Landstraßengedonner. Nieselregen. Grau hebt sich der Tag. Mein Übernachtungsplatz unter einem Betonpavillon etwas außerhalb von Niederbronn-les-Bains ist zweifellos einer der seltsameren. Die Landstraße ist gerade einmal dreißig Meter entfernt. Dank Ohrstöpseln und weil nachts kaum ein Auto oder LKW fährt, habe ich gut geschlafen, aber um sieben Uhr perversfrüh rollt der Verkehr wie eh und je. Auf vier Betonsäulen ruht ein rundes Dach aus Beton. Beim Einschlafen im fahlen Streulicht der Stadt stellte ich mir vor, ich liege unter einem UFO. Grotesker weise kongruiert das Rund des UFO-Dachs mit dem bewaldeten Berg jenseits der Landstraße. Zwischen den beiden Rundungen ein Streifen bleiern bewölkten Himmels.
Habe ich gut geschlafen? Ich glaube ja. Ich fühle mich ausgeruht. Die Oberschenkel fühlen sich nur mäßig maträtiert an durch die 125 Tageskilometer. Es ist kalt. Saukalt. Niesel kitzelt mich an der Nase. Ich habe unter der Hängematte geschlafen, die zwischen den Betonsäulen hängt. Es war mir zu mühsam, in die insgesamt drei Schlafsäcke zu kriechen und dann auch noch in die schaukelnde Matte. Der eigentliche Schlafsack wird ergänzt durch ein Inlay, das verspricht, drei Grad kälter zu ermöglichen, sowie einen Biwacksack, der den Nieselregen abhält. Ja, ich schlief gut.
Vor meinen Augen kriecht eine Schnecke die Treppe hinab in die Mitte des Pavillons. Vermutlich war das mal ein Brunnen. Anders kann ich mir die vielen Löcher und Öffnungen und Befestigungen und die Scheinwerfer, die in den Boden eingelassen sind, um etwas was einst Bedeutung hatte, nun aber nicht mehr existiert, ins rechte Licht zu rücken – anders kann ich mir die vielen Überbleibsel nicht erklären.
Die Schnecke hat nur einen Fühler und ein zartgraues Haus. Schlankes Vieh. Eine Weile beobachte ich, wie sie die Stufen hinab kriecht zum Mosaikfußboden, einen Bogen auf mich zu macht, sich aber dann wieder Richtung Zentrum des Areals wendet. Derweil frühstücke ich, schreibe klammen Fingers einen Blogartikel und als ich auf ‚Veröffentlichen‘ geklickt habe, packe ich alles zusammen, stets bedacht, die Schnecke nicht zu zertreten. Das wäre schlimm, hatte ich mir zuvor eingeschärft, pass auf die Schnecke auf. Doch die ist längst verschwunden. Verflixt schnell die Viecher, oder eben beharrlich. Ausdauernd. Wie wir Langstreckenradler.
Ich könnte die Landstraße nehmen und in drei Kilometern zur parallel verlaufenden kleinen Ortsstraße wechseln, das würde mir drei Kilometer Strecke sparen, die ich zurück radeln müsste, um Landstraße, Bach und ehemalige Bahnlinie zu über oder unterqueren. Verlockend. Aber aufs Dichtgeüberhole auf dem Schreiasphalt bin ich gar nicht scharf und überhaupt, L’Escargot, c’est moi. Beharrlichkeit und ein gut Stück Leidensfähigkeit. Kein eitel Lullifulliradeln wird das heute. Disziplin ist angesagt und Durchhalten. Erstaunlich, wie so ein Hirn mit Willen so etwas schmerzempfindliches, von seiner Natur her Träges wie einen Körper antreiben kann. Auf ins nächste Dorf namens Phillipsbourg, wo ich in einer Boulangerie einen Kaffee nehme. Bemaskt rein, drinnen alle ohne Maske, egal, Kaffee bestellt. Jemand hustet. Apnoe-Kaffeetrinken, derweil weitere Leute reinkommen und ich ziehe mir die Brühe elend schnell rein, weil ich mit so vielen Atmenden und plaudernden Leuten nicht so lange in einem Raum sein will. Noch einer kommt rein. Mit Maske, schaut sich unsicher um in der Runde und nimmt dann die Maske ab. Welch bizarre Logik, als ob der Freiherr von Knigge empfohlen hätte, aus Höflichkeit die Maske abzulegen wider die eigene Vernunft.
In Phillipsbourg endet der kleine Bypass an ruhigen Sträßchen und Waldwegen, die parallel zur Straße führen und man muss entweder im Vielverkehr auf der Landstraße die etwa zwanzig Kilometer nach Bitche radeln, oder links oder rechts Nebenstraßen durch Täler und über Hügel. Ich entscheide mich für rechts (westlich), denn die Strecke kenne ich noch nicht. Via Sturzelbronn und später vorbei am Camp Militaire de Bitche, einer riesigen, unheimlichen Truppenübungsanlage mitten im Wald. Die Strecke ist wunderschön bis das Camp beginnt. In Sturzelbronn eine Kompanie Soldaten, die Rucksäcke neben ein Wegkreuz gestellt, wartend, ich sage Bon Jour. Arme Teufel. Die müssen schwitzen und den Körper knechten. Ich darf schwitzen und den Körper knechten.
