Ich loddere. Ich schludere. Ich gehe hart am Limit dieser Tage. Ich erinnere mich an keine Zeit des Lebens, in der ich produktiver war, in der das Hirn ratterte wie ein freigelassener Hamster, der dem Rad entronnen ist. Überall Futter, überall Weite, überall Licht. Die Außenwelt mag eng geworden sein, unpassierbar, aber innen, und darauf kommt es an, ist mächtig Bewegung entstanden. Vielleicht handelt es sich hierbei um eine Art Antidepression. Vollgepumpt mit bordeigenen, vom Körper selbst erzeugten Hormonen surft man auf einer Welle des Glücks. Die Fähigkeit, ungutes Unabänderbares emotional auszublenden, tut Ihr Übriges. Kann ich mich glücklich schätzen?
Mann, Mann, Mann, brummt mir der Kopf. Hätte ich bloß nicht die Weinflasche geöffnet, die mir Manolo beim Segre-Stausee vors Zelt gelegt hatte. Etikettenloses, purpurenes Gesöff. Mein Kopf sagt, 15 Prozent Alkohol. Mir ist schlecht am gestrigen Morgen. Die aufgehende Sonne sticht. Ich trinke meinen Rest Trinkwasser leer, packe ungefrühstückt das Zeltlager zusammen, schaffe mich den schmalen Pfad runter bis zum Parkplatz beim Aussichtspunkt. Letzter Blick auf den Rialb-Stausee, dann rein in die Kurbeln.
Bloß wohin? Meine angepeilte Route führt über Ponts südwärts durch weites Land bis nach Cervera, wo ich auf der Open Cycle Map einen Radweg verzeichnet sehe. Der mit iCat bezeichnete Weg schlängelt sich ab Cervera westwärts bis nach Lleida. In der Karte habe ich die Route als gestrichelte Linie eingezeichnet (Ebene Supplement20). Radwege ziehen mich magisch an. Sie sind die Blüten, die den vorankommenswilligen Radler verlocken. Wie Blumen für Insekten. Radweg? Nix wie hin! Spanische Radwege sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, weiß ich aus der Reise nach Gibraltar im Jahr 2016. Am Besten, man fährt Fatbike in Spanien – okay, ich übertreibe ein wenig, dennoch, ich sah Dinge, die als Radwege ausgezeichnet sind in Spanien …
Wenn du dich in einem Flusstal befindest, hast du als Radler neben vielen Möglichkeiten des Weiters insbesondere zwei, die sehr verlockend sind: flussaufwärts oder flussabwärts.
Segre, Segre, woher kommst Du, wohin gehst Du? Wikipedia verrät, der Riu Segre ist mit 265 Kilometern der längste Nebenfluss des Ebro. Er entspringt auf gut 2600 Metern Höhe nördlich der spanischen Exklave Lívia, nahe der Grenzstadt Puigcerda. Der Segre ist also ein alter Bekannter für mich, stelle ich fest. Schon auf der Andorra-Reise 2000 radelte ich talaufwärts bis Bourg Madame, wunderte mich über den Fetzen Spanien in Frankreich, der auf der Karte eingezeichnet war: Lívia.
Da die Gegend ziemlich karg ist, ich erschöpft war und überhaupt im Jahr 2000 auf dem Rückweg mit kaum noch Geld in der Tasche auf Vorankommen programmiert war, ließ ich sowohl Segre als auch Lívia außer acht.
Erstaunlich, dass es oft mehrere Anläufe braucht, um Erkenntnis zu erzeugen, um Wahrnehmung zuzulassen, um die innere Landkarte mit den Informationen, die man im Laufe der Jahre sammelt, zu kolorieren. Wiederholung und hamsterradeske Vorgehensweisen sind da manchmal ziemlich nützlich.
Flussaufwärts fahren würde mich im Hier und Jetzt nicht nur in die falsche Richtung führen – Belchite liegt südwestlich – es würde mich auch in den Krieg führen. Ich recherchiere Lívias kuriosen Exklavenzustand, der weit in die frühe Neuzeit zurückführt, in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Mitten in umkämpftem Gebiet gelegen, wurde die Grenze rund um den Ort mit dem Pyrenäenfrieden 1659 festgeschrieben. Seine iberische Existenz verdankt Lívia den damals herrschenden Status als Kleinstadt. Der Spanisch-französische Krieg überdauerte den Dreißigjährigen Krieg um eine gute Dekade. Elf Jahre Kriegsverlängerung im 17. Jahrhundert. Darauf hat niemand Lust. Nein nein, Segre aufwärts zu radeln würde mich nicht nur weit weg bringen vom Ziel, es würde mich am sanft murmelnden Gebirgsbach womöglich unterschwellig an Krieg und Verderb heranführen.
