Aufgeschlagene Tagebücher, handgekritzelte Texte, Eierschalen, ein Salzstreuer – wie am Laufenden Band der eigenen Verwahrlosung könnte ich alle Gegenstände auf dem Künstlerbudenschreibtisch aufzählen. Eine Minute, Herr Irgendlink, du hast eine Minute. Alle Gegenstände, die du dir gemerkt hast und in dieser Minute aufzählst, räumen sich von selbst auf … der Schmutz vorm Maul des Ofens, eine zugestaubte alte Briefwaage, ein paar Kornkorken. Das Fragezeichen, vergiss das Fragezeichen nicht! Und das Telefonbuch! Das Fragezeichen und das Telefonbuch sind Klassiker. Die MUSS man nennen. Die kommen immer vor im Laufenden Band. Die Älteren werden die Show mit Rudi Carell aus den 1970ern kennen. Fragezeichen, Telefonbuch und Waschmaschine sind das Dreigestirn der Gelüste spielwütig glücklicher Aufstrebmenschen in frühlingsgrün strotzender Mittelschicht.
Vorbei, vorbei, vorbei. Alles geht den Bach runter. Die Welt verroht. Nicht erst seit der Pandemie. Die Verrohung höhlt die Gesellschaften schon seit Jahrzehnten aus. Außen Schönglanz, Pomp von der Stange, Statussymbölchen und Markenhörigkeit. Innen mit einem Dünnputz Härte und Egoismus versehen. So getüncht ist die gute Seele gewappnet gegen das Elend fernab in der Welt. Dergestalt karomustertapeziert im Gemüt lässt es sich gut hungern lassen, lässt es sich gut Staaten in Korruption versinken lassen, mit deren Machthabern der eigene Staat schöne Geschäfte macht. Die Solidarität unter den Einzelnen, von Mensch zu Mensch, ist nicht erwünscht. Wir teilen die Menschen dieser Erde in Uns und Die. Und Uns teilen wir notfalls weiter in Die, Die und Uns und so weiter, bis alle schön vereinzelt solidaritätsunfähig vor ihren Glotzen hocken und sich mitreißen lassen von den dargebotenen Stimmungen auf den Infokanälen dieser Welt.
Eine Bananenschale, ein Fresszettel, auf dem der Gartensaatplan aufgezeichnet ist, ein paar Stifte und noch ein Fragezeichen.
Mann, Mann, Mann, Kunstbübchen, gehst Du nicht ein bisschen weit mit dem Buch? Das ist ein Reisebericht, Herr Irgendlink, Junge, halt doch ein, komm denen nicht mit solch krudem Zeug. Ich halte Zwiesprache mit mir selbst; ich erwidere: Ta, ta, ta, es ist mein Buch, das muss so, das soll so. Ich habe keine Lust, mich zurückzunehmen und es ist meine Reise. Niemand muss folgen. Niemand muss das lesen. Ich schreibe es. Für mich? Noch nicht einmal. Für Niemanden? Auch nicht. Ich schreibe es. Einfach nur, ich schreibe es. Nicht weil ich es kann, nicht damit es gelesen wird, nicht, weil mir langweilig ist, nicht, um bewundert zu werden. Ich tue es völlig ohne Grund. Wie Reisen ohne Ziel.
