Maschinengewehrgeballer mitten in der Nacht. Endzeitstimmung. Träume vergessen. Hin und her wälzen. Aufstehen. Es dämmert. Wieder ein sonniger Tag, vermutlich. Wie heißt das aktuelle Hochdruckgebiet? Die ewige Sonnenstimmung geht mir langsam auf den Sack. Wir haben April! Es sollten hohe, graue Wolken von Westen übers Land ziehen, die ab und zu Regen, Graupel, Schnee bringen. Aprilwetter adieu. Das ist Maiwetter. Wenn nicht sogar Juniwetter. Fast 25 Grad in der Südwestpfalz. Die lehmige Erde reißt auf, zeigt ihre Wunden. Knoblauch stirbt von Oben. Ich muss täglich gießen. Die Obstbäume blühen. Kaum Insekten, geschweige denn Bienen. Kaum noch Vögel. Nur noch dieser wolkenlose, erbarmungslose Himmel mit dem Schönwetterschmeicheln, das mich umlullt.
Erst kommt das Virus, dann kommt die Angst, dann kommt der Lockdown und hinter allen Mauern pulst die Militärmaschine. Ich habe nie mitgeschrieben, wenn Maschinengewehre ballerten. Der Truppenübungsplatz ist nah. Es kam hin und wieder vor. Vielleicht ist es normal? Fiel mir nur im Standardbetrieb dieser, bis vor Kurzem pulsierenden Welt nicht auf? Dass tagsüber der Flugverkehr von Ramstein übers Land donnert ist vielleicht auch normal? Es klingt nur momentan etwas dramatischer, weil die zivile Welt ruhiger geworden ist, weil die Luftstraße, die von Benelux übers einsame Gehöft nach Osten führt, momentan kaum beflogen ist, weil alles Zivile am Boden bleibt, weil niemand mehr fliegen kann, darf, will …
Campingplatz Gran Sol, 12. Mai 2010. Der Platzbesitzer beginnt um acht Uhr früh mit schweren Maschinen an seinem Schwimmbad zu arbeiten. Ich bin noch total müde. Nicht erschöpft, wie zu erwarten wäre, nur unheimlich müde. Erschöpfung wäre eigentlich der erwartbare Zustand nach der gestrigen Etappe … gegen 20 Uhr erreichte ich Seo d’Urgell, suchte nach den Bildstandorten aus dem Jahr 2000, fand die Platanenallee mitten in der Stadt, an der ich damals das letzte Kunststraßenfoto gemacht hatte und schon war ich wieder raus aus der kleinen Stadt auf der N 260 südwärts. Keine Spur von Erschöpfung, keine Spur, dass ich tagsüber 1700 Meter hinauf geklettert war bis zur Porte d’Envalira. Passfahren liegt mir nunmal. Ich kann mich wunderbar in Serpentinen festbeißen, sie durch stoische Langsamkeit und mit viel Geduld bezwingen, ganz im Gegenteil zu Auf- und Abstrecken, bei denen man nicht weiß, woran man ist, kaum oben, schon wieder unten und so weiter und so fort. […] Bis L’Hospitalet konnte ich im zweiten oder dritten Gang fahren. Mäßiges Verkehrsaufkommen vor zehn Uhr. Pfropfenweise überholten mich Kolonnen langsam fahrender Fahrzeuge, meist LKW oder träumende Touristen mit einem Rattenschwanz von Dränglern. Fast unerträglicher Dieselrußgestank. Vielleicht wäre es gesünder gewesen, wenn ich mir in Ax-les-Thermes zwei Päckchen Gauloises Caporal gekauft und sie im Laufe der Tages auf Lunge geraucht hätte.
Hätte hätte Raucherkette.
