Überall Haufen voller Reisezeug. In der Küche die haltbaren Lebensmittel, Nudeln für drei Tage, Zwiebel und Zucchini aus dem Garten, Tütensoßen, Gewürze. In der Künstlerbude Schlafsack und Klamotten, Kocher, Handtuch, Waschzeugs. Im Atelier Zelt, Isomatte, die Wasseraufbereitung. Als bahnte sich eine größere Tour an und in der Tat wäre es gut möglich einfach drauflos zu radeln mit der Packliste, ähm, den Packhaufen. Tausende Kilometer weit.
Ich mache das manchmal, Reisesachen auf Haufen legen und träumen. Im Web sehe ich, dass Norwegen bereisbar ist. Entgegen der Annahme, man müsse vierzehn Tage Quarantäne absolvieren, bevor man sich im Land frei bewegen kann, listet die Visitnorway-Seite eine Karte mit Ländern, aus denen man touristisch einreisen darf, ohne zu quarantinieren. Alle angrenzenden Nachbarländer außer Schweden sind grün. Aus grünen Ländern darf man einreisen. Idealer Weise würde man über Hirtshals in Jütland nach Kristiansand schippern, denke ich bei mir. Kurze Strecke, wenig Zeit mit Menschen. Prima bewältigbar auf dem Deck der Fähre, dem Wind ausgesetzt, frischluftumspült, fern von potentiell Erkrankten.
Was so eine Pandemie doch im eigenen Kopf anrichtet. Manchmal denke ich, es ist alles nur im Kopf. Ich kenne keinen Erkrankten persönlich (zum Glück!), noch nicht einmal jemanden, der Erkrankte kennt kenne ich. Wenn es kein Internet gäbe, keine Zeitung, kein Fernsehen, keinen Marktplatz, keinen Tratsch … Informationen, so unsichtbar wie Mikroorganismen, befallen das Hirn und wirken. Beeinflussen einen, lassen einen Entscheidungen treffen. Das große Problem mit den Pandemieinformationen ist, dass ich sie nicht einordenen kann. Dass sie eine Mischung aus paradox und unvollständig sind, sowie schwer zu verstehen.
All die Zahlen! Dieses Land soundsoviele Infizierte, Tote und Genesene, jenes soundso, als ob das so einfach wäre. Warum listet das Land mit über einer Milliarde Menschen kontinuierlich stagnierende Fallzahlen und woanders steigen die Zahlen rasant an? Warum vergleicht man nicht die Gesamtzahl im Kontinent mit den vielen Ländern mit der Zahl des großen Landes im Kontinent jenseits des Atlantiks, sondern gaukelt sich vor, geschönt durch die Einzellandausgabe der Zahlen, es ist doch viel weniger schlimm hier als dort? Und wie riskant ist es, das Haus zu verlassen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit, einem Virus über den Weg zu laufen, es einzuatmen und wieviele Viren sind überhaupt schädlich und und und. Ich habe den Eindruck, andere Menschen können sich auf Basis dieser Informationen ein prima Bild der Lage machen, wissen genau, was ist und was nicht. Was haben die, was ich nicht habe? Das sind doch völlig aus Zusammenhängen gerissene Werte, wie kann man daraus etwas exakt genug berechnen, um eine Meinung zu bilden?
Ich wundere mich schon seit jeher, wie andere Menschen das schaffen, sich ein Bild zu machen. Wie sie sich eine Sicht der Welt schaffen. Im Fall der Pandemie: wie für die Einen wahlweise die Krankheit gar nicht existiert, die Anderen aber sie fürchten (von Außen gesehen muss das doch so wirken, als sei beides wahr). Ein Doublebindproblem. Was wissen die Einen und die Anderen, was ich nicht weiß. Was ist es in dem Informationsdschungel, was sie nicht verwirrt, mich aber in völliger Orientierungslosigkeit meinungslos und ohne vernünftiges Bild dastehen lässt?
