Schafsroulette

„Na, mein Kleiner, kannst du denn schon deinen Namen schreiben?“, sprach der Mann mit verstellter Kasperle-Stimme. „Mhmm“, druckste ich stolz. Der Mann reichte mir einen Stift und Papier. „Na, dann zeig mal, was du kannst, guck, da in das weiße Feld kannst du reinschreiben.“ Wie ein Lämmlein, das schwanzwedelnd an der Zitze der Mutter trinkt, bin ich aufgeregt, fühle mich wohl und geborgen wegen der Aufmerksamkeit, die mir der Kerl mit dem Rauschebart gibt. Mit krakeliger Kinderschrift schreibe ich „i r g e d i n k“ auf das Papier.

Jahrzehnte später, Nordschottland.

Das könnte ein fotografisch oppulenter Tag werden. Schon drei Kilometer östlich von Tongue stehe ich vor einer sonnenbestrahlten Bucht. Die auslaufende Ebbe gibt Sandbänke frei, von denen eine aussieht, wie die künstlich aufgeschüttete Palmen-Insel in Dubai. Unbebaut und klein. Der Himmel zeigt alle Grautöne. Im Norden stürzt ein Regenbogen ins Meer. DAS IST MEIN SCHOTTLAND! So habe ich es mir immer vorgestellt. Alleine für diesen Moment hat sich die 2800 km lange Schinderei mit dem Fahrrad gelohnt. Gejagt von Regenschauern mache ich ein paar Bilder und einen Filmclip. Der Wind weht immer noch mit 25 Meilen pro Stunde, zum Glück aus Westen.

Später muss ich erkennen, dass dies der einzige Streifen Sonne ist, den ich an diesem Tag erlebe. Genau wie es auf dem Papier steht, auf das ich vor langer Zeit meinen Namen geschrieben habe.

Wie Speedy49 in seinem Kommentar, ein paar Artikel zuvor geschrieben hat: die Gegend ist hügelig. Sie ist wunderschön, kahl, Ginster, viele kleine Seen, Rinnsäler, Moos, Braun- und Olivtöne dominieren und das allgegenwärtige Himmelsgrau. Wenn nicht ab und zu ein Wäldchen in den Tälern wachsen würde, könnte dies glatt Island sein, das ich 1992 umradelt habe. Der Radweg verläuft auf der A836, die zwischen Tongue und Strathy weitgehend eine einspurige Straße ist, mit Ausweichstellen alle paarhundert Meter. Nur die oft zwei bis drei Zweibrücker-Kreuzberg-hohen Steigungen sind zweispurig. Zwei vollbeladene Holzlaster donnern an mir vorbei.

Auf einer Kuppe eine einsame knallrote Telefonzelle, ein wunderbares Fotomotiv, das ich wegen des Regens links liegen lasse. Ich beschränke mich nur auf die „Pflichtfotos“ alle zehn Kilometer, die das Grundgerüst der Kunststraße bilden. Und selbst die führe ich schlampig aus, ohne Belichtungskorrekturen. Die Unbilden der Natur sind in den zehn Kilometer Fotos wunderbar zu lesen. Muss ich mich an den Straßenrand quetschen, weil die Stelle unübersichtlich ist und Autos an mir vorbei wollen, werden die Bilder exzentrisch, ich halte den Fotoapparat schräg, verwackele. Habe ich Zeit und ist es ungefährlich, kann ich vom Rad absteigen und mitten auf der Straße fotografieren. Das Wetter, herrjeh. Hätte ich bloß nicht den Pachtvertrag auf Schlechtwetter unterschrieben, damals bei dem Herrn Wettergott, der nur so getan hat, als wäre er ein guter Kasperle-Onkel, der sich dafür interessiert, ob ich schon schreiben kann.

