Ich hatte mich auf einen gemütlichen Schreibmorgen im Zelt eingestellt. Nieselregen auf die Zeltplane, welch beruhigendes Geräusch. Ebenso wie auch beunruhigend. Auf fast 1200 Metern Höhe ist es nicht mehr so prottig warm wie unten am Genfersee, die Luft klebt nicht mehr, sie ist gut atembar, klar, frisch, schmeckt gut. Nach absoluter Stille in der Nacht – nicht einmal Vögel zwitscherten, die Kuhglocken auf fernen Weiden waren zur Ruhe gekommen und überm Flughafen Genf schien auch Pause zu sein, zieht nun um acht Uhr früh die Alltagsgeräuschkulisse wieder auf.
Die Straße, die ich gestern hier herauf fuhr, war zunächst recht stark befahren. Kurz nach 17 Uhr verließ ich Nyon, hatte zum Glück noch einmal eingekauft – der Nächste Laden liegt auf 1000 Metern Höhe, kann dauern, schaffste nicht vor 19 Uhr und wer weiß, vielleicht schließen die auf dem Dorf ja schon um 17 Uhr. Ich kaufte Fertigsalat, Bananen zwei Dosen Bier und einen Liter Milch.
In Nyon zweigt die Juraroute, die Nummer 7 des nationalen Schweizer Radwegenetzes von der Rhôneroute ab. Man sagt, sie sei die schönste aller Radrouten, aber auch gesegnet mit sehr vielen Höhenmetern.
Schon gleich geht es zur Sache, folge ich einem Weg abseits mit kaum Autoverkehr entlang eines Baches, lande auf der Straße mit Feierabendleuten, Lärm und Gestank, gefolgt von wieder etwas Ruhigem, schon kann ich die Schönwohnanlagenzweckbauten der Gegend sehen, betonene Terrassengebäude mit Parkgaragen darunter, die wie Kletterpflanzen die Hügel hinauf wandern und sich zwischen Weinbergen und Getreidefeldern, Wiesen und Wald verteilen. Erst wenn der letzte Angestellte aus Genf seinen wohlverdienten Feierabend angetreten hat und mit dem Auto nach Hause gefunden hat, wird die Straße dir gehören, sage ich mir. Ich darf nicht klagen, es geht sehr gemächlich zu. Die Überholmanöver sind langsam, vorsichtig, mit genügend Abstand. Nichts im Vergleich zum Höllenritt nach Lugano. Fast vermisse ich den Hauch Gefahr, den ein zwanzig Zentimeter-Rückspiegel-Naherlebnis mit sich bringt. Nicht!
Ab dem Dorf Le Muids wird ruhig auf der Straße. Kurz zuvor ein riesiger Betonneubau, sieht nicht aus wie Wohnanlage für Betuchte und ja, stimmt, scheint zu dem Sanatorium zu gehören, das sich zauberbergesk in die Landschaft schmiegt. Ab Bassins gehört die Forstroute praktisch mir alleine. Nur ein Bub von vielleicht acht Jahren kurvt mit dem E-Roller seine Runden, die Mama am Wegrand beäugt ihn besorgt und warnt hie und da. Auf der durchweg geteerten Strecke ist Autofahren verboten. Erster Gang, gut radelbar, nicht so anstrengend. Ich könnte ewig so weiter machen. Muss ich auch im Prinzip, denn es geht auf 1300 Meter hinauf, wenn ich die Höhenlinien richtig lese.
Drei Campingplätze sind in der Openstreetmap verzeichnet, allesamt Naturcampings ohne alles, vielleicht gibts Kompotois, Biokomposttoiletten. Vielleicht. Es sind jedenfalls keine Gebäuder verzeichnet. Der erste liegt auf 1000 Metern, der zweite bei 1160 und der dritte, größte auf 1260 Metern. Ich kurbele. Ab und zu doch ein Auto. Vermutlich Anwohner, Jäger*innen, Naturparkrangerinnen.
Ich bin sehr zufrieden. Der Abend klingt ruhig. Ich schaffe etwa 300 Höhenmeter pro Stunde. Früher waren es einmal 400, meine ich.
Kurz hinter dem Ort Bassins weisen Schilder auf die Besonderheit des Gebiets hin und dass man nicht überall zelten darf. In der Schweiz gilt im Prinzip das Jedermannsrecht und man darf wildzelten, es sei denn, es ist verboten und das ist es in vielen Gemeinden. Hier gilt es nur in den ausgewiesenen Zonen.
