Wo Hotel

Wie üblich kam der Auftrag per Brief. Ich hörte wie der Umschlag unter der Tür durchgeschoben wurde. Über die Monate und Jahre hatte ich ein Ohr dafür entwickelt. Ein ebenso scharfes wie sanftes Geräusch von dahingleitendem Papier auf Holzboden. Ich stieg aus dem Bett, hastete in den Flur, schaute durch den Türspion. Nichts. Keine Spur von dem Menschen, der mir den Brief unter der Tür durchgeschoben hatte. Wie auch. Trotzdem versuchte ich jedes Mal, ihn oder sie zu erwischen, endlich zu erfahren, wer mir die Aufträge gab, woher das viele Geld stammte, das ich verdiente.

Dass es besser sei, ich wüsste nicht, wer er oder sie ist, war mir schon klar, aber Leute, mal ehrlich, die Neugier ist ein wuchtiges Reitpferd, das sich stets seinen Weg durch die staubigen Steppen der Unkenntnis zu bahnen versucht.
Ich hob den Umschlag auf. Ihn in der Hand wiegend ging ich zurück. Ich schätzte, das neben dem Blatt mit dem Auftrag etwa 5000 Euro in 100er Scheinen darin sein würden. Mit der Zeit entwickelt man ein Gespür für das Gewicht des Gelds. Oft kann ich aufs Gramm genau schätzen, wieviel sich in einem Umschlag befindet. Die Aufträge sind stets auf einem Din A4 Blatt mit Schreibmaschine geschrieben. Gute alte Courier-Schrift, das große S ist ausgefranst. Auch andere Buchstaben haben markante Macken. Man könnte, wenn man die Maschine findet, den Urheber, die Urheberin des Geschriebenen leicht ausfindig machen. Alte Schreibmaschinen haben einen Fingerabdruck.

Neben dem Auftragsblatt und dem Geld – es waren tatsächlich exakt 50 Scheine a 100 Euro in dem Kuvert – befindet sich stets noch ein Foto in dem Kuvert. Das Portrait eines schätzungsweise Mittvierzigers schaute mich an. Der Mann hatte einen melierten langen Bart, Stirnglatze, Ringe unter den Augen und eine auffällige Narbe, die sich vom linken Ohr bis fast zum Mund erstreckte. Sicherlich einer der übleren Kandidaten, die mir im Laufe meiner Tätigkeit unter die Finger gekommen sind. Aber man soll die Menschen nicht nach ihrem Aussehen beurteilen und schon gar nicht nach Portraitfotos. Sie zeigen nur einen winzigen Moment in der Zeit. Eine hundertfünfundzwanzigstel Sekunde, die darüber entscheidet, als was oder wer man wahrgenommen wird, wenn das Konterfei jemand Fremdem vor die Augen kommt. Im einen Moment bist du noch der liebende Opa, Onkel, Vater und im nächsten der übelste Schwerverbrecher.

Zurück ins Schlafzimmer, es ist noch früh, vorbei am Badezimmerspiegel, schaut mir eine amorphe Gestalt entgegen, unrasiert, wirres Haar, ansatzweise Krähenfüße in den Augenwinkeln. Ich bin gerade mal dreißig, herrjeh, aber es ist noch früh. Ich überfliege das Infoblatt im Brief. Mein Klient heißt Arnold Scheibenegger. Zur Zeit befindet er sich in Wuppertal im Hotel Erika, Essener Straße 237, Zimmer 113. Wenn er einen grüßt, sagt er meist Howdy. Das ist eine wichtige Information, um ihn sicher zu identifizieren. Die Leute sehen auf den Potraitfotos oft ganz anders aus als in Wirklichkeit und wenn man noch ein weiteres Merkmal hat, die Art wie jemand geht, wie er oder sie sich kleidet oder wie der Mensch spricht, sichert einen ab. Man möchte ja nicht den Falschen erwischen.
Ich krieche noch einmal ins Bett. Den Laptop auf der Bettdecke lese ich die Neuigkeiten im Fediverse, schlendere durch meine Timeline, in der das politische Geschehen diskutiert wird, sich über Mark Zuckerberg, Trump, Musk und all die milliardenschweren Nichtsnutze aufgeregt wird; ein Gif mit jungen Füchsen zeigt wie die Tierchen im Schnee herumtollen; ein Tröt weiter ist ein Radweg zugeparkt und im nächsten Tröt spielt jemand bei Grüntee Klavier*. Außerdem gibt es ein Navigationsgerät** zu verschenken, das ein gewisser @masek anbietet.
Ich kenne mich in Wuppertal überhaupt nicht aus, mehr noch, ich weiß noch nicht einmal, wo Wuppertal liegt. Im Ruhrgebiet, glaube ich und es gibt dort eine berühmte Schwebebahn. Das ist alles. In diesem Moment weiß ich eigentlich mehr über meinen Kunden, Arnold, als über die Stadt und das Hotel, in dem er zur Zeit logiert. Mein Bild Scheibenegger ist um so einiges klarer als mein Bild Wuppertal. Wuppertal ist ein großer, unscharfer Punkt am Horizont und Arnold ist der Mond, der das Dunkel darum herum erleuchtet.

