Auf dem kleinen Wohnzimmertischchen liegt meine Retrospektive neben einer Orange, Nusschalen, Nussknacker, vielen Krümeln, ich glaube, es ist auch noch ein bisschen Mehl vom Brotbacken dabei. Hausstaub, ein ganzer Kosmos an Materie liegt da auf meinem Wohnzimmertischchen neben der Orange und der Retrospektive.
Hundert Jahre Irgendlink nenne ich meine Ausstellung, die sich nächstes Jahr mit 30 Jahren Kunst schaffen, Schreiben, Bloggen, kreativ sein beschäftigt.
Ich habe die Ausstellung auf Fresszettel gekritzelt, die ich aus einem alten DIN A4 Heft geschnitten hatte. Ein sicher dreißig Jahre altes unbeschriebenes Heft mit Löschblatt und Cover, einfach mit der Schere in Notizzettel. Cooles handgekritzeltes Retro. Ursprünglich sollte die Ausstellung Akte Irgendlink heißen und ganz ursprünglich sollte die Ausstellung nie stattfinden, aber der Galerist B. hatte mich beschwatzt und gesagt, du wirst alt, Irgendlink und anlässlich deines runden Geburtstags sollten wir was machen und ich dachte, achne, noch so ein Ding im physischen Raum, das nur Mühe macht und nur der eigenen Bauchpinselei dient und nichts bringt; bei der letzten Ausstellung hatte ich immerhin 40 Euro Umsatz für die Galerie generiert und ich frage mich, wieso der Galerist das macht? Ich meine, hey, er bezeichnet sich selbst gerne als The Capitalist und dann gibt er sich mit unbekannten Konzeptkunsttypen wie mir ab. Er muss im Kern seines harten Kapitalistenpanzers ja doch ein gutes, weiches Herz haben.
Oder führt was im Schilde. Oder ist gar kein Kapitalist. Oder hofft, dass ich etwas wert werde, wenn ich tot bin, was weiß denn ich.
Kürzlich hatte ich einen halben Tag lang eine Edition beim Galeristen signiert, gefühlt tausend Blätter voller Kunst, die in limitierte Mappen kommen und als ich meinen Anteil, fünf Mappen auf den Gepäckträger des Radels schnallte und wund geschriebenen Fingers nach Hause radelte, wurde mir erst auf der engen Landstraße unweit des einsamen Gehöfts bewusst, wie lukrativ ein nicht verschuldeter Fahrradunfall sein könnte, wenn dabei die Ware zerstört wird. Ich hatte Kunst im Verkaufswert von 15.000 Euro auf dem Gepäckträger, doch es fühlte sich an wie ein Stapel Papier und nun liegen meinen fünf Exemplare der Edition bei mir in der Schreibtischschublade und warten darauf … äh ja, auf nichts eigentlich. Und ich warte auch nicht auf irgendwas, sondern lebe mein Leben in den Tag.
Letzte Nacht wachte ich um halb zwei auf und wälzte mich bis fast fünf Uhr hin und her, wälzte Unannehmlichkeiten, die mich zudem eigentlich nichts angehen oder wenig; ein Telefonat mit dem Finanzamt für jemanden, was mir Puls verursacht und mich verunsichert, mich klein und hilflos fühlen macht, so wälzte ich und wälzte und es kristallisierte sich heraus, dass es mein ureigenes, in mir verankertes Problem mit Autorität ist, was mich wach hält: Ämter und schwarze Moloche von Organisationen und herzlose Chatbots und alles, was wischiwaschi menschlos ist, bringt meinen Blutdruck zum steigen, hält mich wach, macht mich wütend, macht mich mich ausgeliefert fühlen.
Ich wünschte, ich hätte mich nie auf die Menschen eingelassen. Eine Szene von ganz weit früher kommt mir in den Sinn: Ich auf dem Rücksitz eines Autos mit nur zwei Türen und mein Vater versucht, mich dazu zu bringen, auszusteigen und in den Kindergarten zu gehen, der erste Tag. Abwechselnd verkrieche mich auf der einen oder anderen Seite des Autos und mein Vater hechtet außenrum, um mich, ohne Hand anzulegen aus dem Auto zu holen, mal an der Fahrseitentür, mal an der anderen und in meiner Erinnerung gelingt es mir, mich zu widersetzen an diesem Tag.
Später kam ich doch noch in einen Kindergarten. Die Geschichte hat womöglich auch anders stattgefunden. Es ist nur ein Erinnerungsfetzen, auf dem ich mein heutiges Postulat baue, dass ich schon von ganz früh an mich nicht mit anderen Menschen einlassen oder mich in deren Institutionen zwängen lassen wollte.
Ich schlief gegen fünf Uhr ein. Zwischendrin habe ich sicher auch geschlafen, denn man denkt immer nur, oder nein, ich tue das, denken, dass ich immer wach bin und am Ende der Nacht gibt es dann doch Lücken im Grübeln, in denen sich die Ungewissheit von Träumen sammeln konnte.
Morgens postulierte ich, dass ich der Weltmeister im Wachliegen bin und diagnostizierte, dass ich zu viele Dinge, die eigentlich im Hintergrund unter der normalen Tagdenke laufen sollten ganz weit nach vorne hole, die mich sodann blockieren.
Ein paar Ideen zur Retrospektivausstellung gingen mir in dieser Nacht ins Netz. Ich kritzelte sie auf Fresszettel. Der Fresszettelstapel ist meine Maximalforderung. Er skizziert, wie ich die Ausstellung gerne aussehen lassen würde. Nun geht es daran, abzuspecken, zu den Akten zu legen und nur ein paar besonders wichtige Aspekte aus tausend Jahren irgendlinkscher Konzeptkunst zu zeigen … und eigentlich bin ich ja Blogger und Schreiber und die Kunstwerke entstehen nebenbei. Ich hoffe, der Galerist versteht das auch.
@kibmib
Das ewige Puzzlebild steigt auf, aber es passt doch nicht wirklich. Denn ein Puzzle ist ja etwas Fertiges, das zerlegt wurde, was ein Menschenleben nie ist. Nie fertig. Immer nur Fragmente, die herumliegen, wie deine Fresszettel, die als Bild viel besser passen. Das alte Heft ebenfalls. Neue Gedanken auf altem Papier. Das mag ich. Und bleibe am Wort "Ausstellung" hängen. "Innenräume-Sichtbarmachung" müsste es eigentlich heißen, oder "Spurenanzeige" … aber was weiß ich denn schon?
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