Jeder erlebte Tag ist wie ein neues, weißes Blatt Papier. Ich kann es auf verschiedene Weisen bearbeiten, bemalen, collagieren, beschreiben, gedankenlos intuitiv kritzeln. Sicher hängt jeder Text, den ich in diesem live geschriebenen Buch verfasse, auch von meiner eigenen Verfassung ab. Bin ich müde? Lustlos, aufgekratzt, euphorisch, übervoll, rational, surreal, dadaesk, kafkäääsk, kokett?
„Hat der Clown gemundet, Sire?“, fragt mich näselnd mein imaginärer Butler, der allmorgendlich vor meinem Zelt steht, mit einem Tablett in der Hand, auf dem unter einer silbernen Haube mein Frühstück liegt. Ich mag es, wenn er mich, ansonsten englisch akzentuiert, mit Sire anredet. „Der Clown war mal wieder außergewöhnlich dumm, James“, antworte ich Sire-haft teilnahmslos, so als lese ich gerade die Times, „baue doch aus seinen Schuhen ein Kreuz und stelle es am Wegrand auf.“ „Wie üblich?“ fragt James. „The same procedure as every day“.
Mit Mut, Ausdauer und Disziplin im Gepäck mache ich diese Reise. Dänemark hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Ich hatte ein kontinentisches England erwartet mit eingezäunten Ländereien und, nicht zuletzt wegen der letztjährigen Debatten in Dänemark, die Grenzkontrollen wieder einzuführen, hatte ich ein konservatives, striktes Gebiet im Sinn, dessen Bewohner mehrheitlich am rechten Ufer des Flusses siedeln. Hier, im Norden, sieht es jedoch ganz anders aus. Weitgehend durchradeln Ray und ich halb domestiziertes Naturland, Wiesen, Kiefernwälder, Dünen. Ab und zu ein Gard, eine Farm, bestehend aus viel grünem Land mit Getreide, Raps, manchmal Mais bepflanzt, mittendrin ein Hof mit steinerner Pforte. Menschen sieht man kaum. Zugegeben: das Wetter ist schlecht. Auf der Nordseeküstenstraße, über die wir gestern radeln, begegnen uns mehrheitlich deutsche Autos und Wohnmobile.
Nachdem ich den morgendlichen Platten, nach nur anderthalb Kilometern radeln, geflickt habe – dieses Mal hatte sich das Felgenband, welches bei der Montage ungünstig geknickt wurde, in den Schlauch geschnitten – kommen wir zum versunkenen Leuchtturm. Die Attraktion der Gegend. Besucherparkplatz voller Autos und Wohnmobile. Am Parkplatz gibt es auch eine Station mit Leihfahrrädern, die von der Gemeinde Rubjerg zur Verfügung gestellt werden, und die man an verschiedenen Stationen leihen und wieder abgegen kann. Dreißig bis achtzig Touristen auf dem gut dreißig Meter hohen Sandhaufen. Mittendrin ein Loch mit dem Leuchtturm. Mit in den Sand gesteckten Zweigen, versucht man, den permanenten Sandstrom zu bremsen. Backsteine überall von längst begrabenen Gebäuden. Kinder rollen sich die Düne hinab, Verliebte legen Herzen aus Backstein, schreiben ihre Namen. Nicht nur der Wind verwirbelt scheinbar chaotisch alles, was er nur bewegen kann, auch die Menschen sorgen für ständige Verwirbelung von allem, was sie umgibt, und was sie kraft ihrer Kräfte und Ideen verschieben können. Als herrsche ein geheimer Wettkampf zwischen Herzchenmalern und dem Wind, der die Botschaften im Nu wieder mit Sand bedeckt. Was hier wohl alles schon geschrieben wurde, ausradiert, erneut geschrieben? Das kumulierte Gefühl ehrfürchtig gen Westen starrender Menschen über die Jahrhunderte hinweg. Ihre Gedanken, Ideen, wenn man es bloß festhalten könnte … Unter dem Sand könnte sich ein Fischerdorf befinden, eine Stadt, eine UFO-Landebasis, ein Clownsfriedhof, wer weiß das schon. Langsam schiebt sich die Düne nach Osten. Wir trampeln auf einem Lebewesen ohne jeglichen Geist?
Die nächste Attraktion ist ein vierzehn Kilometer langes Stück Radweg, das direkt am Meer auf fest gefahrenem Sand führt. Rechtzeitig zum Beginn des Stücks bei Løkken, setzt Regen ein. Der Strand ist ein-, zweihundert Meter breit, hat mehrere festgefahrene Spuren, auf denen auch Autos und Wohnmobile fahren. Immer wieder muss man kleine Rinnsale durchqueren. Somit wird die Strecke nicht als Durchgangsstraße benutzt. Wir sind fast alleine auf dem Stück. Fußgänger als schwarze Punkte paarhundert Meter entfernt. Am einfachsten radelt es sich auf nassem Sand direkt am Meer. Ich schließe die Augen, fahre blind, zähle die Pedaltritte – eins – zwei – drei – vier – und so weiter bis neun, rempele Ray an, dränge ihn Richtung Meer. So funktioniert das nicht. Ich lasse mich zurückfallen, widerhole das Experiment, lande bei zwölf in einem Stück weichen Sands links von mir. Zen-Radfahren nenne ich diese Disziplin. Ein halber Kilometer vorweg ist ein Sandhaufen. Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, wie er langsam näher kommt, wie ich voller Vertrauen in den Weg durch Muscheln, Steinchen und Sand treibe, ohne mich zu kümmern, was um mich vorgeht. Fünf – sechs – sieben, wo ist Ray? Ich öffne die Augen, fünfzig Meter vorweg, genau da, wo er schon war, als ich die Augen zugemacht habe. Lerne vertrauen in die Leere, die dich umgibt und nur so tut, als wäre sie voller Gegenstände und Gefahren drei – vier – fünf, verflixt, das wird nix mit dem Experiment. Ich befriedige mich damit, dass es theoretisch möglich wäre, Zen zu radeln. Nur der Wind und das Rauschen der Wellen werden dich leiten. Regen auf meine gelbe Kapuze.
