Zwei ganz normale Tage – oder auch mehr

Wir verlassen das Haus, die Frau SoSo und ich. Wir sind Glückliche, die das Haus verlassen können, ohne sich Sorgen zu machen, an der nächsten Ecke überfallen zu werden oder erst Kilometer weit über eine Müllhalde zu laufen, um den dreckigen Fluss zu durchwaten und irgendwo in den Randgebieten einer Großstadt ein bisschen Grün und Frieden zu finden. Wir sind Glückliche, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, friedfertige Nachbarn und keine Angst haben müssen, dass eine Rakete im Wohngebiet einschlägt. Ein ganz normaler Sonntag in einem Dorf in der Schweiz. Wir nehmen die Fahrräder. Wie glücklich wir sind, Fahrräder zu besitzen.

Wenn ich einen Bericht schreiben müsste, der jenseits dieser Welt bestehen soll in einer fernen Zukunft, eine Spur hinterlassend für jenstige Archäologinnen und Archäologen, ich müsste scheitern. Ich könnte keinen Gesamtabdruck der Welt, in der wir leben, liefern, weil ich gar nicht weiß wie woanders auf dem Planeten eigentlich gelebt wird. Obschon ich viele Arten zu leben kennen gelernt habe.

Ich berichte nur aus meiner kleinen Blase der Welt, aus meiner direkten Umgebung. Mehr wäre Spekulation, verunschärfte das Bild. Berichte im Rahmen dessen, was für mich normal ist und schön und gut, aber hinter allem, was mir bekannt ist und wovon ich etwas weiß, lauert so viel Unbekanntes und Ungewohntes, manches kennt man ja vom Hörensagen, aber was mich erschreckt: Es gibt ein nahezu unerschöpflichen Raum für noch nicht Entdecktes.

Ich hatte kürzlich während der Umradelung Bayerns einmal sinniert, wieso Menschen, die an Wiedergeburt glauben und von sich selbst sagen, sie haben schon einmal gelebt auf diesem Planeten – als Mensch, als Tier, womöglich als Pflanze – stets als solche Wesen gelebt haben, die uns allgemein geläufig sind. Als Schlange, Affe, Pferd, Römerin, Thrakischer Prinz oder Mammutbaum. Wiedergeborene waren stets ein Wesen, das schon entdeckt und beschrieben wurde. Nie hört man, dass jemand schon einmal gelebt hat als das bisher nicht entdeckte Wesen in der Tiefsee ohne Augen und Ohren, das in ewiger Dunkelheit unter dem hohen Druck, der im Marianengraben herrscht, existiert. Ein Wesen ohne Namen. Was der Buddhist nicht kennt, das reinkarniert er auch nicht. Vielleicht irre ich.

Wir, das Haus verlassend, sonntags vielleicht.

Vorbei am Dorfbrunnen, auf dessen Kopf eine Bärenskulptur thront, den man kürzlich neu angemalt und renoviert hat, durch die zackigen kleinen Straßen, vorbei an den uralten aneinander gebackenen Bauernhäuschen, die einst vereinzelt in der Wiese standen, bis diese verkauft, bebaut und erschlossen wurde. Gespickt mit Einfamilienhäuschen. Durch die Randgebiete eines typischen Schweizer Dörfchens. Die Bebauung der Dörfer endet mittlerweile an der Bebauung des nächsten Dorfs. Industrie und Handel dazwischen ab und an. Die Schweiz ist eine Ansammlung von Randgebieten, durchdrungen von Ortskernen.

Durch eine Kastanienallee ins Nachbardorf.

