Tschüssikovski und andere Natürlichkeiten

Irgendwo auf der Welt habe ich einmal Bäume gesehen, die streng in eine Himmelsrichtung wuchsen. An einem windstillen, sonnigen Tag wunderte ich mich sehr über die zerzausten Äste, die allesamt in eine Richtung zeigten, als wollten sie einem den Weg weisen: da lang und nicht dort.

Vor Jahren habe ich auch mal keck behauptet: „Der Wurm schmeckt immer nach der Frucht, in der er lebt.“

Der göttliche Physiotherapeut Sch. knöpfte sich gestern meinen Körper vor. Aber anstatt sich direkt auf das Zentrum des Schmerzes, am unteren Ende des Rückens zu konzentrieren, werkelte er vor allem an den Beinen. Ich langte ins Kreuz: „Hier tut es weh.“ „Der Schmerz ist nur die Spitze des Eisbergs“, antwortete er, „die Ursachen dafür sind über lange Zeit selbst gebastelt.“

Da dämmerte mir endlich, dass man, wenn man in einer Firma arbeitet, in der sich alle mit „Tschüssikovski“ verabschieden, nach nur wenigen Wochen die Leute auch mit „Tschüssikovski“ verabschiedet. Weil die Dinge, so banal sie auch seien, oder so gravierend sie einen plagen auf unheimliche Art unter der Oberfläche verwoben sind und man, eingebunden in größere, unbegreifliche Systeme, gar nicht anders kann, als irgendwann „Tschüssikovski“ zu sagen, oder in die Windrichtung zu wachsen oder nach der Frucht zu schmecken, in der man lebt. Der eigene Körper hat keine Chance, zu entrinnen, wenn er über lange lange Zeit durch psychische und physische Feinheiten umgeformt wird. Kann sein, dass es mit den Füßen beginnt, weil vor dem eigenen Bett eine Unebenheit ist, die man jeden Morgen beim Aufstehen überwindet; die somit von der Sohle bis zum Scheitel über all die Jahrzehnte den Körper verformt, bis er krumm und voller Schmerzen ist. Das ist ein einfaches, fiktives Beispiel. Die Wirklichkeit ist leider ungemein komplizierter. Selten gelingt einem ein klarer Blick auf die Basis des Eisbergs, der das Leid, das in einem steckt verursacht. Ich schätze mal, die krumm gewachsenen Bäume irgendwo in der Welt, die ich einmal gesehen habe, erkennen nicht, dass die vorherrschende Windrichtung ihren Krummwuchs verursachen. Vermutlich nehmen sie den Krummwuchs als natürlich hin.

Enthüllende Fragen

„Wann warst du zum letzten Mal am Meer?“ konfrontierte mich kürzlich die tolle T., die irgendwie im Meer wohnt, mit meiner Vergangenheit.

„Am 3. Mai 2000 in der Gegend um Sete. Ich habe das Meer gar nicht wahrgenommen,“  lautete meine Bankrotterklärung.

Physiotherapeut Sch. kommentierte mein Statement, „ich mache einmal pro Woche Rückengymnastik“, mit der rhetorischen Frage: „Und wie oft putzen sie die Zähne?“

Die zittrigen Finger der Nichtleser

Frühling! Der Mann verlässt die lange Unterhose … und: ’s ist Wind, ’s ist Wind, ’s ist Wind, der an den Nerven zerrt.

Zwei charakteristische Aphorimen, die den Tag kennzeichnen. Frühmorgens stand die Wohnungstür sperrangelweit auf. Im Halbschlaf wunderte ich mich über das laute Rascheln der Pappeln und bemerkte erst, als die Katze krächzend in die Wohnung schlich, dass die Tür nicht mehr schließt. Das Schloss klemmt. Was für eine marode Welt.

Ein Rückenleiden, denke ich beim Aufwachen, macht die Welt zweidimensional – ne, quatsch, macht dich zweidimensional. Ist der gesunde Mensch bequem in der Lage, den Raum von null bis über zwei Meter Höhe mühelos zu managen, schmälert sich der Bereich für den Rückenleidenden, je nach Schweregrad. Letztes Jahr war ich zwei Tage lang zweidimensional. Dieses Mal komme ich glimpflicher davon.

Ich habe das Blog durchsucht, um herauszufinden, ab wann ich mich vielleicht wieder gut fühlen werde, denn ich muss doch auch letztes Jahr über das unsägliche Leid geschrieben haben? Aber was macht das für einen Sinn? Prognosen sind nicht bindend und die Zukunft an Hand von Blicken in die Vergangenheit vorherzusagen, hat noch nie getaugt.

Was einzig zählt ist doch die Gegenwart.

Ich bin alles andere als gut drauf. Komischerweise ist es selten Schmerz oder Depression oder sonstiger äußerlicher Einfluss, der einen Menschen schlecht drauf sein macht – es ist die Angst und die Unfähigkeit, Ungewissheit zu akzeptieren.

