Habe ich je den Hund der Rezeptionistin des Campingplatzes Cambrils vorgestellt? | #zwand20

Habe ich mich je vorgestellt? Als ich gestern die ersten Einträge zum aktuellen Projekt #zwand20 anschaute, kamen mir Zweifel, ob es stimmig ist, wie ich dieses Buch ‚aufziehe‘. Allgegenwärtig von Anbeginn die Figur Ich. Ich bins, Dein Erzähler. Nimm Platz auf dem virtuellen Gepäckträger. Du kannst mir vertrauen. Wir radeln durch Frankreich bis runter nach Andorra. Du hast doch zwei drei Wochen Zeit, oder?

Auf den beiden Radtouren Zweibrücken-Andorra 2000 und 2010 befinden wir uns auf dem Rückweg.

Blick von einer Terrasse hinab auf einen Campingplatz. Grünes Zelt neben Reiserad mit roten Taschen im Nebel
Aufbruch im Dauerregen auf dem Campingplatz Cambrils in den Pyrenäen.

13. Mai 2010. Der Campingplatz in Cambrils ist sehr sauber. Er liegt auf einer planierten Terrasse oberhalb einer Weide. Ich höre Kuhglocken. Abends quaken Frösche. Ich stecke mitten in den Wolken in einem Bergdorf in den südlichen Pyrenäen. Diese Stille! Sehr sehr selten fahren Autos durchs Tal. Das Waschhaus ist blitzeblank geputzt und beheizt, was auch nötig ist, denn hier oben ist es nicht gerade warm. Als ich gestern Abend ankomme, ist die Rezeption verwaist, zwar abgeschlossen, aber der Schlüssel steckt außen. Die Einfahrt vergittert, daneben eine kleine Tür für Fußgänger. Offen. Ich schiebe das Reiserad rein, elend müde und erschöpft. Harte Serpentinen aufwärts schuftete ich seit etwa Organya über die schmale, kaum befahrene Straße. Der Platz ist so gut befestigt, dass ich kaum die Heringe in den Boden bekomme. Nur zwei großen Haken aus Titan, die ich für solche Fälle dabei habe, kann ich mit Steinen in den Boden meißeln.  Man kann die leichten, breiten Heringe aus US-Army-Beständen auch als Klappspaten verwenden. Den Rest des Zelts befestige ich mit Steinen. Mittlerweile ist auch die Rezeptionistin wieder da. Sie deutet aufs Handy. Kein Netz hier. Man muss auf die andere Seite des Tals, um zu telefonieren.

Die Berge lassen mich nicht los. Folgte ich zunächst dem Rio Segre auf der Hauptstraße abwärts, erwarteten mich kurz hinter Organya wieder Serpentinen. Tausche Dieselrußgestank gegen kaum befahrene, happige Gebirgsstraße. Das kleine Dorf mag bald tausend Meter hoch liegen. Die umliegenden Gipfel haben um die 1500 Meter laut Karte. Mit der Rezeptionistin radebreche ich auf französisch, englisch und katalanisch übers Wetter, das Tal, die Leute, das Handynetz und …

… habe ich je den Hund der Rezeptionistin des Campingplatzes Cambrils vorgestellt? Das brave, gescheckte Tierchen heißt Pippo. Die Frau redet auf so herzige Weise mit dem Hund und erwähnt dabei immer wieder seinen Namen, was das Hundchen schwanzwedelnd quittiert. Es ist zu drollig.

Den Bergen entrinnen im Jahr 2020. Kurs Süd. Knallhart. Ich habe meine Tourpläne geändert und zücke meinen Geheimplan aus der Tasche, den ich mir vor Beginn dieser dritten Reise nach Andorra zurecht gelegt hatte. Was würdest du tun, Herr Irgendlink, wenn du Zeit ohne Ende hättest, Geld in Maßen, wie würdest du zurück reisen, wenn du das Ziel erreicht hast? Per Auto mit Frau SoSo wie im Jahr 2010 (sehr wahrscheinlich). Nicht fliegen, nicht mit dem Zug! Eventuell auf die schnelle, dreckige Art durchs Rhônetal radelnd nach Hause? All diese Möglichkeiten gaukelten vor dem Tourstart in meinem Kopf, aber hinter den Kulissen des Machbaren ist stets noch etwas anderes, etwas mächtigeres, etwas, was dich insgeheim in seinen Bann zieht. Danach musst du suchen im Leben. Das musst du zulassen.

Und es leben, wenn es geht. Und wenn es nicht geht, lebe es in der Phantasie.

Die Ruinenstadt Belchite südlich von Zaragossa steht schon seit bald dreißig Jahren auf der Landkarte meiner zu erradelnden Ziele. Luftlinie gerade einmal gut 200 Kilometer südwestlich von Seo d’Urgell.

