Da ist nichts mehr. Im Kopf herrscht absolute Stille. Genau wie draußen vor dem Zelt. Kein Nachtvogel zwitschert. Ich weiß nicht, wo ich bin. Das geht mir manchmal so, wenn ich noch halb schlafend aus dem Zelt krieche. Es ist nicht beängstigend. Erst, als ich längere Zeit, ein zwei Minuten, überlegen muss, kommt mir mein Hirnmproblem wieder in den Sinn. Die Vergesslichkeit, die mich seit letztem Winter manchmal plagt. Personen, Orte, Zahlen und Begebenheiten geraten durcheinander. Dass ich nicht weiß, wo ich bin, und was ich hier mache – und zwar länger, als den ersten Moment, vielleicht ein zwei Minuten -, besorgt mich denn doch. Die Fjorde fallen mir ein. Ah. Norwegen! Rattenschwanz von Erlebnissen, Ländern, bereisten Straßen. Radel vorm Zelt. Ich befinde mich auf der Nordseerunde. Endlich klingelts.
Langsam schüttele ich den Alptraum ab, nagle Sturmschnüre in den Boden. Deswegen bin ich doch aufgestanden: das Zelt rüttelte unter starkem Wind und ein paar Tropfen auf das Dach. Vielleicht liegt es am tiefen Schlaf, vielleicht aber auch am beginnenden Lochfraß im Hirn? Normal ist es jedenfalls nicht für mich.
Seit Helleren, seit zwei Tagen ist die Route „endlich“ so, wie viele angekündigt haben. Die beiden Radler an der Fähre bei Stavanger hatten von einem Tag mit 1700 Höhenmetern erzählt und die hysterische Münchnerin auf dem Campingplatz Stavanger prophezeihte einen Reschenpass. „Kennen Sie den?“, fragte sie provozierend, als sie das Damoklesschwert steilster Anstiege über meinem Kopf festzurrte.
Was habe ich gelacht, fast schon übermütig in mich hinein, „Ihr habt doch keine Ahnung!“ und „Mir machen doch Berge nichts aus! Ha! Simplon, sag ich, und Bernardino, Vogesen längs und die Porte de Envalira …“
Die Porte de Envalira oberhalb von Pas de la Casa in den andorranischen Pyrenäen ist von Ax les Thermes kommend in etwa fünf Stunden erradelbar. Mit Gepäck. 1700 Höhenmeter. Etwa vierzig Kilometer berghoch. Eine faire Sache. Du weißt, woran du bist. Bei den Fjorden sieht das anders aus. Von Helleren raus aus dem Jøssefjord über unzählige Aufs und Abs von jeweils Meereshöhe bis zweihundert oder dreihundert Meter, zudem sind die Steigungen manchmal über zwölf Prozent, was mit Gepäck nur noch in Serpentinenschlenkern auf der schmalen Straße möglich ist. Oder ungeteert.
In einem kleinen Dorf ca. vier Kilometer vor Kvinesdal begegne ich vorgestern Abend Ian, einem grauhaarigen Mann, der mich auf deutsch anspricht. Er habe lange in Hamburg gewohnt, Jazzmusiker, Seemann, verliebt in Frauen, die offenbar auch dafür verantwortlich waren, wo überall auf der Welt er seine Zeit verbrachte. Über Gott und die Welt vertiefen wir uns auf philosophische Themen, Theologie, wovon ich kaum Ahnung habe, heißes Pflaster, die institutionalisierte Kirche, die Dogmen in den Köpfen der Menschen und wie sie, felsbrockengleich aneinander knallen, sobald die dogmenbefüllten Wesen, die vom rechten Leben wissen, auch nur ein bisschen einander ins Revier geraten. Was zu dem Schluss führte, dass einjeder seine eigene Religion haben müsste, seinen eigenen Gott, oder am besten gar nichts davon, denn, die Lieber Onkel mit weißem Rauschebart-Geschichte oder Allah ist groß und was weiß ich noch alles, widerspricht sich doch alleine schon dadurch, dass die eine gläubige Gruppe behauptet, ihr Gott sei der einzig wahre und die andere glaubt, ihrer sei es. Ganz so einfach ist es nicht, gebe ich zu.