Da ich unter Orientierungslegasthenie leide, könnte eine gute Navigation nicht schaden, um schnell und effizient zum Hotel Erika zu kommen, wo ich meinen Auftrag erledigen muss. Ich kontaktiere @masek per Direktnachricht, ob sein Geschenkangebot noch gilt und er antwortet prompt:
– Na klar, kannste haben.
– Kannst Du mir das per Kurier schicken? Ich übernehme die Kosten.
– Eigentlich wars zum Abholen gedacht.
– Mein Kurier holt ab. Kostet dich nix. Ist wie wenn ich selbst abhole.
– Okay, machen wirs so. Bin bis 12 im Büro.
– Deal.
Ich beauftrage den Kurierdinest, nicht gerade billig. Wenn ich zum Elektronikmarkt nebenan gegangen wäre, hätte ich sicher ein neues Gerät für weniger Geld gekriegt, aber ich verlasse nur ungern das Haus und außerdem bin ich ein Freund der Nachhaltigkeit. Gebrauchte Dinge sind mir grundsätzlich lieber als Neukäufe. Eine unkapitalistische Marotte, würde ich sagen. Zwei Stunden später läutet der Kurier. Durch den Türspion kann ich ihn sehen.
– Legen sie das Paket vor die Tür, sage ich.
– Ich brauche eine Unterschrift, sagt er.
– Schieben Sie den Zettel unter der Tür durch, sage ich.
– Sie müssen auf dem Tablet unterschreiben, das passt nicht unter die Tür.

Ich verlasse nicht nur ungern das Haus, ich öffne auch ungern die Tür, vor allem, wenn es sich um Kuriere handelt. Man hört da so Sachen. Ich hänge die Sicherheitskette ein, öffne die Tür einen Spalt
– Reicht das? Der Kurier schiebt das Tablett durch
– Einfach mit dem Finger … Ich mache meinen Vinzenz, schiebe das Tablet zurück und er legt das Paket ab.
Nachdem er im Aufzug ist, hole ich es rein.
Sobald ich das Päckchen geöffnet habe, beginnt die Odyssee. Das TomTom hat sicher schon einiges erlebt, müsste mindestens zehn Jahre alt sein, vielleicht auch zwanzig. Das gerundete Design mit dem silbrigen Plastikrahmen gefällt mir. Ich mag Nostalgie. Auch dass es nur fünf echte Knöpfe gibt, finde ich toll. Schon überlege ich, ein Unboxing-Video zu machen und es als Dank für @masek ins Netz zu stellen, doch ich muss endlich arbeiten. Mein Kunde wartet nicht. Mit dem mittleren Knopf schalte ich das Navi ein. Eine Landkarte im Windows 95-Stil erscheint und der Prompt: Geben Sie eine Adresse ein. Mit den Pfeiltasten hangele ich mich durch die Buchstaben: Hotel Erika. Das Gerät hat Vorschläge für mich. Hotel Erika in Zweibrücken, Hotel Erika in Bodmannshausen, Hotel Erika in Dresden, Hotel Erika in Bad Doberan. Aber Wuppertal: Fehlanzeige. Okay, vielleicht gab es das Hotel Erika in Wuppertal ja damals, als das Navi programmiert wurde noch gar nicht. Bestimmt ist es ein nigelnagelneues Billighotel am Stadtrand. Es kann also noch nicht in dem Navi gespeichert sein. Ich schreibe Wuppertal und wieder hat das Navi Vorschläge für mich: Wuppertal Bayern, Wuppertal Sachsen, Wuppertal Saarland, Wuppertal Nordrhein-Westfahlen. So geübt in deutscher Topografie bin ich nicht, im Zweifel liegen jedoch die meisten meiner Aufträge im Saarland und wieder hangele ich mich durch das Menü, suche nach der Essener Straße in Wuppertal Saarland. Fehlanzeige.
Nach einigem Hin- und Her finde ich die gewünschte Adresse in Wuppertal in Nordrhein-Westfahlen. Puuuh. Was für ein Straßengewirre dort, Stadt an Stadt und Siedlung an Siedlung. Das Navi zeigt ein Gewirre wie Pilzmycel. Bin ich froh, dass es mich einfach zur Adresse navigieren wird.