Zettel mit Klammer, handgeschrieben: Einkauf für Journalist F., Tante Ute, die Frau Mama und mich (ich will auch was abhaben.
Einkaufen während der Pandemie mit einem Hinweis am Wagen, dass man für mehrere Leute einkauft, um nicht als Hamsterer abgestempelt zu werden.

Der gestrige Tag war anstrengend. 8. April 2020. Zweibrücken. Mittwochs in Zeiten der Pandemie ist mein Einkaufstag. Ich zwinge mich, bewaffnet mit Mundschutz und Desinfektionsspray, hinaus ins Getöse, um für Journlist F., Tante U., die Frau Mama und mich einzukaufen. Dieses Mal sagte die Tante ab. Journalist F. ist stationär im Krankenhaus, benötigt einzig Nikotinkaugummis aus der Apotheke und Kleinigkeiten aus seiner Wohnung. Die Frau Mama braucht Brot und ich habe Milch, Bier, Hefe und ein paar Kleinigkeiten auf dem Zettel. Soweit so gut. Leichter Fall. Edeka des Vertrauens in einem moderat bevölkerten Vorort, aber denkste, du hast die Rechnung ohne den Osterhasen gemacht. Überall Autos, Menschen, Gewimmel, fast wie im Normalbetrieb des Landes. Journalist F. und ich pflegten in solchen Zeiten ausufernder kollektiver Konsumexzesse immer zu lästern, die Leute denken, es gibt nie wieder etwas einzukaufen und rennen sich gegenseitig die Köpfe ein und nun, da ich dies erinnere, denke ich, jetzt ist es so weit. Sie denken es nicht nur, es ist auch möglich, dass es wirklich bald nichts mehr einzukaufen gibt.

Der fette Vorhang der Realität lüftet sich und dahinter tauchen neue Denkweisen, neue Lebensmodelle, neue Routen und Abzweige auf. Es war nicht schön im vorosterlichen Gemetzel. Eine Minute vor Ladenschluss erreiche ich völlig außer Puste, per Radel mich aufs Klinikgelände schleichend, die UKS-Apotheke, um Journalist F.s Warenkorb mit Nikotinkaugummi zu komplettieren. Unterwegs proppenvolle Landstraßen, Autos schlangenweise.

Als bestünde die Welt aus tausend Viren und hinter tausend Viren keine Welt.

Wieder zu Hause. Am heimischen PC schaue ich mir auf der Google-Karte die Strecke Richtung Belchite an. Zunächst würde ich dem Fluss folgen wie im Jahr 2010 bis nach Organya und schließlich abzweigen auf die kleine Seitenstraße, die sich entlang zweier Stauseen schlängelt in Richtung Ponts, etwa 70 Kilometer. Eine ganz normale Tagesetappe. Google hat die Strecke tatsächlich fotografiert. Die alte Straßenführung windet sich wie ein Wurm um die neue, begradigte C-14. Dankbar nehme ich das Angebot wahr und halte mich von der Hauptstraße fern, so gut es geht. Zweige unterhalb der Mauer des Oliana-Stausees ab auf die weniger befahrene LV-5118. Ich verlasse das Gebirge, flankiere kahle frühlingshafte Felder. Google scheint die Gegend in irgendeinem der vergangenen Frühlinge fotografiert zu haben – das passt zum Jetzt.
In kalkigen Stein gehauene Passagen wechseln mit krüppelig bewachsenen mediterranen Wäldchen, stets kurvenreich, so typisch für die iberische Halbinsel. Die Trasse ist meist der Höhengegebenheit angepasst, also ein quälendes Auf und Ab, tendentiell aber abwärts. Nach dem Oliana-Stausee folgt der Rialb-Stausee. Der Fluss ist terrassiert. Das ganze Land ist terrassiert. Die Felder sind terrassiert. Wie monströse Spinnfäden kreuzen Starkstromleitungen. Zwei Wasserkraftwerke in kurzer Folge. Seit einigen Kilometern ein Lastwagen vor der Linse. Mann, Mann, Mann, warum überholt der Google-Fotograf den nicht!? Das Fahrzeug verstellt die Sicht auf die Straße. Ich klicke mich voran, ohne überholen zu können. Schon zieht ein Kleinwagen an uns vorbei und überholt auch gleich noch den Laster. Ein Viehtransport, erkenne ich in einer Kurve. Wir passieren einsame Gehöfte, derb gemauerte Gebäude, deren unverputzte Ziegelwände wie Gefängnisse wirken, es wahrscheinlich auch sind: Ställe. Schweinegeruch hie und da. Das Wetter: pralle Sonne. Nachmittags über zwanzig Grad. Ich muss Sonnencreme auftragen. Die Nase hängt in Fetzen. Deutliche rote Ringe an den Beinen. Seit Andorra trage ich die kurze Radelhose, streife allenfalls morgens zum Aufwärmen die wollenen Beinlinge über, die ich vom Vater geerbt habe. Ach Vater. So lange schon tot. Kilometerweit kurbele ich sentimental durch die karge Gegend.  Gedanken über Schweine auf dem Weg zum Schlachthof, den längst verstorbenen Vater, den Tod im Allgemeinen. Durst reißt mich aus dem trüben Gedankenstrom. Trinken, Junge, viel trinken bei der Hitze!