Die Welti-Furrer-Chilbi (eine Chilbi ist ein Jahrmarkt). Acht bis zehn fahrbare Baukrane. Hochgebockte Maschinen, deren Räder in der Luft hängen mit ausgefahrenen Teleskopen zwischen den Dörfern Hausen und Windisch. Das fulminante Finale der Kastanienallee. Auf einem normaler Weise leeren, ungeteerten Platz herrscht an diesem Tag reges Treiben. Ich frag, Frau SoSo, bleiben wir ein Weilchen stehen, ich möcht schauen. So stehen wir ein Weilchen, die Fahrräder zwischen den Schenkeln und schauen das Treiben auf dem Gelände an. Viele Menschen, allesamt mit Helm und Warnweste ausgestattet. Die Krane bewegen sich, ziehen die Ketten, kragen die Arme, schieben die Masten aus den Teleskopen und an den Ketten hängen an massiven Eisenhaken kleine rote Tonnen, die etwas kleiner sind als größere rote Tonnen, die im Abstand von einigen Metern am Boden unter den Kranen stehen. In den Führerhäusern der Krane sitzen kleine Kinder, über die sich Bauarbeiter beugen und ihnen gestikulierend die verschiedenen Hebel der Maschinen erklären. Die Kinder müssen die kleinen Tonnen aus den größeren Tonnen ziehen, den Kran um einige Meter nach links oder rechts schwenken und sie in die andere große Tonnen versenken. Wie wir so starren, also vielmehr ich, wird mir bewusst, dass genau so etwas mein kleiner, privater Alltagszirkus ist: scheinbare Banalitäten am Wegesrand, die man normalerweise nicht zur Kenntnis nimmt. Oh, juhei, Kinder heben Tonnen aus Tonnen und versenken sie in anderen Tonnen. Ob ich da hin möchte und selbst eine Tonne aus der Tonne heben möchte und in eine andere Tonne tun, fragt Frau SoSo. Nein, möchte ich nicht. Zuschauen ist viel bequemer. Man hat es nicht mit Menschen zu tun, sondern mit Maschinen, in denen Menschen sitzen und agieren. Das ist es. Ja, doch Krane voller Kinder, die Tonnen aus Tonnen in Tonnen heben, das ist genau mein spektakuläres Unterhaltungsding. Besser noch als Mährobotern beim Grasmähen zuzusehen.

Und wir fahren weiter durchs nächste Dorf, Ziel eine große Weide, auf der einige Dutzend Wutzen frei laufen. Entdeckt haben wir sie vor einigen Jahren schon (also ihre längst geschlachteten Ahnen). Glückliches Schlachtvieh. Fleisch in spe, aber eben, die Weide ist etwa einen Hektar groß und es befinden sich kleine, Schweinegroß hohe Häuschen darauf, sowie ein Wasserfass und ein Schlammloch, in dem die Viecher sich suhlen. Das ist eine weitere Art beliebter Unterhaltung am Wegrand. Außer Wutzen, Mährobotern, Welti-Furrer-Chilbi-Kinderkranen oder Nichts, brauche ich eigentlich keine Unterhaltung auf Sonntagsausflügen. Ich bin ein schlichtes Gemüt, das jenseits des Kommerzunterhaltungsmainstreams die kleinen unbezahlten Dinge sucht und sich damit zufrieden gibt.

Wenn ich von ‚Nichts‘ als Unterhaltungsform rede, meine ich schlichtes Verharren und nach oben in den Weltraum starren. Wie es uns, nachdem wir uns an den Kranen voller Kinder und den Wutzen satt gesehen hatten, einige Kilometer später unten an der Aare passierte. Wir hatten die Hängematten in einer kleinen Aue aufgehängt und baumelten vor uns hin. Hängematten sind unheimlich bequeme Sitz-, Liege- und Abhängmöglichkeiten. Faszinierend wie die Sonne durchs Laub schimmerte und das Grün in verschiedene Töne aufspaltete, durchdrungen von ab und zuen Blautönen und ein bisschen Braun oder Grau der Äste, sonst nichts … ach, doch, das Schimmern allen Grüns wurde noch getoppt von den Lichtreflexen auf dem spielenden Fluss. Sonne von oben und von unten aufs Blattwerk und alles in zitternder Bewegung. Das Laub zitterte wegen leisen Winds, der Fluss wegen Strudeln und Wellen, herrlich, wie er die sturen, geraden, unbarmherzig voran dringenden Sonnenstrahlen in Unruhe versetzt, sie mal hier, mal da aufs Laub wirft oder durch einige der wenigen Lücken zurück in den Weltraum. Wie wohl ein Impressionist, eine Impressionistin dieses Blattwerk malen würde, fragt Frau SoSo. Die sind alle tot, will ich sagen, verkneife es mir, Punkt für Punkt sage ich.

