Vom Tod

Das offene Grab meiner Großtante, der Herbsthimmel und die fast kahlen Linden auf dem kleinen Dorffriedhof, die etwa 60 schwarz gekleideten Trauernden, Nachbarn, Freunde, ein bisschen Familie und der würdige Pfarrer, Hirte von etwa tausend Menschen irgendwo in der Nordpfalz.

Ich warf drei gelbe Rosen ins Grab, überlegte etwas zu sagen. Tschüss Tante, hätte ich vielleicht gerne gesagt. Aber ich habe sie kaum gekannt und fühlte mich von den anderen Gästen der Trauerfeier beobachtet. Also still die Hände übereinander legen, runterschauen, ein paar Sekunden warten, dann hinauf schauen zu den Linden wie sie vorm Grau des Herbstes zur Ruhe kommen. Das Hochschauen hab ich für mich getan. Ich mag es, zu den Baumwipfeln zu schauen und die große weite Welt dahinter zu ahnen.

Während der Trauerrede habe ich mehr über meine Großtante erfahren, als ich zu Lebzeiten über sie wusste. Das Brisanteste war wohl, dass sie nicht hätte kinderlos sein müssen. Mit 34 Jahren in den schlechten Zeiten nach dem Krieg war sie einmal schwanger, aber das Kind starb noch in ihrem Bauch. Der Pfarrer hat gut recherchiert aber mit den Worten, sie habe sich mit ihrem ersten Mann nicht verstanden, hat er ziemlich untertrieben. Geschlagen hat er sie. Also hatte sie sich scheiden lassen. Kein Platz für sowas in einer Trauerrede.

Die Tante ist nur fünf Monate nach ihrem zweiten, besseren Mann gestorben. Sie wollte nicht mehr. Als man vor kurzem sagte, man wolle das Grab des Onkels endlich einrichten – ich glaube es ist kaum zwei Wochen her – wolle es bepflanzen und einen Stein setzen, sagte sie, wartet, es dauert nicht mehr lange, dann müsst ihr es wieder aufreißen, es wäre schade um die schönen Blumen.

Letzten Samstag ist sie eingeschlafen.

Ist schon ein paar Tage her, dass ich jemandem gesagt habe, lebe hier und jetzt und damit meinte ich: lebe auf Teufel komm raus, nimm alles mit, mach dir keine Gedanken um kleingeistige Moral und versuche nicht die Erwartungen, von denen du vermutest, dass sie an dich gestellt werden, zu erfüllen. Eine kompromisslose Aussage war das und ich war auch nicht mehr ganz nüchtern, aber aus mir sprach die persönliche Erfahrung, dass einem grundsätzlich der Tod im Nacken sitzt und dass man ihm nur entgegen wirken kann, wenn man explizit nicht sterben will. Wenn man nämlich sterben will – so wie meine Großtante – und obendrein ein respektables Alter erreicht hat, dann klappt das auch. Es klappt sogar bei Menschen meines Alters, kürzlich geschehen mit der Künstlerin C., die einfach einen Giftcocktail geschluckt hat. Hat prima funktioniert. Über Künstlerin C. habe ich geweint, weil sie noch so jung war und weil sie so viel Leid erfahren hat in ihrem Leben, dass sie nicht mehr weiter wollte. Tante hat sicher auch Leid erfahren und wollte letztlich auch nicht mehr weiter.

Lebe hier und jetzt und was das Zeug hält, habe ich jemandem erzählt. Halt dich nicht zurück. Sei unverschämt (im Wortsinn), denn dein Leben ist dein einziges und du bist der Einzige, der ein Interesse hat, dass es auch glücklich wird, die anderen scheren sich einen Dreck um dich.

Wem hab ich das bloß erzählt? Oder war es etwa ein Selbstgespräch?

Während der Pfarrer von den Notzeiten nach dem Krieg erzählte blintzelte ich durch die Friedhofslinden in der Vermutung, dass dahinter eine große weite bunte Welt liegt mit all ihren Wundern, die es zu erkunden gibt, eine Welt voller Abenteuer und absonderlicher Gebräuche – ich glaube, ich dachte an eine Kasba im Süden Marokkos – wie eine Fatamorgana stand sie am Himmel. Seltsam, nicht?

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