Private Brain vs. Common Brain

„Sandringham, genau. Das ist ein guter Ort“, sage ich. Hanne und Klausbernd schwärmen von der Park ähnlichen Gegend nordöstlich von King’s Lynn, kaum 60 km zu radeln. Dort habe die Queen einen Landsitz, der Campingplatz sei ein Traum, man könne ausgedehnte Spaziergänge, Stille, Wohlfühl usw. Aber bloß nicht wild campen dort, warnt mich Hanne. Sie verweist auf einen Blogeintrag vom Team Frischluft (der ursprüngliche Link funktioniert nicht mehr, hier ein Link ins Reiseblog), das die Nordseerunde 2011 in umgekehrter Richtung gemacht hat. Da um Sandringham vermutlich alles der Queen gehört, befindet man sich, sobald man die Straße verlässt auf Militärarreal. Ich habe auf Golfplätzen gezeltet, auf Sportplätzen, vor Kirchen, auf Bauschuttdeponien und neben Silagelagern französischer Landwirte. Nie auf einem Militärgelände.

Der Start in Rhu Sila fällt schwer, das hatte ich im vorigen Artikel schon erwähnt. Die wenigen Tage haben genügt, mein Gewohnheitskonstrukt, nach dem meine Reisetage ablaufen, vollständig umzustricken. Die philosophisch angehauchten Abende, das Sitzen an einem Tisch, die stetige Verfügbarkeit von Dusche, Toilette, ja, sogar Sauna, Geschirrspülmaschine, all das, was das „normale“ Leben in der westlich zivilisierten Welt ausmacht.

Unterwegs rekapituliere ich meine beiden Gastgeber: Hanne ist eine der wenigen Fotografinnen, die ohne sich groß von der Außenwelt ablenken zu lassen, fotografieren kann. Als sie mich in Cley bittet, stell Dich doch mal dort und dort hin, stehen wir direkt neben einer Baustelle. Vier britische Maurer schauen vom Gerüst und wundern sich, rufen etwas. Unbeeinflusst drückt sie den Auslöser, gibt Anweisungen. Ich, das Model, lasse mich von ihrer Ruhe mitziehen. zwischen Model und Fotograf muss es immer eine enge, unsichtbare, gefühlsmäßige Verbindung geben, sonst wird das Shooting nix. Zwanglos.

Über Blakeney und Stiffkey, wo wir im Red Lion gegessen hatten, radele ich nach Wells. Umtanzt von Regenwolken. Die A149 ist relativ ruhig, jedoch mit Vorsicht zu genießen, da auf den geraden Stücken mancheiner mit 130 Sachen dahinfliegt. :-) Während ich mit 10 Meilen die Stunde Richtung Westen kurbele, schreibt Klausbernd an einem Artikel über meinen Besuch, soll ich abends erfahren, in dem es um die unvoreingenommene Sicht geht, mit der ich das Land erforsche. Nach dem Trial (oder heißt es Try) and Error Verfahren stelle ich fest und gleiche mit Vorhandenem, Gehörtem, schon Erlebtem ab, revidiere, wiedererlebe, revidiere erneut, meißele aus dem Nichts meines Innern alleine an Hand von Erlebnissen ein unperfektes, aber umso lebendigeres England-Bild.

Das Phänomen Klausbernd! Zu sagen, er wäre ein wandelndes Lexikon, würde der Sache nicht gerecht. Die ledergebundene Encyclopedia Birtannica, die auf einem Regal über der Tür des Bücherladens in Cley steht, würde der Sache schon eher gerecht. Pack noch sämtliche Dudenausgaben dazu und die Gesamtwerke namhafter Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Weltliteratur und du wirst dem Fall Klausbernd schon eher verstehen. Erstaunlicherweise ist die Konversation trotz allem zwanglos – eine sehr feinfühlige Art, zu wissen, aber nicht überheblich zu sein.