Noch ziemlich torkelig von Manolos Rotwein schaffe ich mich auf der Straße einen Kilometer zurück bis zum Mirador Torreblanca, wo die Straße zum Ort Torreblanca ungeteert und staubig sich Segre abwärts schlängelt. Drei Kilometer bis zum Dorf, das ich in der Mittagsstille durchquere und weiter, weiter, weiter flussabwärts. Bei Artesa de Segre überquere ich den Fluss und folge dem Canal d’Urgell.
Faszinierend! Mittlerweile habe ich mich an die Gravelstraßen gewöhnt. Es fühlt sich an, wie durch eine nordschwedische Baustelle zu radeln, die niemals endet. Oft folge ich kilometerweit einer Staubwolke, die von einem der selten verkehrenden Fahrzeuge, meist Traktoren, aufgewirbelt wurden. Bin ich das Volk Isreal der Moderne, tagsüber geleitet von einer Staubwolke, des nachts von brennenden Büschen …? Das Säuferkopfweh legt sich langsam, die Sinne werden klar und ich spiele mit solchen Gedanken an Biblisches. Immerhin ist ja auch Karfreitag, nicht? Die landwirtschaftlich genutzte Gegend bietet nicht so viel Abwechslung. Weitsicht, ja, davon hat es viel hier. Weitsicht und Staub und dieser kleine Kanal, der ein markanter, ziemlich tiefer Einschnitt ist im trockenen Land. Die Gegend wäre vermutlich unbelandwirtschaftbar, wenn es den Bewässerungskanal nicht gäbe. In der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts erbaut, bringt der Canal Principal (siehe Abschnitt mitten im Artikel), das nötige Wasser aus den Pyrenäen, um das Urgellplateau im Spitz zwischen Segre und Ebro zu einer ertragreichen landwirtschaftlichen Gegend zu peppen.
Südlich von Artesa bohrt sich die Kanalstrecke durchs Plateau, verschwindet in einem Schlund, ward nie mehr gesehen, so denke ich, aufwärts kurbelnd, schwitzend bis zu einer kleinen Kirche namens Marcavau. Hier schlafe ich meinen Rausch aus auf einer kleinen Bank unter uraltem Olivenbaum. Mann, Mann, Mann, tu das nie wieder. Wein aus Flaschen ohne Etikette ist immer gefährlich. Hätte, hätte, Weinflaschenetikette. Das kann man sogar singen.
Eine Frau räuspert sich, weckt mich. Peregrino? Fragt sie und präsentiert mir einen uralten, riesigen Schlüssel. Hmm, achsoo, fällt dann der Groschen, sie ist die Küsterin und bietet den Erschöpften Einlass in das normalerweise verschlossen Gotteshaus. Warum nicht, gebe ich ihr zu verstehen und dass es lange her ist, mit der Pilgerei. Dass ich unterwegs bin in Sachen Krieg, verschweige ich ihr. Es würde nur zu Missverständnissen führen an der scharfen Kante der Sprachbarriere. Wie sollte ich Ihr erklären, dass ich aus dem Dreißigjährigen Krieg über den Pyrenäenkrieg flussabwärts unterwegs bin zu den spanischen Bomben des Bürgerkriegs in den 1930er Jahren?
Die Kirche ist kühl, ruhig, ergreifend. Ich bin alleine. Die Kraft kehrt zurück. Kerze anzünden … es gibt ja noch eine Realität neben dieser fiktiven Reisegeschichte: das Pandemiegemetzel da draußen; all die Menschen, die erkranken, festsitzen, hoffen, bangen, sterben werden, schon gestorben sind … nicht genug Kerzen vorrätig in der kleinen Kirche von Marcavau für all das Übel. Trotzdem. Ich muss doch was tun?!
Am späten Nachmittag kurbele ich weiter auf dem frühlingsfrisch bepflanzen Plateau oberhalb des Kanals. Unheimliche Vorstellung, dass sich das Wasser unter mir seinen Weg bahnt. Auf der Karte sind in Abständen von etwa 350 Metern Berggipfel verzeichnet. Auf gerader Linie südwärts wie eine Kette. Noch merkwürdiger, die Dinger sind durchnummeriert. I’U 387,5 – Io Dos 395,6 – Io Tres – 418,3 – Io Quatre – 405,7 – Io Cinc – 422,1 – Io Sis – 432,3. Dann ein Bruch in der Nummerierung. Der siebte ist der Io Serra de la Torreta – 472,2 hoch gelegen.
Rätselhaft. Schnurgerade führen die Ios südwärts und ich ranke mich wie eine Schlange auf den staubigen Wegen darum. Die sieben Gänge Jesu vielleicht, spukt es mir im Kopf: Urteil, Kreuz nehmen, erster Sturz, Begegnung mit Maria, Simon hilft, Veronika reicht das Schweißtuch, zweiter Sturz … das sind doch mehr Stationen, und, ach ja, auf der Karte sind auch noch der Io Deu – 412,5 und der I’Onze 381,9 verzeichnet.
Irgendwann fällt der Groschen. Die Ios liegen genau über dem unterirdischen Kanal. Der Wasserader, die die umliegenden Felder fruchtbar macht. Jede Wette, dass es sich um Pumpstationen handelt.