Die erste Zone stelle ich mir als frisch gemähte Wiese vor, vielleicht gibt es einen Wasserhahn und zwei Komposttoiletten. Ich finde ein von Kühen beweidetes Gelände, daneben ein Schild, dass man hier nach den Regeln der Gemeinde Bassins zelten darf. Hmm. Die Kühe wirken friedlich. Glocken bimmelnd grasen sie. Unter einer Tanne könnte ich zelten. Ich entscheide mich, weiter zu kurbeln. Das ist auch im Hinblick auf den nächsten Morgen gut. Kein Irgendlink mag Höhenmeter am Morgen. Die bringen nur Verdruss und Aua und schlechte Laune. Mein Hinaufklettern nach Klosters fällt mir ein, wie lang ists her? Bald eine Woche. 25 Prozent Schotterschieben, dass selbst ausgewachsenen E-Bikenden das Herz in die Hosentasche fällt.
Also rolle ich weiter, mache es, wie es gut ist beim Reisen, teile mir das Große, unbewältigbar Scheinende in kleine Häppchen. Next Exit Wiese auf 1160 Höhenmetern. Zwanzig Minuten Kurbeln. das geht, überlege gleichzeitig, in die Nacht hinein zu kurbeln und bis Vallorbe durchzurauschen, nur so eine Phantasie aus gemütliche Dotwatching-Stundem (am PC sich tracken lassende Langstreckenradlerinnen und -radler beobachten, wie sie von Gerhardsbergen in Belgien nach Meteora in Griechenland radeln (Transcontinental Race)).
Der gestrige Tag war vermutlich neben all den vielen schönen Reisetagen dieser Tour #Umsland Schweiz der allerschönste. Wenn ich von der für mich gefühlt spektakulären Antrittsfahrt ins Juragebirge zuerst rede, so ist dies gewiss meiner Euphorie geschuldet. Das Stück zuvor, von der einen Seite des Genfersees, frühmorgens noch in Frankreich via Genf nach Nyon radelte sich auch wunderschön. Und hatte auch seine Anstiege und Gefälle. Eine Begegnung mit, na ja, einem Gemüsestand möchte ich noch erwähnen. Man rief mich von der Straße weg auf französisch an, ob ich Gemüse kaufen wolle, eigentlich nicht, was soll ich mit Kohlköpfen, trotzdem drehte ich um und schaute mir den Mann und die Frau mal an und wir kamen ins Plaudern. Sie hatten Salat, Gurken, Honig und es gab Tee und Kaffee sogar gratis. Stellte sich heraus, dass es sich wohl um einen einmal die Woche immer Mittwochs stattfindenden Verkauf von Gemüse und Produkten aus einer Art Schule handelt, in der junge Menschen an das Gärtnern heran geführt werden. Unglaublich guter kühler Tee, ich meine, sie sagten, etwas mit basil. Basilikumtee? Schmeckt man doch eigentlich. Vermutlich war es eine Mischung. Schwüler Tag, der sich noch entscheiden musste, ob ein Gewitter losbricht oder nicht. Bis Genf müsste ich mit allem rechnen. ich kaufte einen Knoblauch und eine Gurke. Der Verkaufsmann war ganz begeistert vom Radfahren und berichtete von seiner Tour in der Ostschweiz, die er zusammen mit seinem gehbehinderten Sohn gemacht hatte.
Genf durchradelt sich sicher, hektisch, voller Menschen, voller Kultur und Kunst, und auf der Nordwestseite des Sees gleich gegenüber der berühmten Fontaine gibt es einen wunderbaren Park voller uralter Bäume, Zedern und andere Bäume mit weit ausragenden dicken Ästen.
Schließlich doch noch Gewitter und zwar ausgerechnet, als ich auf eine Kirche mit großem, offenem Vorbau zuradele, als würde sie mir von Glückes Hand geschickt. Ich verbringe dort eine Stunde, bis das Wetter besser ist. Der Ort liegt direkt in der Einflugschneise zum Genfer Flughafen. Im Fünfminutentakt landen die Jets. Ich mache ein paar Filme mit der Gopro, wie sie direkt über der Kirche und dem Dorf dahin röhren. Nicht schön, aber faszinierend.
Der heutige Tag? Ich werde wohl das Zelt nass abbauen müssen. Immer wieder regnet es ein bisschen, so wie es sich anhört nicht sehr stark und wohl gut radelbar. Für den Nachmittag sind Gewitter vorausgesagt. Will mal hoffen, dass mir vom Radreisendenschicksal dann wieder ein Vordach von Glückes Hand bereit gestellt wird.
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