Blindflug. Es ist geradezu magisch. Ich schaue, nicht wie sonst während Reisen, auf die Wettervorhersage. Das Wetter kommt, das Wetter geht. Das Wetter ist, wie es ist in jeder Sekunde des Tages. Wenn man nicht sieht, wie es wird, verliert es seinen Schrecken. Keine Ahnung, ob man das Demut, Ignoranz oder Taubheit nennen soll; vermutlich keins von Dreien. Hier – ich will es einmal oben nennen – hat man eine wunderbare Weitsicht, sieht das Wetter von weitem kommen. Das genügt.
Die Fuchskaute ist 657 Meter hoch, lese ich auf einem Schild, das auf die Lodge zur Höhe des Berges hinweist. Wenn das Schild nicht wäre, würde man nicht erkennen, wo der Gipfel ist. Eine gewellte, von Wiesen und Wald durchsetzte Gegend, gespickt mit Windrädern und den Überresten einstiger Wintersportinfrastruktur. Zum Beispiel eine Skischanze und ausgewiesene Loipen.
Auf dem Tacho, der am Mittelrohr des Fahrrads befestigt ist, liegt meist der Träger der Fronttasche oder die warme Jacke, die ich um den Lenker gewickelt habe. Ich sehe nicht, wie schnell ich fahre und wenn ich wissen will, wieviele Tageskilometer ich zurückgelegt habe, muss ich erst den Tacho freiräumen.
Diese Reise fühlt sich so anders an als vorangegangene Reisen. Nicht nur wegen der äußeren, durch die Pandemie bestimmten Bedingungen, sondern auch im Innern, tief in mir drin. Ich spüre das voranschreitende Alter. Der Körper zwickt, und gleichzeitig spüre ich eine unheimliche mentale Fitness, die die Defizite des vergehenden Menschenkörpers mehr als wettmachen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber selbst trotz der Widrigkeiten, Gegenwind, das ewige Auf und Ab, die teils unter-aller-sauen Wege: ich fliege nur so dahin, bzw. ich empfnde es als fliegen. Es tut nicht weh, das Radeln, es fließt. Kommt ein Berg, fahre ich hoch, ist er zu steil, schiebe ich, bläst Gegenwind, schalte ich runter. Einswerden mit der Tour.
Ab Fuchskaute bis Betzdorf, also bis zum Fluss Sieg, geht das Westerwaldspiel mit einem kontinuierlichen Auf und Ab etwa vierzig fünfzig Kilometer so weiter. Sehr ländliche Gegend. Erst ab Daaden wird es entlang einer Eisenbahnstrecke etwas belebter. Ich meine mich zu erinnern, dass der Herr Raffeisen aus Daaden stammt, muss das mal recherchieren. Viel Raiffeisen jedenfalls in der Gegend. Denkmale usw. Und viel Nister. Nisterberg, Nistertal, Nisterstraße. Die Nister ist ein Fluss, der an der Fuchskaute entspringt und bei Wissen in die Sieg mündet, lerne ich am Abend.
Wenn ihr mich fragt, wie sich die Rheinland-Pfalz-Radroute im Westerwald radelt, so kann ich sagen, es ist ein einziges Hoch und Runter auf teils derben Waldwegen, manchmal auf Straßen, selten auf eklig stark befahrenen Straßen, wirklich sehr selten. Wenn ihr mich fragt, lohnt sichs, so sage ich jein. Ja, denn es ist einfach Teil des Wegs und nein, wer die Anstrengung nicht erträgt, sollte abschneiden entlang des Rheins zwischen Sankt Goar und der Ahrmündung. Er bringt dich allerdings auch um ein knapp 70 Kilometer langes Stück der Route, das absolut schön und auf guten Trassen geführt ist: den Zipfel. Von Betzdorf führt die Radroute ab dem Nachbarstädtchen Kirchen über einen Bahntrassenradweg aufwärts, nordwärts, sanft steigend an der Wildenburg vorbei bis zum nördlichsten Punkt, an dem eine schöne Parkbank unter einer Eiche steht. Ich hatte über diese Bank bei meiner ersten Reise ums Land 2017 schon voller Bewunderung berichtet. Beim diesmaligen Besuch, ich ruhte ein Weile und ließ das Wetter kommten und gehen, lag ein gelb bemalter Stein auf der Bank mit der Aufschrift ’Betet für einander’.
Der Rückweg vom Zipfel führt vorbei am Wasserschloss Crottorf durchs malerische Mühlental nach Wissen an der Sieg.
Am ehemaligen Bahnhof Wildenburg mache ich einen Abstecher zur Wildenburg, male mir aus im Café, das es bei so einer Burg sicher gibt, ein Eis zu kaufen, mich auf die Wiese zu legen, das Eis zu schlecken, die Burg zu betrachten und das Treiben, und nebenbei das Zelt zu trocknen. Pustekuchen. Die Burg ist privatbesessen, Eintritt verboten; die 1,3 Kilometer über einen – hatte ichs erwähnt? – übel zugerichteten Waldweg als Abstecher von der Radroute kann man sich sparen und ich finde, man könnte das am Abzweig am Bahnhof schon erwähnen: Achtung, kein Leckeis auf der Wildenburg. Auch Crottorf, die Wasserburg ist in Privatbesitz, aber man kann, glaube ich, Besichtigungen vereinbaren.