Während ich radele, arbeite ich meine Gedanken ab. Vielleicht eine moderne Form des Träumens, des Tagträumens. Oder meine spezielle Form. Wie auch immer. Mir wird plötzlich klar, wie sehr sich die Menschheit verändert, seit es Internet und Wikipedia gibt, Wissensdatenbanken. Gehöre ich schon zu der Fraktion Menschen, die ihr Wissen gnadenlos outsourcen, statt sich etwas zu merken, die sich sagen, achwas, das schlag ich doch besser bei Wikipedia nach? Nein. Ich bin noch in der Grauzone. Ich denke, um echtes, gespeichertes Wissen im eigenen Hirn kommt man nicht herum. Sonst wird man unecht, oberflächlich.

Wohlgemerkt: das sind Gedanken, die ich mir während des Radelns auf der A149 mache. Ich überhole ein älteres Radlerpaar, die alle 2 km stoppen, um an ihren Gepäckträgern etwas zu zurren, Regenhosen herauszukramen, wieder einzupacken. So auch ich. Die Wetterlage ist so inkonsistent, dass man weder mit, noch ohne Regenkleider gut fährt. Damokles-Wolken baumeln von Süden. Hach, Wissen früher und Wissen heute, Lernen früher und Lernen heute. Das externe Hirn, an dem wir alle gemeinsam schustern, namens Internet, wie wird es wohl in 100 Jahren aussehen? Wird es solche Menschen, wie vielleicht die beiden alten Radler, die ja auch noch eine klassische Schulbildung genossen haben, mit Gedichte lernen, mit den wichtigen geschichtlichen, geistig, philosophischen, politischen Strömungen usw. überhaupt noch geben? Oder sieht der Unterricht in der Schule der Zukunft so aus: Schreib nen Aufastz über den weltberühmten Nordseeumradler Irgendlink, der einst anno 2012 rund um das mittlerweile trocken gelegte Meer geradelt ist. Die Infos findest Du unter http://blablablub.de. Und wenn du den Aufsatz fertig hast, kannst du alles wieder vergessen, denn es ist ja in unserem „Common Brain“ gespeichert.

Ab Burnham Market bin ich wieder auf der Cycleroute Nr. 1, erstaunt über zweibrücker-kreuzbergeske Steigungen zu radeln. Langatmige 4% hoch und gegen Dersingham wieder bergab. Den einzig ernst zu nehmenden Hagelschauer überbrücke ich in einem Shop in Snettisham. Queens Land. Ab Dersingham radele ich in beautyful Kiefernwäldchen, Mischwäldchen. Entlang der Straße herrscht für 7,5 Meilen striktes Halteverbot, was ich mit der Wichtigkeit der Besitzenden in Zusammenhang bringe, denen das parkähnliche Gelände gehören mag. Zwar ist es nicht eingezäunt, aber nach dem, was ich bei Frischlufts gelesen habe, bin ich nicht erpicht darauf, dort wild zu zelten.

Sandringhams Campingplatz liegt mitten in diesem Wald, genau am Radweg. Beim Check In bei sehr freundlichen Ladies, stelle ich mich auf einen Nachtpreis von 27 Pfund ein, wie damals in, wo wars noch gleich? Drunten in Kent. Knapp 9 Pfund kostet der Spaß. Ich bin baff. Persönlich führt man mich zu meinem Platz, weißt mir eine eigene Toilette zu. Das Gelände im Kiefernwald scheint riesig. Überall Vögel, flanierende Fasane, fette Tauben. Aus allen Bäumen ruft es Gu’Guuh-Gu’Gu’Guuh. Und was is‘ das nochma‘ für’n Tier, das lebt auch auf’m einsamen Gehöft? Wiki, hilf!

6 Antworten auf „Private Brain vs. Common Brain“

  1. wissen selbst abzuspeichern ist bestimmt förderlich oder unbedingt sogar… denn es ist ja jetzt schon erwiesen, dass dank wiki die menschen nur noch ein oberflächliches wissen haben, damit aber umso lauter protzen…

    der campingplatz tönt zauberhaft und klausbernd und dina möchte mensch doch gleich kennenlernen. hagelschauer hingegen braucht jetzt niemand mehr… weder du, noch wir hier ;o)

    gut radel und denk und so herzlich u.

