock jeder ehrlichen Tagesetappe dreingeben würden. Sowohl T., als auch ich, dachten nach dem Treffen in einer gemütlichen Fischerhütte, die Sache mit Siggi und Ernst kann nie gut gehen. Wären wir pervers, würden wir sogar Wetten abschließen, an welchem Tag die Liaison in die Brüche geht. Siggi hat lange gearbeitet an seiner Pilgerschaft. Für einen verheirateten Mann mit vier Stents ist es nicht leicht, so etwas durchzusetzen. Zur eigenen Angst kommt auch die Angst der Daheimbleibenden, der Ehefrau insbesondere, die die Macht hat, solch ein Vorhaben von Vornerein zu verbieten. Siggi schleppt noch ein Diabetes-Problem mit, was bedeutet, er muss Insulin – bei dieser Hitze auf dem Fahrrad – quer durch Europa schleppen, ständig den Blutzucker kontrollieren, eine einzige, 2500 km lange Jonglage zwischen Über- und Unterzucker. Das wird nicht leicht.

Da habe ich es mit meinem lächerlichen Bandscheibenproblem doch so einfach. Stelle mich so zickig an, fantasiere von einer Alleinsamkeit, vor der ich mich fürchte. Pah. Probleme, die im Kopf entstehen, sind Probleme, die sich wie ein Virus über den ganzen Körper ausbreiten, ihn nach und nach vereinnahmen und entgegen jeder Vernunft das gesamte Lebenskonzept eines Menschen lahmlegen können.

So weit dürfen wir es nicht kommen lassen.

Vorhin betrachtete ich in der Glotze einen Bericht über einen Mann, der vor anderthalb Jahren einen Schlaganfall hatte, teilweise gelähmt war, Sprechprobleme hatte, und der vor einem Monat von einer Weltreise zurück gekehrt ist, kerngesund, gelassen, entspannt, für immer von seinen Sorgen geheilt. Und geheiratet hat er unterwegs auch noch. 15.000 km per Rad.

Daran muss man sich mal eine Scheibe abschneiden und es als Maß sehen, wie gemein die Ängste in einem wirken und nur, weil man mal ein paar verstopfte Adern hatte oder ein Organ versagt hat oder die Nerven eingequetscht waren, ist das noch lange keine Botschaft, dass es reicht, um sich aufs Altenteil zurück zu ziehen und auf den Tod zu warten.

Nun fühlen T. und ich uns ein bisschen verantwortlich für Siggi. Wir glauben, er braucht Hilfe. Wir haben überlegt, ihn noch einmal zu treffen, bevor sie starten; ihm knallhart auf den Kopf zuzusagen, was wir von seiner Liaison mit Ernst B. denken, haben wir uns nicht getraut. Man müsste Pilger Siggi so weit bringen, dass er, selbst wenn sie sich am zweiten Tag schon trennen, alleine weiter radelt. Dafür würde es eigentlich genügen, ihm eigenes Werkzeug, Zelt und Landkarten ans Herz zu legen (oder die Idee, dies zu kaufen; der Weg ist schließlich dynamisch und er entsteht täglich neu, mit oder ohne Partner, alleinsam, zweisam, verzweifelt oder glücklich). Vielleicht machen wir das ja mal noch, lieber Hosentaschenpilgerkollege T.?

Hosentaschenpilger am Scheideweg zwischen Frau, Bier und unaussprechlichen Ortsnamen

Gestern: Radeltour mit Kollege T. Wir ächzen einen Waldweg hinauf zu einem Ort namens Sieben Fichten. Der Sage nach, lebte einst ein Oberförster, der abends im Wald spazierte und heimliche Machenschaften trieb. Schwer beladen kehrte er mitten in der Nacht aus dem Wald zurück. „Was tut der Kerl?“ argwöhnte sein Gehilfe und folgte ihm eines Nachts bis zu den Sieben Fichten. Dort beobachtete er, dass sein Chef Zapfen aus purem Gold von den Bäumen pflückte und sich die Taschen vollstopfte.

Den Samen von Fichten zu ernten, gilt auch in heutiger Zeit noch als ein schwerer, lebensgefährlicher Job, den nur schwindelfreie, todesmutige Kerle ausüben können.