Ein weiterer Radler taucht auf. Matt aus Birmingham auf Nordseerunde. Er ist der Sänger einer Gruppe namens Fading Caidens oder so ähnlich, die englandweit auftritt und die es sogar ins Fernsehen gepackt hat. Ian empfiehlt uns einen schönen Platz auf einer Wiese umringt von unbevölkerten Bienenstöcken. Ein aufgegebenes Privatgelände am Rande des kleinen Dorfes in der Nähe von Kvinesdal. Zudem windgeschützt, denn von Nordwesten kommt starker Wind auf.
Trotzdem radle ich weiter, durchquere Kvinesdal, radle in die Berge auf der Südseite des Fedafjords, wo ich einen schönen Nachtplatz nahe der fast unbefahrenen Straße 465 finde. Der nächste Tag, Tag 62 der Reise, soll der bisher härteste Tag werden. Reschenpass in Scheiben auf zwanzig Kilometern bis Ore. Dort plötzlich Flachland bis Farsund. Erholsam, ein kleines Fenland an der Südseite Norwegens. Zudem Rückenwind. Etwas kühler als die Tage zuvor, so dass ich in langen Radlerhosen fahre. Kein Supermarkt geöffnet – es ist Pfingstmontag. Noch immer hängen die Festflaggen vor den Häusern. Wer etwas auf sich hält in Norwegen, scheints, hat einen Fahnenmast im Garten. Rot-weiß-blaue Welt. An wenigen Tankstellen kaufe ich Milch, Schokopaste. Vernünftiges Essen für den Tagesbedarf, gar Obst, gibt es nicht. Ich kann meinen Packsack doch nicht voller Chipstüten packen. Ab Farsund hat man die Wahl zwischen Pest und Cholera: Verkehr auf der 43, oder auf und ab auf einer Seitenstraße, die erst zehn Kilometer östlich von Farsund die bis dahin alternativlose 43 ersetzt. Mit meinem jetzigen Wissen würde ich die Alternative nicht mehr wählen. Ein einziges Auf und Ab, ungeteert, unfahrbar. Ich spiele das Kalköferweg Spiel. Sechzig Doppelschritte schieben, Puste holen, sechzig Doppelschritte schieben, Puste holen usw. Mit Obst und Müsli und allmöglichem Essbarem, wäre es sicher einfacher.
Mein Plan, das Süpdkap, Lindesnes zu erreichen, scheitert kurz vor Høllen. Zwar gebe es einen Zeltplatz nur fünf Kilometer entfernt, sagt mir ein Junge, der mit dem Quad und angehängtem Scooter zum Meer fährt, aber ich kann den vermutlich nicht erreichen, da dazwischen einige Kalköfer Wege liegen. Bei einem Holzlagerplatz raste ich um neunzehn Uhr in der Sonne, ruhe mich aus, freunde mich an, bleibe hier. Zum Abendessen gibt es eine doppelte Ration Couscous mit Zwiebeln und Soße.
Nun, morgens an Tag 63, einem Dienstag, habe ich alle Lebensmittel, die ich dabei habe, verbraucht. Hoffend, dass in Høllen ein Laden ist.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Hallo Irgendlink, dieses Auf und Ab hätte ich in Norwegen auch nicht vermutet. Ich sehe mal wieder, wie wenig ich weiß (dabei habe ich mir immer eingebildet, daß der Geographieunterricht an POS und EOS wesentlich besser war als der weiter westlich oder heutzutage) oder wieviel ich schon vergessen habe.
Daß Du Deine Denkschwierigkeiten nach dem Aufwachen dramatisiert hast, das hoffe ich. Für ein Einfach-Weitermachen bin ich dann wohl zu paranoid, zu ängstlich: Ich würde in Panik geraten …
Ebensolche Panik bekäme ich ohne Futter. (Ich hab immer so viele Vorräte im Haus, daß ich zwei Wochen davon überleben kann.) Nun hast Du aber ganz sicher schon eingekauft und Deinen Proviant aufgefüllt. Auf daß Du wieder essen kannst und groß und stark wirst ;-)
Boa, Emil, grad sitze ich auf eine Picknickbank vorm Kiwimarkt in Høllen und schlemme lecker frisches Brot und betrachte die zwei Bananen, die ich gekauft habe. Zwar hab ich gemeinen Hunger nicht gespürt, aber ich stand am Abgrund des Mangels.