Ich habe mich vermutlich extrem verändert in den letzten Monaten. Mich selbst verloren, weiß nicht mehr wer ich bin, okay, das wusste ich auch vorher nicht, beziehungsweise, sehe mich ohnehin nur als eine Variable von Wesen, das mal so, mal so wirkt. Mich als Ich gibt es gar nicht. Sondern nur eine Annahme, die ich von mir selbst habe. Manchmal ist da etwas Stabiles, das mich Ich zu sein glauben lässt. Es deckt sich wohl in den wenigsten Fällen mit den Annahmen, die Menschen haben, mit denen ich es zu tun habe. Menschen, die mehr oder weniger kontinuierlich denken, ich sei ich; also ein fertiges Bild von dem Wesen haben, das vermeintlich ich ist. Paradoxes Sein und Nichtsein. Eigentlich verhält es sich ähnlich wie mit der Pandemie. Da ist jede Menge Information. Manches ist wahr, manches nicht wahr. Das gute und das schlechte Futter und beides nimmt man zu sich. Vermengt es, verdaut, bzw. interpretiert es und ernährt sich davon. Von Gift und guter Nahrung gleichermaßen.
Die Weigerung, Information zu verdauen und Rückschlüsse zu ziehen. Gezielte Meinungslosigkeit, bedingungslose Meinungslosigkeit, weil Meinung doch nur wischiwaschi ist (ist das nicht auch schon eine Meinung). Zu etwas Endgültigem durchdringen, einer finalen Wahrheit. Etwas Unumstößliches. Einer werden. Ich.
Kompliziert. Ich sollte zu den Stapeln an Reisesachen zurückkehren. Die sind greifbar. Man kann sie sich gut vorstellen und Reisesachen lassen keinen Interpretationsspielraum. Es sind Sachen, die so sind wie sie sind und keineswegs Variablen wie etwa Menschen, in denen dies oder jenes vorgeht. So schlicht wie eine Isomatte möchte man manchmal sein. Dann hätte man es geschafft. Dann hätte man eine Identität. Eine Farbe, eine Länge, eine Breite und ein Gewicht und keinerlei Meinung oder Ansicht. Ein völlig neutrales Etwas, das Nichteinfluss nimmt auf den Lauf der Welt, das niemanden manipuliert, nicht gierig ist, niemanden ins Verderben stürzt, keine Bestrebungen hat … keine Blogartikel schreibt.
Was für ein Text!
Du hast m. E. ziemlich recht.
Gerade die Länderbegrenzung der Infizierten mit zwangsweise folgender Grenzschliessung finde ich schmerzhaft.
Habe es trotzdem langsam wieder gut. Ich hoffe, dass das bei mir nach 4wöchigen Veloferien in D’Land auch wieder ein wenig besser sein wird.
Denk – denk – denk – lauter Gedankenstriche machen. Wie auch sonst damit klarkommen?
Du lieber Inwortefasser …
Lieber Juergen,
„Was so eine Pandemie doch im eigenen Kopf anrichtet.“
Nicht die Pandemie selber, aber die Reaktion bzw. Nichtreaktion der verantwortlichen Politiker [hm, eigentlich muesste ich ja schreiben, „verantwortungslosen Politiker“] und die unendlich vielen anderen Covidioten hierzulande, die davon dummschwaetzen, eine Maskenpflicht wuerde ihre von der Verfassung garantierte Freiheit wegnehmen, all das richtet in mir eine ohnmaechtige Wut an. Es frustiert und deprimiert.
Reisen, wenigstens hier im Land und per Wohnmobil, moechten wir zwar gerne, aber wir trauen uns nicht. So bleiben wir, weitgehend selbstisoliert, zuhause, und erfreuen uns denn, so gut es geht, an den Erinnerungen an fruehere Reisen.
Liebe Gruesse, und bleib‘ gesund,
Pit
„Bleib lieber auf dem Weg,
bleib lieber ein Bündel von Meinungen,
bleib lieber ein Vielich,
werde kein neutrales Etwas,
werde kein endgültiges Ich,
werde kein meinungsloser Irgendwer,
denn bedenke bei all dem:
Nur der Umweg bringt Neues, nur die Unwissenheit führt zur Neugier, nur das Unabgeschlossene garantiert Freiheit.“
(UH, Buch der Kalenderspruchweisheiten, Aeternitas-Verlag 2000, Nr. 69) 😉