Nach dem Frühstück breche ich auf. Mit einem Saugnapf klebt das TomTom an der Windschutzscheibe und es spricht sogar mit mir. Die voreingestellte Sprache ist Deutsch, zum Glück und der Ton der Stimme namens Erkan und Stefan, ist salopp, brachial, wie ein Comedian, der mit türkischem Akzent spricht.
– Musst du nächste Kreuzung rechts, krächtzt es etwa und wenn ich mich verirrt habe:
– Nicht das Rechts, das Andere, Bruda, dreh um, sonst mach ich dich neuen Kurs.
Ich gebe zu, das ist nicht gerade die schnellste Variante, um mein Ziel zu erreichen, aber dafür sehr unterhaltsam und außerdem, ich erwähnte es schon, ich bin ein Fan vom Wiedergebrauch, ein Gegner des Neukaufs, geradezu närrisch verliebt in alte, noch zu gebrauchende Technik.
Nach zwölf Stunden bin ich endlich in Wuppertal. Das Ortsschild schimmert im Licht des Vollmonds. Im Hintergrund dampfen Schlote, wummert die Stadt. Kaum Verkehr zu dieser späten Stunde und die Wahrscheinlichkeit, dass ich meinen Klienten antreffe ist umso höher, je später die Nacht.
Noch drei Abzweigungen und ich bin am Ziel, sagt das Navi. Ich folge Erkan und Stefans Anweisungen, fahre in ein Gewerbegebiet auf einer langen Straße. Links sind Felder, rechts Gebäude. Ich achte stets aufs Navi, beobachte wie sich mein Standort auf der blauen Straßenlinie in Richtung Zielpunkt bewegt.
– Jetzt korrekt links, sagt Erkan.
Fast zu spät reiße ich das Lenkrad herum und lande in einem Feldweg, der ins abgeerntete Maisfeld führt. Mist. Steige aus. Schaue mich um. Auf der einen Seite nur Dunkel und Ungewissheit, auf der anderen Seite die dampfende Stadt. Ganz wie im richtigen Leben. Verflixt. Ich bin doch tatsächlich direkt am Ziel vorbei gefahren. Nur weil ich ständig das Display vom TomTom beobachtet hatte, statt die Umgebung anzuschauen. Etwa 150 Meter zuvor prangt ein großes, leuchtendes Schild über einem schäbigen Reihenhaus, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Hotel Erika 24/7.
Die Karre ist festgefahren. Die letzten Meter gehe ich zu Fuß. Das Foyer des Hotels ist leer. Kein Nachtpoitier. Gutso. Ich streife den Hoodie über den Kopf, falls es Kameras geben sollte. Obschon dieser Ort außer Neonröhren eigentlich nichts Technisches zu bieten scheint. Zimmer 113 ist im ersten Stock. Ich nehme die Treppe, husche den Flur entlang. Ganz am Ende ist die Tür. Nehme den Hoodie runter und ziehe eine beige Cap auf, die mich wie einen Boten aussehen lässt. Ich klopfe, positioniere mich und ein Päckchen, das ich zur Tarnung dabei habe vor dem Türspion. Wer ist da, dumpft eine müde Stimme durch die Tür.
Kurierdienst, sage ich.
– Howdy, sagt mein Gegenüber ahnungslos.


Ich möchte 2025 weiterhin als Künstler und Schreiber arbeiten. Wenn Du mich unterstützen magst, kannst Du hier etwas spenden: https://paypal.me/JRinck133


Dunkles Bildschirmdesign einer Trötnachricht mit Antwort. Jemand bietet ein altes Navigationsgeraät zum Verschenken an, das als Grafik im Tröt erkennbar ist. Die Grafik zeigt einen Bildschirm eines Navigationsgerät mit stilisierter Verkehrsführung aus der Vogelperspektive. Die Trötantwort dazu regt an, aus dem Navigationströt den Plot eines Romans zu machen.* Fediversekollegin https://fnordon.de/@Mirabeaulacht fasst ihre Timeline regelmäßig in Tröts zusammen. Die Passage zitiert diese besondere Art von Tröt-Summary.

** Der inspiriernde Tröt stammt von https://infosec.exchange/@masek und wurde am 9. Januar 2025 gepostet. Und hier der Link zum besagten Tröt (danke fürs Erinnern, Frau SoSo)

5 Antworten auf „Wo Hotel“

    1. Ja. Freund Journalist F. war ein großer Fan und hatte die Stimmen auf seinem Navi. Wir sind mit denen mal nach Sinsheim ins Technikmuseum navigiert.

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