Wie es weiter geht nun, weiß ich nicht. 9 km nach Lindesnes zum Südkapp und zurück? Oder direkt weiter. Oder abendessen kaufen und mich auf dem Zeltplatz am Südkapp niederlassen? Es wären zwei drei wichtige Artikel zu schreiben. Aber quetsch die erstmal aus dem ausgelaugten Hirn.
@ emil
deine zeilen spiegeln in etwa meine gedanken. mir würde es ähnlich gehen. zum glück hat irgendlink, wie er mailt, inzwischen Høllen erreicht und kann sich wieder füttern.
(unter uns gesagt: ich hoffe auch immer, dass er bei dramen übertreibt!)
liebe grüsse, soso
Openstreetmap zeigt in Richtung Südkap ziemlich viele Höhenlinien …
Automatisches Schreiben ist weniger anstrengend.
Es wundert mich nicht, dass dein Hirn bei all den vielen Ereignissen, Geschehnissen, Neuigkeiten, Erlebnissen, Eindrücken… so langsam nicht mehr mithalten kann. Ich fürchte, das kommt mit dem Verarbeiten einfach nicht so schnell nach. ;-) Um es auf den Punkt zu bringen: ich glaube, du erlebst bei dieser Nordseeumrundung einfach viel zu viel! :-)
Schön, dass du deine Vorräte wieder auffüllen konntest! Die Kiwi-Märkte haben uns damals im Norwegen-Urlaub 2002 auch immer gerettet, denn im Restaurant war uns das Essen viel zu teuer! Norwegenpreise halt… :D
Dir und der Homebase liebe Grüße,
Andrea
danke, liebe andrea, für die lieben grüße – auch zurück und mal zwei welche!
ja, das mit dem zu viel und zu voll – gut möglich, dass es so ist. mir würde es jedenfalls so gehen!
Wo Steckst du gerade? Wenn du dich nicht schon auf den Rückweg befindest, lieber Irgendlink, würde ich sagen, fahr weiter nach vorne, du kannst eh nicht alles abradeln.
Me culpha, die Wege in Norwegen sind oft voll blöd, nicht gut geteert, voller Frostchäden, ratterratterholperholperratter, sorry. Und das heidnische Land ist ganz anders als zum Beispiel England, Feiertag in Norwegen, da kaufst du nix, alles zu.
Passt gut auf dich auf, übernimm dich bloß nicht in dieser Art nochmal, liest du! :-)
Was ist bitte schön automatisches Schreiben?
Hmm? Automatisches Schreiben? Guttenbergen?
Andrea, damals, als SoSo und ich durch Norwegen tourten per Auto, nur paar Tage, kam es uns nicht so teuer vor. Aber nun per Radel! Holla!
Der Zigarettenschmuggel wäre eine interessante Nebeneinkunft. Pfanddosensammeln bringt leider nur 10 Kronen pro Tag :-)
Natürlich gibt es in der Hölle Läden – zumindest in nach-danteschen Zeiten ;-)
Selma aus Cley :-)
@Buchdame: AUtomatisches Schreiben ist – nun, eine Schreibtechnik. Erste Hinweise liefert Écriture automatique.
Also ich fand das eine sehr schöne Beschreibung Deines Seins. Vielleicht die beste bis jetzt (aus meiner subjektiven Sicht). Statt mich auf die durchfahrene Landschaft zu konzentrieren, war ich endlich einmal „bei Dir“. Konnte genau mit empfinden. Oder lags daran, dass ich diese Situationen selber schon erlebt habe? Sind sie eine Beschreibung des Wanderes? Des Unterwegsseins an sich? Egal, ob mit Rad, Kanu, Skiern oder zu Fuß? Irgendwann erlebt der Wanderer die von Dir beschrieben Situation, unabhängig von Landschaft, Land und Art der Bewegung?
Inch, Recht hast Du. Irgendwann und immer erlebt man es so.