    1. Lissi, vielleicht klappt ja der Besuch im „Spurensalon“ in Winterthur. Dann könntest Du die ProtagonistInnen gleich mehrerer Blogs dort antreffen. Emil, ich glaube, da hab ich auf dem winzigen Touchscreen etwas verschusselt. Alle Links sollten passwortlos sein. Einer ins Dinablog und einer zu Klausbernd.
      Buchfeen, mit der Oberlehrerbehauptung liegt Ihr aber völlig falsch. Zu Masterchens excellentem Kommunikationsstil gehört unbedingt das gleiche-Augenhöhe-Prinzip.

  2. Also,Weißt Du … Da lockst Du mich mit der Aussicht auf echte Präkognition auf eine Website, auf der «über den weltberühmten Nordseeumradler Irgendlink, der einst anno 2012 rund um das mittlerweile trocken gelegte Meer geradelt ist’ berichtet wird.

    Aber Du gibst weder Benutzername noch Paßwort dazu – böser Kerl Du ;-)

    Bestes Radlerwetter wünsch ich Dir.

  3. Hi liiiiiieber Jürgen Irgendlink,
    wie sitzen vorm Kamin, in dem ein feines Feuer brennrt, Dina schreibt und der Master liest. Ja, das mit dem outgesourcten Wissen ist schon ein Problem. Wir müssen in der Fayrie-Schule noch viiiel Wissen lernen, zumal wir Buchfeen sind. Unser LehrerFayrie sagt immer, ihr könnt doch gar nicht beurteilen, was im Netz gesponnen ist (das ist vieles) und was nicht, wenn ihr kein Grundlagenwissen habt. Und Masterchen hat ja auch seine oft nervig pädagogische Seit, ihhhhh, da wird er oberlehrerhaft. Er erzieht uns dazu, viel zu wissen und erst selbst zu denken, bevor wie die Wikipedia bemühen. Er dagegen ist Lexika -Freak und sucht noch in Büchern wie anno Dazumal. Unsere liebe Dina ist da moderner: Sie ist netzweise und liegt gerade auf ihren nicht-existenten Bauch vorm iPad.

    Wir Buchfeen wünschen dir frohen Radeln, Trockenheit und viele liiiiebe Leute, die dir helfen, wenn du es brauchst.
    Feenhauch und ganz liiiebe Grüße von Dina und dem Master
    Ach, wir sollen dir noch vom Master bestellen, vor der Humber Bridge kommst du fast unmittelbar an einem alten Rasenlabyrinth vorbei, das etwas jenem in der Kathedrale von Chartre ähnelt, es ist braun ausgeschildert, wie alle Sehenwürdigkeiten bei uns in England (Masterchen beschreibt es in seinem Buch „Magisch reisen: England“).
    Gerade krächsen die Fasane im Garten, was wohl „Viel Glück für Irgendlink“ heißt.

  4. Toll, dass es doch gut geklappt hat, dass du Sandringham relativ trocken erreicht hast. Puuuuuh, seufzen die Buchfeen erleichtert. Wir haben uns den ganzen Tag Sorgen gemacht, hier hat es mitunter Pfützen geregnet und als wir abends den Filmclub in Wiveton („Theorem“ von Pasolini) aufsuchten, wurde sogar der Volvo auf die Probe gestellt. Nicht auszudenken, auf solch einen durchweichten Schlammboden zu zelten.
    Der Haus-Fasan in Rhu Sila patroulliert gerade lautstark, ich liebe diese lokale Vogelgeräusche.
    Sei froh, dass du nicht vor Barkingham Palace übernachtet hast! :-)

    Herzlichst, Wuff Wuff und toi, toi, toi, möge das Wetter sich bald radelfreudiger zeigen. Wir vermissen dich.

  5. Ach Irgendlink: blablablub existiert tatsächlich ;-) Die werden sich wundern, woher soviele Zugriffe kommen ;-)

    (Gut, es war nur eine Adressangabe, die nicht verlinkt war. Aber Firefox kann die auch öffnen. Sollte ein Scherz sein …)

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