Gestern: Radeltour mit Kollege T. Wir ächzen einen Waldweg hinauf zu einem Ort namens Sieben Fichten. Der Sage nach, lebte einst ein Oberförster, der abends im Wald spazierte und heimliche Machenschaften trieb. Schwer beladen kehrte er mitten in der Nacht aus dem Wald zurück. „Was tut der Kerl?“ argwöhnte sein Gehilfe und folgte ihm eines Nachts bis zu den Sieben Fichten. Dort beobachtete er, dass sein Chef Zapfen aus purem Gold von den Bäumen pflückte und sich die Taschen vollstopfte.
Den Samen von Fichten zu ernten, gilt auch in heutiger Zeit noch als ein schwerer, lebensgefährlicher Job, den nur schwindelfreie, todesmutige Kerle ausüben können.
Der Forstgehilfe wartete, bis sein Herr die Arbeit beendet hatte und kletterte in die Bäume, um sich selbst ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Vollbeladen stürzte er ab. Morgens fand man seine verrenkte Leiche unter einem Haufen stinknormaler Fichtenzapfen und wunderte sich, der Teufel höchstpersönlich habe die Hand im Spiel gehabt. Seither erzählt man sich diese Geschichte. Hartnäckig hält sich das Gerücht, alle sieben Jahre bei Vollmond, würden alle Fichtenzapfen zu Gold und man müsse nur den richtigen Zeitpunkt wissen, um schwer reich aus dem Wald zurück zu kehren.
Bei den Sieben Fichten treffen sich sechs Wege, die, bis auf den, den Kollege T. und ich gekommen waren hinab führen in verschiedene Täler. „Von hier aus können wir überall hingelangen, nur nicht zurück“, sagte ich. T. musterte die vielen Hinweisschilder: „Hum, was würdest du instinktiv wählen? Kiörköl?“ verhonepipelte er einen Ortsnamen, „oder doch lieber Bierbach“, säußelte er, „oder gar den Frauenbrunnen“, hauchte er sexuell.
„Bierbach. Doch klar, oder? Für Frauen viel zu alt. Muss unbedingt Bierbach fahren.“
Wir sausten hinab und endeten in einer Waldschenke, bestellten Kaffee (!) und Wurst. Am Nebentisch saß eine Familie mit einem sechsjährigen Kind. „Christus, was möchtest du trinken“, hörte ich die Mutter sagen. „Tse. Christus, so tauft man doch kein Kind“, sagte ich etwas zu laut. „Justus, mein Sohn heißt Justus“, sagte die Mutter. Sie lächelte. Der Junge sah auch nicht so aus, als ob er über Wasser laufen könne und trug keinen Heiligenschein. Vielmehr gebärdete er sich als Nervensäge im ansonsten stillen Idyll.
Der Jakobsweg ist mittlerweile überall. Seit unsere Blicke geschärft sind, entdecken wir an jeder Kreuzung in der Gegend die Jakobsmuschel, das Zeichen der Pilger nach Santiago. So fühlen wir uns, obwohl wir unsere Häuser selten weiter als 15 km verlassen, immer unterwegs. Das Bild der Hosentaschenpilger, welches ich vor ein paar Einträgen geschrieben habe, nimmt eine ganz neue Bedeutung an. Du musst das Land nicht verlassen, um dich fremd zu fühlen, du musst dich nicht bewegen, um unterwegs zu sein. Und im Grunde lernst du echte Pilger am Besten zu Hause kennen, wenn sich der Weg, den sie einst gingen, in ihnen gesetzt hat, und sie ihre Euphorie abgelegt haben, zu sich gefunden haben, in sich ruhen und die Dinge emotional ausgeglichen betrachten. T. und ich malen manchmal dennoch an einer geheimen Pilger-Karawane, zu der wir all unsere Freunde einladen. „Seltsam“, sag ich, „im Prinzip laden wir nur Gescheiterte ein. Verkorkste Typen, bei denen es im Lebensgetriebe mächtig kracht: der Eine arbeitslos, der andere spielsüchtig, der nächste Sozialphobiker, der sich nicht vorstellen kann, das Haus mehr als bis zum Rand seiner persönlichen Todeszone (und die ist verdammt nah) zu verlassen. Nicht zu vergessen wir beiden einst so glanzvollen Tackerqueens, wir sind doch die Obergescheiterten!“ T. lächelte ein friedliches Pilgerlächeln, wie es tausende Heilande nicht besser hinkriegen würden. „Mein Lieber, nur mit solchen Typen geht das. Nur die haben schon so viel verloren und ihnen wohnt eine solche Sehnsucht inne, dass sie sich eine so lange Auszeit nehmen können.“
(Die Geschichte von den Sieben Fichten habe ich aus dem Gedächtnis nacherzählt. Sie hat Lücken. Lesen kann man sie auf einer Tafel bei den Sieben Fichten; an dem Ort wachsen nur sechs Nadelbäume, der höchste ist vier Meter hoch)