Ich habe es geschafft. Zweibrücken-Andorra 2010 ist Geschichte. Um 15:24 stehe ich neben dem Schild ‚Porte d’Envalira 2408 m‘ Das Thermomenter zeigt 6 Grad. Die Sonne scheint. Von Unwettern blieb ich verschont. Tag 22 des Kunstprojekts (im Jahr 2000 stand ich schon an Tag 17 hier oben). Ich bitte einen Mann, ein Gipfelfoto von mir und Fahrrad neben dem Schild zu machen. Seine Kinder tollen im Schnee. Der Mann ist Niederländer. Das hatte ich zunächst nicht bemerkt, da er ziemlich gut französisch spricht. Ab nun geht es nur noch abwärts. Andorra ist eigentlich eine schiefe Ebene. Das Land besteht aus ein paar Flusstälern, die sich in La Vella treffen. Keuchte ich die letzten Höhenmeter im ersten Gang durch die dünne Luft, 5 bis 8 km/h langsam, geht es nun rasant mit bis zu siebzig Sachen abwärts. Soldeu, Encamp, Skiorte. Auffällig die vielen Baustellen und mit ihnen Divisionen von Betonmischfahrzeugen, aufwärts im ersten Gang dieselrußstinkend mir entgegen, abwärts als langsames Hindernis ebenso dieselrußstinkend, sonor motorbremsend vor mir. Andorra ist ein Phänomen. Oberflächlich betrachtet ist es ein gigantischer Supermarkt, in dem man allerlei nutzloses Zeug kaufen kann. Zollfrei oder -reduziert heißt das Zauberwort. Ich denke, ein Großteil des Verkehrs rührt vom Tagestourismus all der Komm lass uns mal schnell tanken, Zigaretten und Kaffee kaufen-Leute. Im alten Tagebuch fabuliere ich, dass man die Geschäfte in den Fels gemeiselt hat, sie mit teuren Uhren, elektronischen Gadgets bestückte, eine Glaswand davor, Zigaretten stangenweise, Nutella in 5 Kilo-Packungen, alles in gigantisch, verbilligt … kaufmichtot. In der Tat hatte ich in den Geschäften Probleme, Nahrungsmittel in normalen Portionen für den Tagesbedarf eines Reisenden zu kaufen.
Ich fotografiere mich durch die Hauptstadt. Überall Baustellen. Glas und Stahl und Beton neben einem abschüssigen Gebirgsbach, der sich über zahlreiche Katarakte durch ein enges, oft von Betonmauern gefasstes Bett zwängt. Die spanische Grenze bei etwa 700 Höhenmetern. Und weiter abwärts bis nach Seo d’Urgell. Was ich morgens als radlerischen Bausparvertrag Rate um Rate einzahlte in Erster-Gang-Fahren, erhalte ich abends mit satter Dividende ausbezahlt.
2020. Die Sonne steht hinter milchigem Himmel. Acht Uhr früh. Schwingt das Wetter um? Der Tag soll heiß werden. Mittwoch. Eigentlich Assistenztag. Normalerweise würde ich mich mit Atemschutzmaske hinaus wagen in die Welt und für den Freund Journalist F. einen Wocheneinkauf machen. Seit Freitag ist er im Krankenhaus. Erhält Infusionen mit Antibiotika. Es wirkt, sagte er am Telefon vorgestern. Heute keine Einkäufe. Nicht für ihn. Für mich? Ein Packen Toastbrot. Ein Liter Frischmilch. Hefe. Bier.
Die Reise ist zu Ende. Auch die vorliegende virtuelle Umsetzung der Radeltour 2020, die niemals stattgefunden hat? Welches Resümee kann ich ziehen? Spaß hat es gemacht. Anstrengend war es. Zufrieden bin ich. Müde. unheimlich müde. Ein echter Pausentag täte Not.
Eine innere Stimme sagt mir aber, du darfst jetzt nicht aufhören. Bei normalen Reisen in ‚echt‘, wäre es kein Problem, du könntest nach ein zwei Wochen und der typischen post-tourischen Tristesse wieder in den Alltag zurückfinden. Nicht so hier und jetzt. Das IST der Alltag. Wenn du jetzt aufhörst mit dem Schreiben, mit dem Kopfreisen, dann wirst du womöglich verrückt. Da kann man sagen was man will: handele so, wie es die Lesenden gerne sehen würden; handele, wie es der Markt verlangt, triff eine kluge Entscheidung. Hör auf. Lass es!
Es gibt keine Kreuzung an dieser Stelle des Buches. Ich kann nicht nach links, nach rechts oder gar zurück. Ich muss weitermachen. Den Alltag inmitten einer Pandemie meistern so gut es geht. Das Hirn auf Wanderschaft schicken. Ich erinnere mich an eine einzige Etappe, die rein physisch etwa den Zustand spiegelt, in dem ich mich gerade befinde – nicht anhalten können. 2001 rund um die Schweiz. Nachdem ich ab Brig über den Simplon nach Domodossola in Italien geradelt war, folgte das Centovalli. Eine enge, schmale, sehr gewundene Talstraße, die nicht sehr angenehm zu radeln war. Ständig plagte mich die Angst, von einem der nicht gerade zimperlich überholenden flotten italienischen und Tessiner Autos zerquetscht zu werden. Zwischen Felswänden, Mauern und in Tunneln gab es keinerlei Möglichkeit, anzuhalten und mal eine Pause zu machen. Nicht einmal zum Pinkeln. Das relativ kurze Stück, etwa zwanzig, dreißig Kilometer war ein einziger Spießrutenlauf. Vielleicht lässt es sich mit dem derzeitigen Status dieses noch offenen Blogbuchs vergleichen? Es gibt kein Anhalten, kein Zurück, es gibt nur noch das Weiter. Das Augen zu und durch.