Das Ziel löst sich im Laufe solcher Langstrecken-Fahrradtouren mehr und mehr auf. Anfangs noch fix, sagen wir einmal als Ort, von dem man eine Vorstellung hat oder auch nur als Wort, fängt das Ziel im Laufe der Zeit an zu springen. Die Könntes übernehmen irgendwann die Regie auf Reisen wie ich sie mache. Ich könnte links abbiegen, ich könnte rechts abbiegen, ich könnte geradeaus fahren oder zurück. Von Knotenpunkt zu Knotenpunkt fallen Entscheidungen und meist ergibt sich daraus eine Linie, die scheinbar auf ein Ziel hinausläuft. Die Strecken 2000 auf dem Weg nach Andorra und 2010 sind bei weitem nicht identisch. Das sieht man, wenn man sich die hellblaue Linie (2000) und die lila Linie anschaut, die die Abweichungen im Jahr 2010 darstellen. Je mehr man in die Karte hineinzoomt, desto deutlicher sieht man die Abweichungen. Wenn man die Linien millimetergenau gezeichnet hätte, würde man ein Gespinst erkennen. Wenn man exakt die Reifenspuren rekonstruieren könnte, müsste man eingestehen, in wenigen Punkten decken sich die beiden Strecken. Es ist ein Geschneidsel zweier Reifenspuren; der des breiten 26 Zöllers auf dem alten Mountainbike des Jahres 2000 und der des feinen 28 Zoll Reifens des fast neuen Trekkingrads des Jahres 2010. Nie ist etwas deckungsgleich. Es gibt so viele Radtourenspuren auf diesem Planeten wie es Melodienvariationen gibt.
Du schweifst schon wieder ab, Herr Irgendlink – Eine zusammengefaltete Solarzelle, ein zerknülltes Papiertaschentuch, eine leere Weinkiste, die Verpackung eines Schokoriegels, schon wieder ein Fragezeichen.
Lacaze. Ein älteres Ehepaar im uralten metallicblauen R4 stoppt und spricht mich an. Wie auch jener Mann kurz zuvor in Saint Sernin. Die Menschen halten einfach an, mitten auf der Straße, kurbeln die Scheibe herunter für ein kleines Schwätzchen. Woher, wohin. Das Bon Courage der Straßenmitte.
Die erste der beiden Kladden, in die ich die Notizen der Reise Zweibrücken-Andorra 2010 schrieb, neigt sich dem Ende. 7. Mai 2010. Über den Col de Peyronnec auf 879 Meter erreiche ich Vabre, weiche von meiner Route 2000 ab, ich glaube, weil ich mich verirrte. Ich erinnere mich noch, dass es dämmerte, als ich einen Weiler namens Bombepanse durchquerte, dass es bedrohlich dunkelte und sich neben der engen Straße im dichten Wald oder auf abschüssigen Wiesen partout kein Zeltplatz finden ließ. Irgendwann hatte das Schicksal denn doch Einsehen. Einem kleinen Waldweg folgend fand ich nach diesem 18. Reisetag ein gemütliches Plätzchen unweit des Städtchens Roquecourbe.
Derweil hatte im Jahr 2000 schon die Rückreise begonnen. Da ich meine Bankkarte nicht mehr hatte, bestritt ich die Reise mit dem Geld der Reiseschecks, das eigentlich für den Rückflug gedacht war. Ursprüngliches Reiseziel war Gibraltar. Ich weiß nicht, ob ich weiter geradelt wäre, wenn ich genug Geld in der Tasche gehabt hätte. So trat ich zügig die Rückreise an, schuftete über Hauptstraßen via Puigcerda nach Bourg-Madame zurück nach Frankreich. Die zweite Pyrenäenüberquerung innerhalb von 24 Stunden. Dem Tal des Têt folgend auf einer Nationalstraße Richtung Perpignan. Außerhalb von Prades zeltete ich am Rand des Flusses – fast wie am Tag zuvor. Mein Faible für trockene Flussbetten?
Der neunzehnte Reisetag beginnt. Samstagfrüh. Nunja, Ihr seht es ja, das Hirn geht auf Wanderschaft. Der Körper sitzt und sitzt. Zwei verstaubte Aktivboxen. Die Ramones dudeln, ein schmiedeeiserner Schürhaken, ein weiteres Fragezeichen und ein leerer Becher Fruchtkefir.