Kurz vor Wissen muss ich die Regenkleider anziehen, stehe am Stadtrand plötzlich vor einer gesperrten Brückenbaustelle, keine Radwegeumleitung, lande im Feierabendstau, mogele mich durch Dreck und Lärm und muss so manchen zwanzig Zentimeter hohen Bordstein überwinden, mir den Fetzen Radweg, den ich irgendwann finde, mit den Stau umgehenden Autokolonnen teilen, verfluche die Stadt, lasse sie unbesichtigt hinter mir, keuche einen Berg hoch entlang einer Hauptstraße, da, endlich der Abzweig in ruhigere Gefielde, langsam kurbele ich darauf zu und stelle fest, der Radweg ist schon wieder gesperrt wegen einer Brückenbaustelle an der Nister. Dieses Mal immerhin mit Umleitungsempfehlung.
Ich beschließe, bis zur gesperrten Brücke zu fahren und zu schauen, ob man trotzdem rüber kommt und unterwegs die Augen aufzuhalten für einen Lagerplatz. Nicht einfach im engen Flusstal, doch mein Lagerplatz wird mich finden, sage ich in solchen Situationen. Die Nister ist ein kleiner Fluss. An manchen Stellen könnte man das Fahrrad sogar hinüberschieben.
Doch bis zur Brücke komme ich gar nicht. Unterwegs ein Mann, Michael aus Düsseldorf, auf Wanderferien in der Gegend, erzählt von der kleinen Pension im kleinen Dorf unweit der Brücke. Das Wetter tut sein übriges. Kurzum quartiere ich mich ein. Nach sieben Reisetagen ist dies die erste Nicht-Wildzeltnacht. Bei selbst gemachtem Apfellikör mit der Wirtin und Michael auf der Terrasse sitzend, dem Regen lauschend, weiß ich: gute Entscheidung.
Ich habe nun den Umkehrpunkt erreicht. In dieser Gegend sind es in die eine oder andere Richtung auf der Rheinland-Pfalz-Radroute genau gleich weit nach Hause. So genau lässt sich das leider nicht ermitteln. 2017 war mein Umkehrpunkt beim Ort Wippe, etwa dreißig Kilometer weiter nördlich. Es herrscht eine gewisse Umkehrpunktsunschärfe wegen Verirrungen, Abstechern in Hunsrücke, Trödelei, Baustellenumgehungen.
Und wie kriege ich die Kurve in diesem Artikel zurück zum Thema, das ich zu Beginn angeschnitten hatte? Nichts sehen und somit auch sich selbst nicht unter Druck bringen, darum ging es doch zu Beginn, oder? Die älteste Sache der Welt. Beginnst Du zu messen, öffnest du dem Vergleichen die Tür, generierst deine eigene Minderwertigkeit, die dich rennen macht in dieser Welt, Tag um Tag um Tag auf dem kleinen, dreckigen Hinterhof des ewigen Vergleichs Gleicher mit Gleichen und das Große, das diese Gleichen und die anderen Gleichen umgibt, die da rennen und rennen ohne zu erkennen, bleibt für immer verschlossen.
Tu ein Tuch über deinen Fahrradtacho.
…. ein graues (herbstliches) Land photographierst du da.
Liebe Grüsse
antje
Dankesehr.
Tachotücher braucht das Land.
Danke für diesen feinsinnigen Text!
Gerne. Gutwort Tachotuch. Tempotachotuch :-)
„Die älteste Sache der Welt. Beginnst Du zu messen, öffnest du dem Vergleichen die Tür, generierst deine eigene Minderwertigkeit, die dich rennen macht in dieser Welt, Tag um Tag um Tag auf dem kleinen, dreckigen Hinterhof des ewigen Vergleichs Gleicher mit Gleichen und das Große, das diese Gleichen und die anderen Gleichen umgibt, die da rennen und rennen ohne zu erkennen, bleibt für immer verschlossen.“ – Meine Lieblingsstelle in deinem heutigen Text, ich nicke still.
Good day and way, today.
Herzlichst, Ulli
Danke liebe Ulli, auch fürs Hervorheben. Dann finde ich die Textstelle besser für Selbstzitate.
mentale fitness – wie wahr und wichtig. der umkehrpunkt ein neuer anfang.
gut rad! oder wie sagt man da?
Danke liebe Ingrid. Gut rad klingt gut.
Schöne Waldwege!
Schade, das mit der Burg!
Manche deiner Radfahrwanderworte sind köstlich!
Gruß
Sonja
War trotzdem eine nette Athmosphäre. Und ich hab den Wildenburgern ja einen Apfel geklaut. 💪🏻