Diese Vielfalt im Einerlei der Tage. Es gibt nur noch die Landkarte. Wie ein Esel, gebunden an einen Pfosten mit sehr langem Seil, umrunde ich das Land. Die Schweiz ist in ihrer Kleinheit unheimlich vielfältig. Ich bin nun etwa zu drei Vierteln oder gar mehr rund geradelt, erlebte Berge, Flüsse, Seen, große Städte, Dörfchen, Verlassenes, Bevölkertes, Düfte, Temperaturen aller Art über 15 Grad …
Mit der Juraroute, der ich seit Nyon am Genfersee folge, hat der letzte Abschnitt meiner „Expedition“ #UmsLand Schweiz begonnen. Die Juraroute ist in der Liste der nationalen Fernstrecken als Nummer 7 gelistet. Sie sei die schönste und gleichzeitig auch die anstrengendste Route, sagen viele. Über 5000 Höhenmeter prophezeiht die Streckenbeschreibung. Dabei ist die Route nur 280 Kilometer lang. Sie führt zunächst hinauf in die Berge, hält sich eine Weile auf über tausend Höhenmetern mehr oder weniger flach, stürzt bei Vallorbe wieder auf 650 Höhenmeter, um sodann wieder zu klettern und so weiter und so fort.
Am vorgestrigen Tag dem, soweit ich richtig rechne, vierzehnten Reisetag, spielt einmal mehr die all-Reise-Magie mir zum Glück in die Hände. Ein bisschen traurig war ich schon, als ich nach Vallorbe wieder gefühlt fast auf das Niveau des Genfersees abrauschte. Es hat etwas von Vergeudung, finde ich, wenn man einmal eine gewisse Höhe erreicht hat und weiß, das Gebirge, in dem man sich befindet ist 280 Kilometer lang (in Wirklichkeit ist das Juragebirge noch viel länger als nur das Stück an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz); wenn man also auf der Höhe ist und dann führt einen die Strecke wieder bis fast nach unten. Ganz unten ist in diesem Fall der Ort Baulmes. Auf der Karte sehe ich an den Höhenlinien, das wird schmutzig, die nächsten Kilometer, denn die Linien sind dicht an dicht, die Straße führt von 650 Metern in Baulmes auf etwa 1300 Meter am Col de l’Aiguillon.
Ich berichtete im letzten Artikel, den ich in der steinernen, gut zwanzig Quadratmeter großen Pforte des Tempels Baulmes schrieb. Tempel, so werden die Kirchen in der Gegend offenbar bezeichnet.
Nun, das Unwetter entpuppte sich zumindest für meine Umgebung als ganz normales Sommergewitter. Nach anderthalb Stunden war der Spuk vorbei, ließ der Regen nach. Halb acht etwa. Noch zwei Stunden Tageslicht. Hier schlafen? Nicht ungemütlich aber auch nicht unbedingt berauschend. Die Wetterprognose sagte eine zweistündige Regenlücke voraus, also packte ich stieg auf, so steil kann es ja nicht sein, vielleicht mal zwölf Prozent hie und da und oben sind die Höhenlinien weit auseinander. Denkste. Konsequent fünf sechs Kilometer im ersten Gang, gerade so noch tretbar. Unterwegs zwei Schutzhütten. Davon hatte die Frau berichtet, jaja, da gibts Hütten, aber da müssen Sie schon noch ein bisschen strampeln.
Ich fahre. Ich schiebe. Ich fahre wieder, winde mich die Serpentinen hoch. Schiebend zwischen drei und fünf, fahrend zwischen fünf und sechs Kilometern pro Stunde. Nach zwei Stunden bin ich oben. Nieselregen. Noch ein zwei Kilometer und ich stehe vor der Refuge de la Joux. Ein Blockhaus. Mit Ofen. Tischen. Bänken. Sauber. Winddicht, regendicht, sogar das Radel passt hinein. Überhaupt könnten in dem großen Blockhaus gut zehn fünfzehn Menschen schlafen. Tür ist offen. Ein Schild an der Tür sagt, wir sind 1235 Meter hoch. Drinnen ist es warm. Trotzdem schüre ich den Ofen ein. Kerzen und Streichhölzer liegen bereit. Holz sammele ich im Fichtenwald.
Es regnet die halbe Nacht und ich denke wieder über die Reisemagie nach und dass ich mich langsam darauf verlassen kann, immer im rechten Moment gerettet zu werden. Kann ich das?
Nahe der Refuge steht übrigens der höchste Baum der Schweiz. Le Sapin President. Ein Fußweg führt hinunter und als ich morgens weiter radele, sehe ich den Baum unweit der Straße, folge einem kleinen Pfad. Wirklich ein Riese mit über vier Metern Umfang. Neben dem Baum steht seine Wachstumshistorie mit den Angaben zu Umfang, Durchmesser, Höhe und Volumen (beim Volumen ist wohl der Forstwirt mit dem Satistiker durchgegangen).
Ich radele mehr oder weniger auf Höhe bis kurz vor Buttes. Im Ort L’Auberson kaufe ich einen Weichkäse, Wurst im einzigen Laden, einer Fromagerie. In der Bäckerei gibts Brot und einen Kaffee. Unheimliche Stille, wenig Autos. In la Côte de Fees zwei Hundegassigängerinnen, die mir ihre Ferienwohnung schmackhaft machen. Vor dem Weg, der zum Haus führt, steht eine Skulptur aus Holzscheiten die in einem Stahlrahmen zu einem Herz gefügt werden, das ich fotografiere. So kommen wir ins Gespräch über die riesigen Bauernhäuser hier in der Gegend, die Stille und den noch beherrschbaren Touristenstrom im Gegensatz zur anderen Seite des Juras nahe des Genfersees.
Nach Buttes stürzt sich die Straße ins Traverstal, das bekannt ist für Absinth, Rousseau, der hier in einer Höhle lebte, und die Asphaltminen nahe Travers.
Hinterm Haus von Freund Marc stelle ich das Radel ab, mache einen Abstecher per Zug hinunter nach Biel zu seiner Stadtwohnung, wo wir plaudernd den Nachmittag verbringen. Spätabends zurück mit dem Haustürschlüssel in der Hand, erstmals seit Tourbeginn eine echte Wohnung, eine Matratze und viel Kunst an den Wänden.