Ich müsste jetzt nicht bloggen. Es ist 3:38. Ich bin hellwach. Hellwacher, als all die anderen Hellwachs auf der Reise. Zum ersten Mal seit fünf Wochen wünschte ich, die Zeit verginge. Zum erstenmal nehme ich Zeit wieder wahr, gibt es ein Vorhin und ein Nachher und ein Bis-dann. Das Haus rumpelt. Durchs Doppelglasfenster summt ein Auto. Die Stadt ist still. Im Bett neben mir schnauft der klägliche Rest meiner Familie. Rodrigo ist ein guter Zeichner. In seinem schwarzen Moleskine hat er ein paar Skizzen von Unterwegs gemacht: die Kathedrale in Leon etwa. Und, direkt neben den Bauarbeiter stehend, die ewig lamge Brücke von Obrigo. Jenes eigenartig krumme Ding, das aussieht als wäre es natürlich gewachsen.
Unter welch flüchtigen, abgelenkten Bedingungen wir doch Kunst schaffen unterwegs. Im vorderen, größeren Teil des Skizzenbuchs hat Rodrigo Textskizzen gesammelt, feine Handschrift, stets mit schwarzem Fineliner. Wer weiß, was in den fünf Wochen alles an Kunstwerken, Dichtungen, ja sogar an Musik auf dem Weg entstanden ist. In allen Menschensprachen mit allen Menschenempfindungen. Meine Zukunftsvision vom Camino-Computer kommt mir in den Sinn. Darüber habe ich noch gar nicht berichtet. In den Tiefen des iPhones schlummert diese verrückte Vision zusammen mit anderen unveröffentlichten Ideen und Beschreibungen als Sprachnotiz.
Ich bin nervös wegen des Flugs. Wünschte, es wäre 13 Uhr, sicher in Zürich gelandet. Das letzte Mal, dass ich derart unruhig war, war im ICE mit über 300 Sachen durch die Champagne. Wir Menschen sind einfach nicht geeignet, schneller als mit Schrittgeschwindigkeit uns fort zu bewegen.
Sagt der Pilger.
Im Pilgerbüro kehre ich gestern noch mal ein, um einen neuen Pilgerpass zu beantragen. Wie wohl die Welt aussieht für jemanden, der dort arbeitet, jemanden, der tagein tagaus diejenigen empfängt, die manchmal tausende von Kilometern gelaufen, geradelt oder geritten sind bis hierher? Jeden Tag neue, spannende Menschengeschichten. Wie Mörtel, den der große Weltenmaurer auf die Wand bringt um Stein für Stein etwas Großes zu schaffen. Im Pilgerbüro drängt sich eine zierliche Schönpuppe vom Galizischen Regionalfernsehen vor, um wichtig die Modalitäten für einen kurzen Dreh zu klären. So dass ich mich umdrehe und gehe. Jetzt nicht auch noch ins Fernsehen kommen: „Mein Name ist Georgium Linlulum und ich bin extra den Weg glaufen, um für ein paar verrückte Spinner, die gerne Weblog lesen jeden Tag einen Text auf einer kaum Fingernagelgroßen Maschine zu schreiben …“. Neenee. Den Ausweiß erstehe ich abends für 75 Cent.
Hat mich der viel besungene Jakobseegvirus gepackt?
Santiago Stadtstimmung.
In einem Rundbogen auf der Nordseite des Kathedralenkomplexes dudelt fast den ganzen Tag ein Kerl auf einem galizischen Dudelsack. Rodrigo hat mir gestern Abend den Namen des Musikinstruments verraten. Habs leider wieder vergessen. Gute Geräuschkulisse. Als ich mit dem iPhone einen Tonmitschnitt mache, spricht mich ein Mann an, ob ich Wifi suche. In der Tat gehören zum modernen Bild einer Stadt diejenigen Leute, die, das Smartphone in der Hand durch die Straßen laufen auf der Suche nach einem offenen Drahtlosnetzwerk. Geigerzähler der überinformierten Gesellschaft.