Abends stehen über 76 Kilometer auf dem Tacho. Beim Mirador Panta biege ich ab und erreiche nach ein paar hundert Metern einen großen Parkplatz mit Aussichtspunkt. Kreisförmige Autospuren auf dem unbefestigten Platz. Die Jugend der Gegend, die sich hier trifft und aus Langeweile und Imponiergehabe Spuren radiert? Oder etwa ein echter Moorlander? Ich muss schmunzeln. Momentan steht nur ein Auto hier. Es ist unheimlich still. Ich bin müde. Ruhe eine Weile, freunde mich mit dem Ort an. Schließlich schiebe ich das Radel einen Pfad hinauf durchs Gebüsch bis zu einem Feld, an dessen Rand ich das Europennerzelt aufbaue. Blick auf die Staumauer des Embalse de Rialb. Leider finde ich nur eine spanische Wikipediaseite, die Auskunft gibt über das Bauwerk. Immerhin verstehe ich, der See ist etwa 1600 Hektar groß und die Staumauer misst fast hundert Meter. Dass es ein Kraftwerk ist, ist klar. Überall Draht und Strommasten, Umspannwerke usw. Ich koche Reiseessen vor dem Zelt, Couscous, eine halbe Zucchini, eine Tomate, Tomatenmark und viel Butter, Pfeffer und Salz. Dazu ein 0.25er Fläschchen San Miguel. Prost!

Ponts gibt nicht viel her, wenn man den Namen in die Suchmaschinenmaske eingibt. Noch nicht einmal eine Wikipediaseite widmet sich dem kleinen Ort. Auf der Google-Karte sind aber Geschäfte, Restaurants und andere kommerzielle Dinge gelistet.

Rings um Ponts:
Ein Modellflugplatz
Motocrossplatz
LKW-Werkstatt
Autowerkstatt
Polizeidirektion (? (Commisario de Destricte de la Policia …))
Monestir de Santa Maria de Gualter, eine Ruine? Touristenparkplatz, Stromleitungen allüberall. Thujabäume am Parkplatz, betonumrandete Trafostation. Alleinestehendes Mülltonnenensemble beim Klosterparkplatz.
Rinderfarm
Mirador de Torreblanca
Mirador Panta (Notizen, 8. April 2020, spätabends)

Ich verbringe den Abend recherchierend am Rechner, mache Notizen, öffne etliche Webseiten, meist von Wikipedia, oft auf Katalanisch. Fertige Screenshots aus der Google-Streetview, speichere sie im Projektordner zwand20 auf der heimischen Festplatte. Ich weiß nicht, ob ich sie legal verwenden darf hier im Blog. Vermutlich nicht. Verflixtes Urheberrecht. Vielleicht merkt sich der geneigte Leser, die geneigte Leserin einmal ein Passwort, nur für den Fall, dass ich den urheberrechtlich bedenklichen Inhalt einem ausgewählten Kreis zeigen möchte: MUTABOR.

Dieser Artikel kommt ohne die Bilder und Screenshots aus.

Heute Tag 24 der Reise. In der Karte ist dieser Artikel beim Mirador Panta oberhalb der Staumauer des Elektrizitätswerks von Rialb gelistet. Im Jahr 2010 starten wir am Tag 24 bei ekligem Wetter in Cambrils, während der Tag 24 des Jahres 2000 auf dem osterlich recht bevölkerten Campingplatz in Amberieux, nördlich von Lyon beginnt. Ich habe der Karte eine weitere Ebene hinzugefügt, in der ich den fiktiven Rückweg über Belchite eintrage. Im Ebenenmenü kann man sie einblenden.

Und nun? Die Reise im Konjunktiv? Conditional Traveler? Hätte hätte Fahrradkette, müsste müsste Nordseeküste. Die Pandemie zwingt einen in eine Warteschleife aus Könntes und Wolltes. Ich hab da mal noch einen kleinen T-Shirt-Shop vorbereitet. Hemden in Zeiten der Corona.

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