Eng ist er geworden, der Alltag. Ich bin fast nur noch am Hof, fälle Holz, mache Garten, erledige längst überfällige Feinarbeiten, Dinge, die ich schon lange einmal hätte tun sollen. Es ist eine Zeit der Fellpflege auch, denke ich. Im galoppierenden Voranschreiten des pandemischen Alltags liegt auch eine unheimliche Form von Ruhe.
Wo stehe ich nach diesem 22ten Reisetag? Im Jahr 2000, mit reisenetappen auf dem Rückweg, habe ich das Rhonetal erreicht. Wildzeltend unter pfirsischbäumen erwache ich in der Nähe von La Roche de Glun nace Valence. 2010 erlebe ich den Schwimmbadbau auf dem Campinplatz Gran Sol, südlich von Seo. 2020 dito Gran Sol, aber im heimischen Bürostuhl. Große Sonne folgt dem gestrigen Supermond. Es wird ein heißer Tag heute. Ich muss Bier kaufen.
Den Marker dieses Artikels setze ich in der Projektkarte auf das Centovalli in Norditalien und dem Tessin. Und: natürlich gab es auch Möglichkeiten anzuhalten auf der schmalen Talstraße. Es ist nur ein Bild.
Andorra verzeichnet heute 545 Infizierte auf der weltweiten Pandemiekarte.
Wenn das alles vorbei ist, fahren wir mal wieder ins Tessin. Centovalli ist nämlich schon auch schön, nicht nur eng 🙈
Über Schweden und Schottland ins Tessin. Oder umgekehrt. Hach!
Danke, dass du uns auf deine Bürostuhlreise mitgenommen hast. Viele deiner Gedanken haben mich zum Nachdenken angeregt. Sollte der Ausnahmezustand länger anhalten, würde ich eine virtuelle Reise #ansKap sehr begrüssen!
Virtuell ans Kap. Das wäre etwas. Oder dem Furt Blog folgend um die Erde.
Gerade höre ich im Radio:frühsommerliche Temperaturen, na prima, mir wird Angst und Bange! Meine Wiese knirscht, ich gieße die Kräuter und die hochkommenenden Blumen, warum?
Bluestag. Aber es gibt kein Zurück, kein links, kein rechts, nur weitermachen. JA!
Liebe Grüße
Ulli
Ich glaube, Langsamkeit und Geduld sind diesertage Eigenschaften, die es einem sehr erleichtern, das zu überstehen. Ich grüße hinauf auf den Berg.
Kommen sahen wir das eigentlich lange, aber wie schnell das alles plötzlich ab geht, ist gespenstisch.
Mein Sohn sagt, lass diese Sentimentalitäten der guten alten Zeit.
Wir schaffen wiederaufladbare Elektrobienen und die Wirtschaft brummt…
Vielleicht entwickelt sich ja künstliche Intelligenz?
Augen zu und
dichten –
wäre auch eine Alternative 😉
Eigentlich biste ja auch schon dabei, es zu tun.
Fellpflege, ja, stimmt:
es ist jetzt a u c h eine Zeit der Selbstberührungen!
BbT,
Uwe
Gutwort, Augen zu und dichten!
Wie jetzt. Zuende? Da bist Du in nur drei Wochen von Zweibrücken nach Einigeflußtäler geradelt, so weit oben … Womit reist Du diesmal zurück?
Es geht weiter. Ich experimentiere. Es könnte gut werden.
Dieser blaue Himmel. Ich traue ihm nicht mehr. Das Himmelblau sei die Farbe der Unendlichkeit, erklärte mir mein in den 70ern verstorbener Papa seinerzeit. Ob er wie Lind Kernig jetzt von seiner Wolke auf einen grünen Planeten schaut? Oder einen aschfahlen mit Artisten in eMotions auf Bürostühlen, von Fernweh künstlich beatmet?
Vielleicht sollte ich mir meine Maske aufsetzen, die Gummihandschuhe überstreifen und die Hühner satteln: Hinterm Horizont geht es weiter.
Allerherzlichsten Dank für das Mitreisen mit Dir und Deinem Freund Gute Besserung.
Danke lieber Robert. ‚Von Fernweh künstlich beatmet‘ das klingt ebenso gruselig wie faszinierend. Gutwort.