Der Forstgehilfe wartete, bis sein Herr die Arbeit beendet hatte und kletterte in die Bäume, um sich selbst ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Vollbeladen stürzte er ab. Morgens fand man seine verrenkte Leiche unter einem Haufen stinknormaler Fichtenzapfen und wunderte sich, der Teufel höchstpersönlich habe die Hand im Spiel gehabt. Seither erzählt man sich diese Geschichte. Hartnäckig hält sich das Gerücht, alle sieben Jahre bei Vollmond, würden alle Fichtenzapfen zu Gold und man müsse nur den richtigen Zeitpunkt wissen, um schwer reich aus dem Wald zurück zu kehren.

Bei den Sieben Fichten treffen sich sechs Wege, die, bis auf den, den Kollege T. und ich gekommen waren hinab führen in verschiedene Täler. „Von hier aus können wir überall hingelangen, nur nicht zurück“, sagte ich. T. musterte die vielen Hinweisschilder: „Hum, was würdest du instinktiv wählen? Kiörköl?“ verhonepipelte er einen Ortsnamen, „oder doch lieber Bierbach“, säußelte er, „oder gar den Frauenbrunnen“, hauchte er sexuell.

„Bierbach. Doch klar, oder? Für Frauen viel zu alt. Muss unbedingt Bierbach fahren.“

Wir sausten hinab und endeten in einer Waldschenke, bestellten Kaffee (!) und Wurst. Am Nebentisch saß eine Familie mit einem sechsjährigen Kind. „Christus, was möchtest du trinken“, hörte ich die Mutter sagen. „Tse. Christus, so tauft man doch kein Kind“, sagte ich etwas zu laut. „Justus, mein Sohn heißt Justus“, sagte die Mutter. Sie lächelte. Der Junge sah auch nicht so aus, als ob er über Wasser laufen könne und trug keinen Heiligenschein. Vielmehr gebärdete er sich als Nervensäge im ansonsten stillen Idyll.

Der Jakobsweg ist mittlerweile überall. Seit unsere Blicke geschärft sind, entdecken wir an jeder Kreuzung in der Gegend die Jakobsmuschel, das Zeichen der Pilger nach Santiago. So fühlen wir uns, obwohl wir unsere Häuser selten weiter als 15 km verlassen, immer unterwegs. Das Bild der Hosentaschenpilger, welches ich vor ein paar Einträgen geschrieben habe, nimmt eine ganz neue Bedeutung an. Du musst das Land nicht verlassen, um dich fremd zu fühlen, du musst dich nicht bewegen, um unterwegs zu sein. Und im Grunde lernst du echte Pilger am Besten zu Hause kennen, wenn sich der Weg, den sie einst gingen, in ihnen gesetzt hat, und sie ihre Euphorie abgelegt haben, zu sich gefunden haben, in sich ruhen und die Dinge emotional ausgeglichen betrachten. T. und ich malen manchmal dennoch an einer geheimen Pilger-Karawane, zu der wir all unsere Freunde einladen. „Seltsam“, sag ich, „im Prinzip laden wir nur Gescheiterte ein. Verkorkste Typen, bei denen es im Lebensgetriebe mächtig kracht: der Eine arbeitslos, der andere spielsüchtig, der nächste Sozialphobiker, der sich nicht vorstellen kann, das Haus mehr als bis zum Rand seiner persönlichen Todeszone  (und die ist verdammt nah) zu verlassen. Nicht zu vergessen wir beiden einst so glanzvollen Tackerqueens, wir sind doch die Obergescheiterten!“ T. lächelte ein friedliches Pilgerlächeln, wie es tausende Heilande nicht besser hinkriegen würden. „Mein Lieber, nur mit solchen Typen geht das. Nur die haben schon so viel verloren und ihnen wohnt eine solche Sehnsucht inne, dass sie sich eine so lange Auszeit nehmen können.“

(Die Geschichte von den Sieben Fichten habe ich aus dem Gedächtnis nacherzählt. Sie hat Lücken. Lesen kann man sie auf einer Tafel bei den Sieben Fichten; an dem Ort wachsen nur sechs Nadelbäume, der höchste ist vier Meter hoch)