Normalerweise esse ich kein Fruchtkefir. Fruchtkefir ist eindeutig ein Produkt aus Jounalist F.s Einkaufspalette. Wie Kunstmaler, so haben auch Konsumenten eine ganz eigene, eindeutige Palette. Die von Journalist F. kenne ich seit letzten Oktober, seit ich einmal wöchentlich für ihn einkaufe immer besser. Wie ich also in den Besitz von Fruchtkefir komme, ist eine tragische Geschichte. Sie handelt von Aktenbergen und Nichtzuständigkeiten, überlasteten oder unerfahrenen Ärzten, einem geradezuen Gewirre von Ärzten, die aneinander vorbei behandeln wie die Reifenspuren zweier Fahrradreisen im Abstand von zehn Jahren … lange Rede, in den Verwirrungen der medizinischen Behandlungen hatte man übersehen, dass Journalist F. katastrophale Blutwerte hat, die auf eine massive bakterielle Entzündung hindeuten. Irgendwann hatte eine Ärztin, die in der Charité geschult wurde endlich erkannt, wie brisant die Lage ist. Ein Wert, der normal bei vier liegen sollte, lag bei über hundert, weshalb man den Journalisten stationär aufnehmen müsse. So kam es, dass ich gestern seine Krankenhaustasche packe und weil keiner von uns beiden daran glaubte, dass das eine Sache eines kleinen Wochenendaufenthalts werden würde, hieß mich der Freund, den Kühlschrank nach Verderblichem zu fleddern, einzufrieren, was noch in die Truhe passte und den Rest mitzunehmen, um ihn selbst zu verzehren, den Hühnern zu verfüttern oder als temporäres Gästegefriergut in der Truhe meiner Frau Mama unterzubringen. So kam ich in den Besitz von Fruchtkefir.
Als ich die Krankenhaustasche fertig gepackt hatte, fiel uns ein, dass es ja nicht mehr so einfach ist mit dem Besuchen und öfter mal etwas vorbeibringen in der Klinik. Also Tasche umpacken und doppelt so viel von Allem in den großen Reisekoffer quetschen. Der Reisekoffer ist ein hellblauer Kunststoffkasten, bedruckt mit Freiheitsstatue und weltweiten Sehenswürdigkeiten. Ein bedrückend groteskes Bild vor der eiskalten großen gläsernen Hauptpforte des Klinikums: kleiner Journalist F. in Rollstuhl mit Mundschutzmaske neben fast so hohem Reisekoffer. Wir lachweinten. Der Freund hieß mich, ein Bild zu machen, das er in einem Facebook-Eintrag verwenden wolle.
Herz in den Staub auf dem Künstlerbudenschreibtisch gemalt. Und ein Fragezeichen.
Der heutige Artikel wird in der Karte des Projekts Zweibrücken-Andorra vor der Hauptpforte des kosmodämonischen Uniklinikums gezeigt.
Das wenige Positive: Journlist F. ist Corona negativ getestet. Und er hat ein Einzelzimmer.
(Weinenlachend gelesen.)
Lieber Juergen,
ich hoffe instaendig, dass Deinem Freund geholfen werden kann.
Liebe Gruesse, und bleib‘ gesund,
Pit
Es ist sehr schwer. Er ist zum Glück auch ein Eigenbrötler, der mit dem Alleinesein zurecht kommt, aber irgendwann kippt auch dem größten Alleinseinprofi die Stimmung Richtung Einsamkeitsgefühl. Krankenhausbesuche sind nicht möglich. Man wird an der Tür abgewiesen. Schmutzwäsche und Warentausch erfolgt per Botendienst ab der Pforte. Alles in allem aber gut organisiert, so scheint es.
Lieber Juergen,
ich glaube, Alleinsein im Krankenhaus, wenn es einem wirklich schlecht geht, ist wirklich schwierig.
Liebe Gruesse, und bleib‘ gesund,
Pit
auch von mir die allerbesten Wünsche und gute Genesung. Bitte weiterleiten. Und dir lieber Jürgen natürlich auch die allerherzlichsten Grüße.
Das mache ich. Dankesehr.
Lieber Irgendlink, es ist immer wieder schön, dich zu lesen. Ich freue mich schon auf eine Fortsetzung.
Dankesehr. Ich hoffe, ich kriege die Kurve.