Kein gutes Wetter an diesem Tag. Ich friere. Hände und Füße schlafen ein. Ich verfluche das Radfahren. Ich gebe das Radfahren auf, schwöre ich mir, stoisch kurbelnd in den fraktalartigen mit zahlreichen Aufs und Abs gespickten Windungen rings um das Militärcamp. Wie soll ich derart jämmerlich je noch einmal ans Nordkap radeln, heule ich vor mich hin. Selbst das Projekt #UmsLand/Bayern fortzusetzen, scheint mir in dieser Jammerstunde rings um Bitche fast unmöglich. Sofa, das ist es was ich will. Sofa und Ofen und an die Decke starren und mir vorstellen, ich schlafe unter einem Ufo und wenn ich von meinem imaginären Sofa aufstehe, muss ich darauf achten, die einfühlerige Schnecke nicht zu zertreten. Vorbei am Etang de Haspelschied, der zur Hälfte im militärischen Sperrgebiet liegt. Alles tut weh. Ich habe Hunger. Sobald ich anhalte, friere ich. Hab den dummen Anfängerfehler gemacht, morgens nicht das feuchte Fahr-T-Shirt anzuziehen, sondern das einzige verbliebene trockene. Somit kann ich mich zum Pausieren nicht trocken umziehen.
Herrje. Ein Paradetag ist dieser gestrige letzte Reisetag, eine Blaupause für spätere Gutrederei nach dem Sprech, siehste, haste ja doch gut überstanden. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob das zum Beispiel in einem norwegischen Fjord so ähnlich glimpflich ist. Bin ich so lange nicht gereist, dass ich es erst wieder lernen muss?
Letzter Anstieg nach Hause eine zwanzig Prozent Steigung. Ich erlaube mir, zu schieben, oft stehen zu bleiben, durchzuatmen und als die Steigung wieder flacher ist sitze ich wieder im Sattel und feixe, ich könnte ja einfach am heimischen Sofa vorbei fahren. Nordkap nur noch 3600 Kilometer entfernt …
(Dritter und letzter Tag der Rückreise ‚Mit dem Rad zur Liebsten‘ #mdrzl Aargau-Pfalz).
Tourhistory: Seit 2016 lege ich die etwa 350 Kilometer einmal im Jahr mit dem Rad zurück, statt per Zug oder per Auto. 2021 fiel die Tour aus. Die vergangene Tour 2022 radelte ich auf dem Hinweg nur das Stück Zweibrücken-Offenburg und Basel-Frick (190 Kilometer) und bewältigte etwa 150 Kilometer per Zug. Für die Akten: Zugticket Offenburg Basel kostete 13,90. Fahrradticket wird nach neun Uhr früh nicht benötigt. Die Regionalbahn fährt sich prima per Rad, da man am Beginn der Linie einsteigt und am Endhaltepunkt aussteigt (spart Gerangel beim Fahrradstellplatz). In der Schweiz durchquerte ich den Bözbergtunnel von Frick nach Brugg per Zug. 14 Franken – Fahrradticket wäre wohl nötig gewesen, wurde aber nicht kontrolliert.
Statistik: Rückweg etwa 21 Stunden im Sattel. Mein innerer Selbstüberschätzer unkt, das könnte man auch mal in einem Rutsch fahren, wie so ein Transcontinentalracer.
Danke fürs Berichten und für die Tourbilder auf Twitter.
@kibmib blöd, jetzt gibts keine Morgenlektüre mehr für mich, wo Du am Ziel angekommen bist.
„Endlich ist er wieder unterwegs!“, so mein erster Gedanke. Endlich wieder feinsinnige Texte von unterwegs, willkommene Abwechslung zum Alltag im heimischen Büro. Ich plädiere somit klar für längere Reisen als die vom Aargau nach Zweibrücken. Gerne im Schneckentempo statt als Iron Man, wir Langstreckenradler brauchen ja Zeit, all die Eindrücke aufzunehmen.
Lieber Christian, das tut so gut, das Feedback. Hab Dank! Und ja, ich glaube, ich komme wieder ‚da raus‘, wenn auch nur für zwei drei Wochen. Heute habe ich das Zugticket nach Bayern gebucht und werde ab 17. Mai den dritten Abschnitt #UmsLand/Bayern erkunden. Drei Jahre sind vergangen und ich hatte schon den Glauben an das Projekt verloren. Aber nun habe ich richtig Lust darauf. Auch aufs unterwegse Schreiben mal wieder.