Vielleicht erklärt das die Magnifikanz von z.B. Wetterprognosen: dadurch, dass man mit ungefährer Treffsicherheit Wind, Regen und Sonne prognostiziert für mehrere Tage, kann man sich schon einmal auf die Zukunft einstellen. Sei es nur ein Anhaltspunkt, die langen Unterhosen überzustreifen. Die Wetterprognose kann die Angst mindern. Sie kann sie aber auch schüren. Vielleicht aber erzeugt sie sie erst?

Interessant ist die allgemeine Hysterie, die sich aus solchen Prognosen ergibt. Der abendliche Wetterbericht malt in unseren Köpfen ja manchmal die schrecklichsten Szenen, so dass man am nächsten Morgen nie wieder aufwachen möchte, weil ja vermutlich Ziegelsteine durch die Luft fliegen werden oder der Blitz einschlägt. Früher war das anders: das Wetter kam. Man nahm es hin, durchstand oder genoss die Zeit und erst hinterher ließ man sich über die Ereignisse aus.

Heute gibt es Prognosen. Katastrophales Machtinstrument, finde ich. Ganze Gesellschaften kann man so in Angst und schrecken versetzen, um sie besser zu beherrschen, um ihnen Regenschirme und Wundermittel zu verkaufen oder Versicherungen und Geldanlagen.

Ich glaube, darin liegt das eigentliche Geheimnis der Blicke in die Zukunft. Wenn ich eine Regenschirmfabrik hätte und einen direkten Draht zum Wetteronkel, würde ich ihm Geld geben, dass er das, was da kommt, möglichst dramatisch darstellt.

Als Virus-Impfstoff-Hersteller, wäre ich sehr daran interessiert, dass das Thema Pandemie in den Medien groß ausgewalzt wird, sobald jemand auch nur niest. Arme Schweine.

Als Vermögensberater würde ich meine Hauptarbeit darauf konzentrieren, den Menschen eine ganz schlimme Zukunft zu prognostizieren, und ihnen heimlich ein Produkt anpreisen, das sie vor dieser schlimmen Zukunft bewahrt.

Und als Weblog-Schreiber – hier lüge ich nicht im Geringsten, noch übertreibe ich – kann ich gutväterlich vor den Schlimmen Folgen warnen, mit denen die vielen armen Nichtleser des Irgendlink-Blogs unweigerlich gestraft werden: zittrige Finger, Blindheit, Bluthochdruck, Inkontinenz, sexuelles Versagen; Ihr werdet Eure Arbeit verlieren, Eure Ehegatten verlassen Euch und die Kinder nehmen Drogen, stehlen Autoradios, missbrauchen Eure Kreditkarte … um nur einige negative Folgen zu nennen, wenn man das Irgendlink-Blog nicht liest.

Wohl dem, der bis zum Ende dieses Artikels durchgehalten hat :-)

Langsam musst du werden, Mensch, um dem Gehalt der Dinge auf den Grund zu gehen. Wie oft durchquertest du das Land und gestattetest Orten, namenlos zu werden im wilden Flug – warum? – alles ging zu schnell.

Disziplin war nie meine große Stärke. Wenn ich diszipliniert wäre, stünde ich jeden Morgen mit dem Sonnenaufgang auf und ginge abends bei Sonnenuntergang ins Bett und würde mich nicht um den Lauf dieser unnatürlichen Welt kümmern, in der die Menschen ihren Hirngespinsten und Träumen und Sehnsüchten hinterher rennen und dabei viele schmerzhafte Opfer bringen.

Dass der Trend zum Schnellen geht und dahin, Vieles auf engstem Raum zu komprimieren, seien es Geld, Erlebnisse oder Glück, wurde mir vor einem Jahr bewusst. Damals schrieb ich die obigen Zeilen. Nun, auf meiner Forschungsreise durch die Krankheit, habe ich es wieder gefunden. Längst vergessen, verdrängt, habe ich die letzten Monate wieder Schwung aufgenommen und bin in den alten Trott des Viel auf engstem Raum zurück gekehrt. Als ob das Leben dadurch wertvoller würde.

Es kann einem passieren, wenn man einen Gebirgspass zu Fuß oder per Fahrrad erklimmt, dass man, sobald man um die letzte Kurve biegt und den Gipfel erblickt, einem Impuls gehorchend, seinen Schritt unbewusst beschleunigt, sich auf den letzten Metern derart verausgabt, dass man vollkommen erschöpft den Gipfel erreicht. Auf diese Weise büßen wir einen Teil unseres Triumphs, schmälern die Befriedigung wenn wir unser Ziel erreichen.

Deshalb ist es wichtig, sein Leben zu entschleunigen, den eigenen Takt zu gehen, Ziel in Gedanken aber niemals offen anpeilen. Verzichten, daneben stehen, beobachten, Leere zulassen, Zeit vergeuden, innehalten, verharren, zuhören, betrachten, riechen, nichts suchen …