Ich rolle auf Thurso zu ab etwa Reay auf einer kleineren Straße durch flaches Schafland. Die Weiden sind mit gespaltenen, etwa 80 cm hohen Steinplatten umgeben, Kilometerweit. In einer schlammigen Baustelle sortieren zwei Männer Steine. Ich esse zwei Bananen und eine Birne im Schnelldurchlauf. Sobald ich anhalte, friere ich, bin nassgeschwitzt. Hamsterrad. Denke mich hinüber nach John o‘ Groats. Thurso lasse ich links liegen, nehme ich mir vor. Bei dem Sauwetter will ich keinen weiteren Tag mehr in Schottland radeln. Oder soll ich schon von Thurso zu den Orkneys übersetzen?

Der Wind treibt mich vorbei an Schaf Nummer 64 irgendeiner Herde auf einem zwei Fußballlfelder großen Wiese links. Rechts eine weitere Parzelle mit durchnummerierten Tieren, die sich vor dem Regen in die Wiese kauern. Nummer 56. Ich könnte Schafslotto spielen. Ich beschließe ein Bloggesurteil: wenn ich auf einer der nächsten Weiden das Douglas Adams’sche Schaf mit der Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens (Nr. 42) sehe, nehme ich das Schiff von Thurso, wenn nicht, radele ich schnurstracks nach John o’Groats.

Schaf Nummer 9 begegnet mir ein paar Kilometer weiter. Auf einer anderen Wiese haben die Schafe nur bunte Punkte. Sind das Codes? Ähnlich, wie man sie auf elektrischen Widerständen markiert. Eigentlich könnte man da auch Smilies drauf malen oder coole Sprüche. Ich würde meine Herde mit Worten bedrucken. Aufs erste Schaf würde ich schreiben „Welcome“ aufs zweite „To“ und auf das nächste „Scotland“. Auch eine Schafs Col Art Aktion wäre denkbar, bei der namhafte Künstlerinnen und Künstler der Region die Tiere liebevoll bemalen. Künstlerische Sodomie. Ich bin verrückt. Dass noch keine Graffitikünstler auf das Medium Schaf gekommen sind. Man bedenke die Möglichkeiten.

Mit 20-30 Sachen rase ich nach Thurso, spreche in der Touristeninfo vor, lümmele an der River Thurso Mündung und beobachte die Wellen, wie sie über die Kaimauer schäumen. Atemberaubend. Kaufe Geld an einer Cashmachine, einem Geldautomaten, kaufe ein, checke Bed and Breakfasts, bin schon fast wieder raus aus der Stadt. Es regnet gerade nicht, in Gedanken bin ich schon in Gills Bay, wo es auch eine Orkney Fähre gibt, will nur eben noch schnell das Waterside House anfragen. Es ist so kalt. Man lässt mich ein und so kommt es, dass ich diese Zeilen in Zimmer Nummer 5 schreibe, frühmorgens mich wundernd, wie um Himmels Willen der Apfelbaum vor meinem Fenster es immer wieder schafft, zu blühen.

Exakt zwei Minuten Sonne pro Tag stehen Herrn Irgendlink laut Pachtvertrag zu. Blick aufs wilde Meer drei Kilometer östlich von Tongue an der A836.

5 Antworten auf „Schafsroulette“

  1. wenn du die 42 nicht gesehen hast, heißt das noch lange nicht, dass da keine 42 war!, orakelt soso.

    *flüstermodusein* du hast mit zaubertinte unterschrieben! nur wusstest du das nicht! die schrift ist längst verblasst! du bist frei! *flüstermodusaus*

  2. Schade, dass du solche Bilder wie das obige nicht öfter siehst. Diesem Zauber kann man sich kaum entziehen. Es sieht wunderschön aus.

  3. Gibt es eine Steigerung von „Strapaze“?
    Meinst Du, wenn Du auf den Katholikentag nach MA fahren würdest, fändest Du eher einen Sinn?
    Hat Dir vielleicht eine der Landladys ihren gesagt?
    Dein Weg ist es doch…
    Gruß von Sonja

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