Die Rua do Franco ist eine quirlige, schmale Gasse mit Restaurants und Souvenirsläden. An ihrem Anfang nahe der Kathedrale stehe ich kopfschüttelnd vor einem Souvenirsladen, der per Lautsprecher Galizische Volksmusik spielt. Schöne Musik. Die CDs sind, wie alle Souvenirs, ja sogar Getränke und Essen unheimlich teuer. T-Shirts kosten um 20 bis 25 €. Kleine versilberte Kathedralenfiguren 8 €. CDs knappe 20 €. Angewidert wegen dieser dunklen Seite des Pilgertums drehe ich mich um und will meines weges gehen. Ungemolkene fette Pilgerkuh, ich. Man hat mich offenbar beobachtet. Nach ein paar Schritten wird die Musik lauter gedreht. Jetzt erst Recht nicht!! Ich habe ohnehin nur noch 20 € im Seckel und keine einzige Münze mehr. Die Rua do Franco am Morgen zu durchqueren ist ein einziger Spießrutenlauf. Zig Bettler stehen Spalier. Frauen, Männer, alt und jung. Viele knien demütig auf einem schmutzigen Büßrrlappen. Andere sprechen dich offen an. Einer kommt sogar im Restaurant an unseren Tisch. Nach der Hälfte der Rua do Franco habe ich alle meine Münzen vergeben. Thomas bedient ein Punkerpärchen mit zwei Hunden. „Wir brauchen eine Taktik“, raune ich ihm zu, „Sonst schaffen wir es nicht bis ans andere Ende der do Franco.“ Vielleicht ist es ja ein selbst gemachtes Problem: die grundgütige Spendenbereitschaft von uns Pilgern lässt uns so lange Münzen spenden, bis wir selbst bedürftig sind und uns ins Spalier der Bettler einreihen am Ende der Rua do Franco? Jeder entwickelt dabei seine eigene Technik. Diejenigen, die büßend, gesenkten Kopfes vor einem knien, sprechen die Katholiken an. Die penetranten Typen, die sich dir mit klimpernden Münzen in der Hand nähern und dir eine Geschichte erzählen gehen auf Künstlerfang. Die manchmal schrecklich falsch spielenden Musiker, Jongleure, Feuerschlucker erhaltwn ihr Geld von jener Art Leistungsbürger, die noch immer überzeugt aind, dass wer arbeiten will auch Arbeit findet in dieser Gesellschaft, naiv glaubend, dass man somit auch glücklich werden kann. Bettler mit Hunden gehen auf Tierfreunde. Und so weiter und so fort.
Ich müsste diese Zeilen nicht schreiben, meine Lieben. Die Arbeit an diesem meinem ersten live geschriebenen Buch, das auf dem iPhone getippt wurde ist eigentlich abgeschlossen. Betrachtet diesen Text als Supplement eines verzweifelt Ängstlichen, der auf seine A 320 wartet und deshalb nicht schlafen kann.
So schließe ich denn mit den Worten der Mutter von Blogkollege Axel:
„Flieg‘ vorsichtig, Junge.“
Vielen Dank für das Teilnehmenlassen und eine gute Landung im Alltag!
bloggend geht die zeit auch rum!
(siehe mein heutiges nachtblog) und riesendank für dieses supplement!
hoffentlich konntest du – sowie ich- nochmals einschlafen?
flieg vorsichtig, pilot!, sage ich.
komm gut an, junge!, sage ich auch.
ach, übrigens: georgium ist dativ, georgius, also nominativ/grundform heissts du regulär latinisiert. aber auf dem flugticket steht sicher nochmals was anderes :-)
welcome back in reality und bis sehr bald!
ganz ganz herzlichen dank, dass du uns quasi mitgenommen hast auf deine pilgerreise. wunderschön wars, gefährlich wars, abenteuerlich wars. voller lebensfreude und weisheit. mit dir haben wir gelitten und uns gefreut,durch deine augen eine neue welt kennen gelernt.
ich wünsche dir eine frohe heimkehr!
Hach, das wird meine Mutter freuen, wenn ich ihr erzähle, dass Dein Pilgerreisebericht mit einem Zitat von ihr endet.
Keep on writing
Axel