Im Dorf Ivars d’Urgell fülle ich meine Trinkflaschen auf. Es ist schon spät. Die Sonne wirft meinen langen Schatten in den Staub der Straße. Mein angepeilter Radweg mit dem Kürzel iCat ist nicht mehr weit. Vielleicht finde ich dort eine Schutzhütte? Weites, karges Land, alles gut einsehbar. Aber schließlich dann doch ein Parkplatz vor dem Golfplatz Belpuig. Nix mehr los hier am Abend, so dass ich das Zelt ganz unverschämt auf einer kleinen Wiese neben dem Parkplatz aufbaue. Niemanden wird es kümmern, so hoffe ich und als es dunkelt, bin ich ohnehin unsichtbar.
Tag … ich muss wieder Finger zählen, vergangenen Montag bin ich seit drei Wochen unterwegs, Tag 21 also. Daumen raus, Dienstag 22, Zeigefinger, Mittwoch 23, Mittelfinger Donnerstag 24, Ringfinger, Karfreitag, Tag 25 der Reise und nun, da ich dies schreibe auf einer kleinen Bank in der Morgenkühle, kleiner Finger, Tag 26 jetzt.
Bank, Morgenkühle, schön tourscharwenzelnd beim Golf Pitch und Putt Belpuig? Hättste wohl gerne. Wach auf! Bürostuhl ist angesagt.
Auf dem einsamen Gehöft ließ ich es gestern ruhig angehen. Ich verbummelte den Tag, brachte Saatgut aus, begann mit dem Malen eines Bildes für das Col-Art-Projekt, das wir kürzlich ins Leben gerufen hatten.
Die Vorgängerreisen Zweibrücken-Andorra 2000 und 2010 befinden sich vollends auf dem Rückweg. 2000 erwache ich auf einem Campingplatz an der Loue zu Füßen des Jura-Gebirges. 2010 treffe ich in Borreda endlich Frau SoSo wieder, die an dieser Stelle über unser Wiedersehen berichtet – die Vorlagen aus der Vergangenheit betrachtend, auf die Gegenwart abgleichend, beginnt nun vollends Neuland. Das Blogbuch entwickelt sich in eine unerwartete Richtung. Selbst in der Anfangsphase vor ein zwei drei Wochen konnte ich nicht ahnen, wie es weitergeht, ob es weitergeht. Die pandemisch bedingten Probleme, die die momentane Zeit mit sich bringt, kann ich durch die geradezu lustvolle Arbeit an den erfundenen Texten gut dimmen.
Was nicht geht, ist den Umstand zu ertragen, dass es unmöglich geworden ist, die geliebte Frau SoSo hinter der Schweizer Grenze zu besuchen. Oder sie mich. Die rührenden Bilder in den Medien vom Zaun bei Kreuzlingen kommen mir in den Sinn. In die Gitter gekrallte Hände Liebender, zwei Meter voneinander entfernt und mir wird einmal mehr der Irrsinn von Menschengrenzen bewusst, ihre behördlich angeordnete Willkür, ihre über Jahrhunderte gewachsene Tradition. Wir sitzen eingekerkert wie Mensch gewordene Lívias in fremden Landen und um uns schwirren Viren, die sich wohl sehr wundern würden über das Menschenverhalten, wenn sie denn denken könnten.
Das gedankliche Sichabrackern hört doch nie auf…Ob das gut so ist?
Ja,doch – odrrr?
Hervorragend ist das. Ich habe so richtig viel Spaß am Nichtreisen und trotzdem Vorankommen.
das spüre ich! Und wo ich jetzt schonmal tippe, sage ich auch noch (bestimmt zum wiederholten Male, Chapeau, Monsier Irgendlink für diesen Beitrag und überhaupt.
Jetzt lese ich weiter.
Mein Bier ist fast alle.
Danke liebe Ulli.
Hach, hach … die Frau mit dem Kirchenschlüssel … ich mag deine Geschichten, dein Buch, deinen Weg, der wächst und über das Wunder namens Phantasie.
Danke, dass du für uns alle die Welt erradelst.
Es ist so einfcah, dieses Kartenreisen. Ein bisschen Maps schauen und Berichte anderer lesen und schon findest du eine kleine alte Kirche, von der du, der Rezension anderer Besuchender sei dank, erfährst, dass sie verschlossen ist, aber der Schlüssel in einem Haus nahebei liegt. Die Küsterin und dieses ganze Situation zu erfinden war dann nur noch ein Schritt weit weg.
Tja, schon, aber … es ist deine ganz eigene Magie. ;-)
Genau, Frau Soso, denn den Lesenden erschließt sich ja nicht wirklich was Phantasie und was Echterleben gewesen ist.
Herr Irgendlink, das ist genial!
Das verwirrt mich auch selbst, aber letztlich wird es vielleicht keine Rolle spielen. Wichtig ist doch das gelebte Experiment.