Phantastische Kulisse. Schwarz wie ein Scherenschnitt beendet ein Streifen Nadelwald in der gestrigen Abenddämmerung den festen Teil des Planeten, steht gezackt vor verschiedenen gelblich grauen Tupfern aus Dunst und Schichtwolken. Ich selbst befinde mich als kleiner Fleck mit knallroter Packtasche inmitten eines welligen, gelblich beigen Hochlands. Der Abend saugt alle Farben auf und das Grün der Wiesen ist schon ergraut. Ich bin im Hochwald, wenn ich mich nicht irre, ich muss das noch recherchieren, auf jeden Fall aber kratze ich am südwestlichen Fuß des Hunsrücks. Konnte nicht widerstehen, ab dem Saartal bei Saarburg über das Dörfchen Irsch noch hier heraufzukurbeln, ähm, besser gesagt, die letzten zwei Kilometer schob ich, so steil stürzt sich die Rheinland-Pfalz-Radroute zwischen Oberzerf und Irsch hinunter ins Saartal.
Nun habe ich die Eifel doch tatsächlich in zweieinhalb Tagen durchradelt, ohne großes Leid und Muskelschmerz. Gedankt sei es der geschickten Führung der Radroute meist über Bahntrassen oder Flussradwege, etwa 250 Kilometer, von denen gefühlt mindestens 70% auf alten Bahntrassen verläuft.
Frühmorgens via Arzfeld und Neuerburg teils durch Tunnel, teils über Brücken bis ins Enztal. Dort ging es ein bisschen zur Sache und beim Wechsel ins Prümtal muss man sogar ein Stück Landstraße bewältigen. Ab dort quasi Durchmarsch bis zur Sauer, auf Bahntrassenweg bis nach Wasserbillig an der Mosel, Konz, Saar – et voilà.
Nach zehn Tagen auf der Rheinland-Pfalz-Radroute kann ich sagen, das Ding lässt sich mit ein wenig Aufmerksamkeit prima nur nach Radwegebeschilderung fahren. Nur selten sind die Schider an schlechten Positionen angebracht oder verdreht oder fehlen. Meist sind es Unaufmerksamkeit und Baustellen, die zu Verirrungen führen, manchmal verirrt man sich, weil ein LKW vor dem Schild steht. Etwa fünfzig Prozent der Menschen, die ich unterwegs traf, wissen, dass es die Rheinland-Pfalz-Radroute gibt und was sie ist und dass sie direkt vor ihrer Haustür vorbeiführt. Man sollte dieses Ding von Radweg groß bejubeln und lobpreisen, auf dass es im ganzen Land Bekanntheit erlangt (sagt einer, der sich heute den Hunsrück hinaufquälen muss :-))
Doch genug technisches Zeug. Die Reise geht für mich ziemlich tief. Rein gefühlsmäßig. Vor drei Jahren, als ich sie schon einmal in die andere Richtung machte, lag mein Vater im Sterben und ich erinnere mich noch genau, wie er mir kraftlos vor der Haustür zuwinkte und lächelte und ich mit dem Gedanken losfuhr, ob ich ihn lebend wiedersehen würde. Mein Gott, sind doch nur vierzehn Tage, ha, aber gegen Lebensende hat nunmal jeder Tag eine besondere Bedeutung. Mathematisch lässt sich das in einer queren, nicht wissenschaftlichen Formel sogar berechnen, indem man die Restlebenszeit als absolutes Maß setzt und sie durch die Anzahl der Tage teilt und diese wiederum ins Verhältnis setzt zu früheren Restlebenszeiten, die man einmal zu erwarten hatte. Es wird immer weniger, immer schneller, immer enger und irgendwann, zack.
Solche Gedanken, während man dahinfliegt auf drei Meter breitem Teer über Brücken durch Tunnel und durch Wälder, hier einem griesgrämigen Kerl entgegenlächelt und dieses Glück, ach, wenn sich plötzlich sein trüber, vielleicht von Sorgen umspülter Blick aufhellt und er zurücklächelt und blieben beiden stehen, würden sie vielleicht wie Irre in ein hysterisches, grundloses Gelächter ausbrechen. Das ist die Magie des Menschseins. Und der Hund des geläuterten Griesgrams wedelt freudig mit dem Schwanz. Alle sind glücklich und driften dahin auf ihren Lebenswegen.
Oder die morgenmüde, nicht sehr gut gelaunte Verkäuferin in einer Bäckerei, der man mit Kontra-Schlechte-Laune begegnen könnte und beider Tag würde langsam Richtung Hölle driften, oder aber man schlägt die andere Richtung ein, gutwortend lächelnd, milde und ein kleines Trinkgeld. Zack.
Funktioniert natürlich nicht immer, aber wer wäre ich, würde ich es nicht immer wieder versuchen und wer wären die anderen, würden sie es nicht auch manchmal bei mir versuchen und mich aus meiner warum auch immeren schlechten Laune herausholen.
Vorbei an Luxemburg. Immer wieder Grenzübergänge. Viele Autos mit Luxemburger Kennzeichen. Fremde Zunge allerorts. Die Pandemie kommt mir in den Sinn. Zehn Tage nichts mitgekriegt. Ist Luxemburg noch Risikogebiet? Welche Regeln gelten wo? Die Welt völlig uninformiert betrachtend rolle ich dahin und muss mich auf meine schlichten Beobachtungen am echten, pulsierenden Objekt verlassen: In den Läden ziehen die Menschen Mund-Nasenschutz an, draußen eher nicht. Die Grenzübergänge werden nicht überwacht. Alles in Ordnung? Fallzahlen? Oder was auch immer für Zahlen? Keine Ahnung.
Fast wie mit dem Wetter, über das ich im gestrigen Artikel schrieb: ohne Prognose und ohne Information ist trotzdem Wetter.
In Saarburg wirds schließlich hektisch. In der zwischen Felsen unter Burgen und Tunneln und Kirchen sich erstreckenden Altstadt auf der linken Seite der Saar stürzt sich ein Wasserfall über wilde Katarakte in die Tiefe. Zahlreiche Restaurants, Touristenmassen, alle Sprachen der Welt, hunderte Radlende, Fotoexzesse, so viel Trubel und Enge, dass manche und ich sogar auf der Straße den Mund-Nasen-Schutz tragen.
In Saarburg kaufe ich ein Brot und ein paar Lebensmittel, folge schließlich den Radroutenschildern …
Auf den Wiesen unterhalb des Dorfs Irsch hätte ich gerne gezeltet, weite Kurzgraswiesen, aber wegen Wassermangels musste ich zum Friedhof in Irsch, um die Trinkflaschen zu füllen. Und da in der Tour kein Zurück vorgesehen ist, schuftete ich mich auch noch die zwei Kilometer barbarische Steigung hinauf aufs Plateau bei Oberzerf.
Ha! Kein Zurück. Vorgesehen. In der Tour. Schreibt er. Nuja. aber möglich.
Nicht so im Lebensweg.
Voller Kernsätze!
Danke. Dein Kommentar ist mein Lesezeichen, falls ich mal das Blog fleddern möchte.
Was für ein genialer Text, und ja, ich unterschreibe Sonjas Kommentar. Gutes Weiterradeln wünsche ich dir!
Dankeee.
Lieber Jürgen,
ich bin noch da,
Du bist noch da,
so lass uns Winken…
Genau das. Wirken wir!