In Blokhus ist der Strandradweg zu Ende. Ich vertage meine Idee auf irgendwann mal, wenn ich zurückkehren werde in einem garstigen Frühling mit viel Wind und Regen und ohne Touristen und eine unbestimmte Zeit in der Gegend residieren werde, um das Zenradeln zu erlernen. Langsam beginnend, mich hundertmeterweise an den Strand heranzuwagen, ihn zu erlernen als eines jener leblosen und beseelten Lebwesen, denen kraft menschlicher Phantasie dennoch eine Seele gegeben wird.
Direkt am Strand in Blokhus warten wir starken Regen bei Kakau und Chips und Softeis ab. Dem iPhone gönne ich eine Steckdose. Wegen des Platten werden wir heute kaum mehr als fünfzig Kilometer radeln. Zur Vollversorgung mit Strom muss ich den Nabendynamo mindestens achtzig Kilometer drehen.
Blokhus ist wie ausgestorben. Eine Ansammlung von Hotels, Pensionen, Galerien, Tourishops, ein Lebensmittelladen, zum Glück geöffnet. Der Regen lässt nach. Auf dem Foto, das ich von Rutes Landkarte mit den Shelters gemacht habe, identifiziere ich einen Wildzeltplatz nur zwölf Kilometer entfernt, mit etwas Glück direkt am Radweg. Ich lege das Fon mit dem Foto neben die Radwegelandkarte und suche nach Mustern – die Karten haben völlig unterschiedliche Layouts, Farbcodes – die Shelter-Karte ist detaiierter. Für die Gewissheit, dass „da was ist“, reicht diese Methode.
Spät werden wir fündig, bauen wegen der Stechmücken unsere Zelte auf. Die Handynetzversorgung ist miserabel. Mit viel Krächzen kann ich abends ein paar Worte mit SoSo austauschen. Auch SMS funktioniert, aber an Datenübertragung ist nicht im Kühnsten zu denken.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Hach, herzlich gelacht habe ich beim zweiten Absatz und mir deinen Butler als Archie (Chris Howland in den Karl May Filmen) vorgestellt. Muss luxuriös sein, so ein Butler in der Satteltasche. Oder wo lässt du ihn während du radelst?
Grinsende Gute-Laune-Grüße verpackt in Schönwetter, das dich hoffentlich bald wieder begleitet. Hat Archie mit dem Silbertablett keinen guten Draht nach oben?
Zen zu radeln, Zen zu bloggen, Zen zu photographieren (auf 9″ x 11″ Negativ mit Laufbodenkamera?) – theoretisch geht das wunderbar.
Aber zu Deinem Zenradeln fällt mir ein: Es gibt Blinde, die für ihr Leben gern Fahrrad fahren (sogar Auto) …
Lysets Land … das „Land des Lichts“ nennen die Dänen diese Gegend … ich bin gern da „oben“ :-)
Liebe Grüße,
Tabea
Tabea, das Licht ist atemberaubend – vor allem, wenn die Sonne scheint. Südlich von Skagen gab es einen intensiven, segmentbogenartigen Regenbogen, also ein ziemlich flacher. Hab ihn mit Polfilter fotografiert und entgegenkommende Radlerinnen mit wilden Gesten darauf aufmerksam gemacht :-9
Zenradeln… eine neue Disziplin, bravo Herr Irgendlink! Das kommt ins Buch. In welches auch immer noch, in deinem steht es schon. Und dein Butler ist einfach genial, schön, dass du ihn getroffen hast.
Danke für diesen Text aus der WunderBar des Lebens, ob nun als Clown oder als Radler, als Schreiberling oder Fotograf, als du oder wer auch immer noch… ich mag deine Texte sehr und deine Bilder auch. Nein, nicht alle und immer alles, aber so im Prinzip sind sie weiterhin das Salz in der AlleTageSuppe-
letzteres ist gerade für mich Bloghausen und die Menschen geworden, die ich dort regelmäßig besuche
herzlich grüßt dich Frau Blau
Eben las ich:
‚… dass das Schreiben nichts anderes als eine Verknüpfungsarbeit ist, durch die ganz Unterschiedliches so miteinander verbunden wird, dass sich etwas spannungsreiches Neues ergibt.‘
… und dachte an dich und dein Schreiben.