Wenn ich das Gesicht Richtung Himmel habe, gelingt es mir mittlerweile ganz gut, mich als auf einem Ball per Schwerkraft fest pappendes Lebewesen vorzustellen, das im Begriff ist, in die Tiefen des Alls zu stürzen, wenn die Schwerkraft plötzlich nicht mehr ist, beziehungsweise, wenn sie sich umkehrt.

Das Grüne-Dach-Bild ist grandios. So könnten Ewigkeiten vergehen, ohne auch nur eine Spur Langeweile zu empfinden, denke ich. Im Spiel von Sonnenstrahlen und dem, auf das sie treffen ist immer Bewegung, Chaos, Unruhe, Unberechenbarkeit und es öffnen sich der Phantasie Pforten, die einem im sturen Dahintreiben – sagen wir einmal geradeaus schauend beim Gehen, Autofahren oder Radfahren – entgehen. Weil man parallel in einer dünnen, belebten Schicht auf diesem Planeten eben auch nur diese schmale Schicht wahrnimmt, aber nicht die Sphäre, die diese umschließt.

Sturz ins Weltall an einem ganz normalen Sonntag also. Neben unserem Wäldchen befindet sich ein Kurgebiet, in dem man eine Freilichtbühne aufgebaut hat. Plötzlich Musik. Klavier, Saxophon, Schlagzeug, Soundcheck für etwas, was später geschehen soll vermutlich. Es ist Nachmittag. Erstaunlich wenige Menschen auf den Rad- und Wanderwegen unterwegs. Wir trudeln weiter durchs nächste Dorf. Auf der Hauptstraße eine Kolonne Oldtimer. Röhrende, stinkende Amischlitten. Allmögliche Modelle. Cabriolets mit offenem Verdeck und gigantischen, durchgehenden Sitzbänken im Fahrerbereich, auf denen man getrost zu dritt oder zu viert nebeneinander sitzen könnte. Die Straße wird abgeriegelt, damit die Kolonne in einem Rutsch durchs Dorf kommt und sich kein Fremdfahrzeug dazwischen mogelt. In kaum einer der Karossen sitzen mehr Personen als nur der Fahrer. Ja. Fahrer. Keine einzige Frau. Eine Schlange antiker, schön glänzender Spritfresser voller sogenannter alter weiser Männer. Verflixt, ich kann es ja verstehen, dass man einen Narren fressen kann an einem schönen Kleinod. Dennoch ist dieses Bild des Amischlittenkorsos voller einsamer, meist grauhaariger Männer verstörend im Antlitz der Hitze des Tages. Mein Hirn kalkuliert, wie viele Liter pro Stunde durch die Vergaser jagen und wie viel der kleine Ausflug einsamer, im Verbrenner-Interesse geeinter Männer gesetzten Alters kostet. Der Himmel ist gelb.

(Zur Verlinkung in Lind Kernig – Zukunftsroman der Feinen Künste)

10 Antworten auf „Zwei ganz normale Tage – oder auch mehr“

  1. Wären sie weise, wie du tippfehlerhaft schriebst, säßen die alten weißen Männer vermutlich nicht in ihren Oldtimern, überlege ich. Was so ein ‘S‘ mehr oder weniger doch ausmacht?!

    Deine Beschreibung des Lichts bei unserer Hängemattenzeit ist genial, impressionistisch geradezu (und sie leben doch noch?!).

  2. Man könnte versucht sein, zu glauben, Ihr hättet unter diesem grünen Dach in der Hängematte liegend, nein treibend, für Momente den „ewigen Frieden“ erreicht. Zumindest hat mich Deine Schilderung an diese Passage bei Adorno erinnert:
    „Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, »sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung« könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden. Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden.“

    Man muss es aber nicht so paradiesisch hoch hängen, sondern kann in Deiner Erfahrung, ganz diesseitig, auch das Glück der Selbstvergessenheit in einem ebenso schlichten wie gnädigen Augenblick erkennen.

    Gruß, Uwe

  3. Lieber Jürgen,

    ich mag Deine Texte sehr. Sowohl die Schreibe als auch die veschlungenen Gänge Deiner Gedanken, Deine Haltung zum Leben, zur Welt … ich sehe mich da in Vielem wieder.

    Wollte ich mal loswerden.

    Herzlichen Gruß aus dem Saarland
    Armin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert