Gemeinsam mit Marc Kuhn, dem Begründer der Kunstbewegung Col-Art und Rossana Duran haben wir ein Kunstprojekt gestartet, von dem wir hoffen, dass weltweit viele Menschen jeglichen Alters, Geschlechts, jeglicher Nation teilnehmen. Ziel ist es ein großes, gemeinsames Kunstwerk aus 20×20 cm großen Leinwänden zu gestalten, das in Biel in der Schweiz zusammengenäht wird zu einer großen Leinwand. Hier geht es zur Projektseite.
Das einsame Gehöft ist bei Sturm ein unheimlicher Ort. Die schlechte Isolierung der Künstlerbude und die zugigen Ritzen zwischen Türen und Fenstern bescheren einem ein wahrhaft orchestrales Erlebnis, wenn der Wind etwas stärker wird. Ich lebe in einer Ruine, wenn man die Deutung für Normalität heran zieht, die noch bis vor Kurzem als Standard herrschte. Strenger Nordwind klatscht gegen das Fenster, drückt Regen durch Ritzen, die an der Tapete herunter laufen, vorbei am Drucker bis ins kleine Regal, in dem ich dem Druckerpapier vorsorglich mit alten CD-Hüllen etwas Abstand zum Untergrund verschafft habe, damit das Wasser darunter durchfließt. Ein nachmittägliches Decke-auf-den-Kopf-Gefühl macht mich unruhig und ich überlege, eine Runde zu radeln. Der Wind sagt nein. Sagt er das wirklich? Ich muss an das Crask Inn denken, ein einsames Haus im Norden Schottlands an der A 836. A-Straßen sind in England und Schottland so eine Art Bundesstraße. Mindestens. Wenn nicht sogar vom Charakter her wie Autobahnen, also nicht radelbar. Im Norden Schottlands sieht das etwas anders aus. Manchmal sind die A-Straßen dort nur einspurig mit Ausweichstellen, wenig befahren und prima Radelstrecken. Das nationale Radwegnetz Sustrans verzeichnet etliche Radrouten in Großbritannien auf verschlafenen schottischen Hauptstraßen.
Ein atemberaubender Sturm tobt über Schottlands Nordküste. Der Barkeeper des Ben Loyal Hotel, in dem ich mich heute Nachmittag um vier Uhr einquartiert habe, sagt, das sei ein ganz normaler Durchschnittssturm für diese Gegend. Die Bäume auf dem Friedhof haben einen Großteil ihres jungen, Laubs verloren. Hellgrün glänzt die Gosse. Regen prasselt gegen die Glasfront der Hotellounge und kalte Luft dringt durch die Ritzen. Zu Hause hätte ich mich heute nie und nimmer auf die Straße gewagt. So herzlich die Wirtsleute, Kay (Kate) und Mike, im Crask Inn sind, heute morgen war es schwer vorstellbar, dass ich noch einen weiteren Tag dort oben in der Einöde verbringe. Ich hätte nur das kleine Zimmer, das einmal dem Sohn des Hauses gehört hat. Das Hofschild baumelte kontinulierlich gen Norden, in meine Richtung, so dass ich wenigstens keinen expliziten Gegenwind haben würde. Gegen elf schufte ich mich einen halben Kilometer berghoch bei Seitenwind, bis die Straße Richtung Nordost dreht und ich unerwartet durch die Einöde geblasen werde, begegne einem völlig durchnässten holländischen Radler, vollgepacktes Rad, guter Dinge. Ich weiß nicht, ob ich diese Demut aufbringen würde. Er entpuppt sich als Schottlandprofi, hat gewiss schon ganz andere Situationen ausgestanden. Nur kurz schwätzen wir, sonst würden wir auskühlen. Ich überhole einen Marathonläufer, der als Teil einer Staffel einen Weltrekord brechen will: Von Landsend in Cornwall, ganz im Südwesten Englands joggen sie nach John O’Groats und wieder zurück. Begleitet von Wohnmobilen und verfolgt von einem Auto, das mit Warnblinkern vor dem 15 km pro Stunde schnellen Hindernis warnt.
Als selber ein Spinner, darf ich mutmaßen, dass es in der Gegend vor Spinnern nur so wimmelt. Vier klatschnasse Radler kriechen mir auf einer Steigung, die ich gemütlich, den Sturm im Rücken 20 km/h hinauf kurbele mit Schrittgeschwindigkeit entgegen. Ihr hättet ihre strahlenden Gesichter sehen sollen, als ich nach hinten auf ein weißes Häuschen deute, kaum fünf Minuten her, dass ich daran vorbei gesaust bin, und ihnen sage, dass dort ein Pub ist.
Einsames Gehöft, Pfalz. Nieselregen fast den ganzen Tag. Das Mieswetter ist perfekt, damit die Leute daheim bleiben. Hasardeur, der ich bin, lege ich die Regenkleider an und sattele das Ebike. Der halbvolle Akku sollte noch genug Saft haben, um eine Runde zu drehen. Schlimmer als Schottland kann es nicht werden und als alter Radeltaktiker starte ich gegen den Wind, um am Ende nach Hause gepustet zu werden. Die Landstraße auf der Sickinger Höhe ist kaum befahren. Jenseits dieses Hauptverkehrsstrangs begegnen mir fast gar keine Autofahrer. Vereinzelte Hundegassigänger im Liebestal, eine vierköpfige Familie. Apnoe-Begegnungen mit freundlich bescheidenem Nickgruß. Allenfalls ein ‚Allo‘ ohne H gesprochen rutscht einem hie und da raus. Und so nähere ich mich der Stadt von Norden, werde, des kaumen Verkehrs sei dank, tollkühn. Biege auf die längste Straße der Stadt ein, die von Ost nach West führt. So wenig Autoverkehr tagsüber habe ich hier noch nie erlebt. Die Parkplätze vor den Lebensmittelläden sind mäßig belegt, viel ruhiger als sonst.
Eigentlich hätte ich längst wieder nach Norden abbiegen müssen, um zurück nach Hause zu gelangen, aber die längste Straße der Stadt bereitet mir in ihrem unbefahrensten Moment solch eine Freude, dass ich einfach weiterbrause, großzügig überholt von einigen wackeren Klopapierjägern auf der Suche nach dem knapp gewordenen, schneeweißen Wild.
Geisterbusse drehen die Runde. Null Fahrgäste in rauschenden Ungetümen. Hier ein Taxi, das einen jungen Mann ausspuckt, dort ein Hipster im Kombi, geschlossenen Fensters E-Zigarette qualmend.
Zweibrücken-Andorra ist in diesem Moment unendlich weit weg. Kaum erinnerbar. Tag fünf der Reise führte mich 2000 von Dijon nach Autun. Zunächst ab Campingplatz Lac Kir auf dem Kanalradweg raus aus der Stadt bis Velars-sur-Ouche. Anschließend auf der Landstraße noch ein Gutstück durchs Ouche-Tal und weiter südwärts. In Bligny, wo ich hoffte einkaufen zu können, ändere ich die Richtung, um vor Karfreitag noch ein paar Lebensmittel einkaufen zu können. Arnay-le-Duc, Partnerstadt von Worms ist das Ziel, das man mir empfiehlt, wenn ich denn noch einen offenen Laden finden möchte. 40 Kilometer Nationalstraße nehme ich dafür in Kauf. Man sieht, wir Menschen würden einfach jede Grenze überschreiten, um unsere Gier nach Kaufbarem zu stillen. Zugegeben, das ist als Radler etwas anderes. Aber dennoch, ich glaube, ich hätte damals prima mit meinen Bordlebensmitteln weiterradeln können. Das Osterwochenende wäre halt kulinarisch recht karg gewesen.
In (vermutlich) Champlitte entstand dieses Selbstportrait in der spiegelnden Tür eines Hotels.
2010 liege ich einen Tag zurück auf meiner Radeltour und steuere von Nordosten auf Burgund zu. Nahe Orain passiere ich die ‚Ancienne Porte de Bourgogne‘. Wahrscheinlich liegt dieses alte Pforte im Städtchen Champlitte, das alte Tagebuch gibt da nicht so viel her, hält nur den Namen vor und dass die Gegend die ‚ergiebigste Goldader ist‘. Viele Fotos von Gebäuden und Denkmälern und jungen Getreide- und Rapsfeldern finden sich in meinem Bildarchiv.
Am ‚Canal de Bourgogne vers Champagne‘. Rauschende Schleuse. Ich sitze im [Wind]Schatten eines kleinen Häuschens. Leichter Sonnenbrand auf Nase und Händen, trotz Schutzfaktor 30. Zum Fahren ziehe ich Socken über die Hände [so kalt ist es]. Immer noch fasziniert, was ich 2000 alles habe links liegen lassen: Champlitte zum Beispiel. Aber 2000 war das Wetter schlecht, ich hatte noch Illusionen, kannte die Langsamkeit nicht […]
Die Langsamkeit kannte ich auch auf der Reise 2010 noch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie jetzt kenne. Der Stillstand, wie ich ihn drei Artikel zuvor beschrieben habe … 2015 auf dem Weg zum Nordkap, kam ich ihm wohl ziemlich nahe. Und erreichte trotzdem mein Ziel.
Die längste Straße der Stadt führt einmal quer durch Zweibrücken bis zur saarländischen Grenze. Bei einer Bushaltestelle vor einem Wohnhaus steht ein kleiner Beistelltisch. Die schön gedrechselten Beine gefallen mir. Die Resopalvertäfelung mit Mühlenmotiven ist noch gut in Schuss. Sperrmüll? Sonst steht nichts vor der Türe. Ich bin unsicher. Normalerweise würde ich klingeln und nachfragen. Aber in der Pandemie? Eine Weile lümmele ich vor dem Haus und beäuge das Fenster im Parterre, ob vielleicht jemand im Haus ist, mich bemerkt, ich auf den Tisch deuten kann und eine Diebstahl-Handbewegung machen kann und drinnen wird dann mit Daumen hoch signalisiert, nimm’s mit, ist Müll. Nichts. Es scheint logisch, dass ein kleiner Tisch neben einer Bushaltestelle vor einem Haus Sperrmüll sein muss, oder? Passt er überhaupt aufs Radel. Oder muss ich ihn mir um den Hals hängen und vom Tisch gewürgt den steilen Berg zum einsamen Gehöft hinauf ächzen? Er Passt. Gerade so. Mit dem Spanngummi gut verschnürt. Ein Mann ein Tisch, ich empfinde Glück. Die Jagd war erfolgreich. Die letzten zwei Kilometer muss ich denn doch gegen den Wind ankämpfen. Auf der weißen Triesch ist er besonders stark. Windmühlen drehen unermüdlich, erzeugen den Strom für unsere Computer, mit denen wir in dieser schweren Zeit in Kontakt bleiben. Der Bordcomputer zeigt einen Kilometer Reichweite, als ich zurück im Atelier bin.
Dieser Artikel wird in der Karte beim Crask Inn in Schottland als Marker auftauchen.
Ergänzung 11:54. Der ursprüngliche Titel des Artikels wurde geändert. Danke an @bahnhofsoma@fimidi.com für den Hinweis, dass der ursprüngliche Titel unangebracht reißerisch tönte. Stimmt.
Weinend aufgewacht … nein, das ist nicht richtig … aufgewacht aus konfusen Träumen von Gliederheizkörpern, die geometrische Flächen bildeten. Kurze Zeit später schon erinnerte ich mich an überhaupt nichts mehr in diesem diffusen Alptraum. Wie weggeblasen, der Wahn der Nacht. Gliederheizkörper sehen aus wie Gitter und das legt die Assoziation zu dem Rilke-Gedicht ‚Der Panther‘ nahe. Tausend Stäbe, keine Welt.
Geweint habe ich erst, als mir die dramatische Grenzschließung zur Schweiz bewusst wurde und dass Ausländer nur noch ins Land dürfen, wenn sie einen roten Pass haben, eine Bewilligung, wie die Schweizer so schön sagen. Oder wenn sie mit einem Schweizer oder einer Schweizerin verheiratet sind. Selbiges gilt wohl auch umgekehrt. Kurzum, Frau SoSo und ich dürfen uns nicht mehr sehen. Lass‘ uns schnell heiraten, hatte ich gesagt, letzten Sonntag. Wie denn in so kurzer Frist, fragte Frau SoSo. Der wohl unromantischste Heiratsantrag aller Zeiten. Wir spazierten durch von Stürmen gräßlich verwüsteten Wald.
Der gestrige Reisetag, Tag 4 der Reise, führte mich im Jahr 2000 nach Dijon, im Jahr 2010 nur bis nach Preigney, einem kleinen Dorf im Norden Burgunds und heuer, im Jahr 2020, kreiste ich wie ein Panther auf dem einsamen Gehöft zwischen Schuppen und Garage, Holzstapel und Garten, Atelier und Künstlerbude. Tausend Wege auf engstem Raum und als ich versuchte, den Rasenmäher zu reparieren, geriet ich in ein kleines Labyrinth aus Werkzeugsuche-Irrwegen, Schmieröl-Sehnsüchten, Mann ist das hier unordentlich auf dem Hof. Als hätte ein Gletscher ein Geschiebe aus Werkzeugen, Maschinen und Verbrauchsstoffen in chaotischer Endmoräne hierher gebracht und sich schnell schmelzend davon gemacht.
Ich habe gut geschlafen inmitten des städtischen Hintergrundrauschens. War wohl müde genug. Das Vogelzwitschern nimmt man hier nur wahr, wenn man die Stöpsel aus den Ohren zieht. In solch‘ eine Großstadt hineinzuradeln, ist nervig. Die Rue de Mayence ist eine hässliche Industriestraße ähnlich der Mombacher Straße in Mainz [Dijons Partnerstadt]. Durch eine Großstadt hindurch irren ist nervig.
Im Jahr 2000 war der Radwanderweg, der dem Canal de Bourgogne von Besancon über Dijon westwärts folgt wohl noch nicht so gut ausgebaut. In Dijon stieß ich erst am Ortsende beim Campingplatz am Lac Kir auf den Radweg auf dem ehemaligen Treidelpfad.
Schnitt. Das Fallen der Masken des Kapitals, schießt es mir in den Sinn. 21. 3. 2020. Die Pandemie-Krise spitzt sich mehr und mehr zu. Die Nachrichten vernebeln meinen Sinn. Ich weiß nicht mehr was echt ist, was gekünstelt, was wahr, was falsch. Täglich rufe ich die Landkarte mit den roten Markern ab, die die Fallzahlen weltweit zeigen, klicke Deutschland, die Schweiz, Frankreich, Italien, Schweden, Andorra, USA. In dieser Reihenfolge. Was ist das für eine verrückte Grafik. Todesvoyeurismus? Fallzahlenwettlauf? Die Pandemie saugt mich förmlich auf, nagt das Mark aus meinen Knochen, okkupiert das Gehirn. Schürt die Angst vor Türklinken, Husten, Atmen. Lebensapnoe, Alltagsapnoe. Apnoe soweit das Auge reicht.
Ein wichtiges Paket erwarte ich am gestrigen Tag. Ausgerechnet mit DPD. Der Logistiker machte in der Vergangenheit lästige Probleme hier am Hof, so dass ich für gewöhnlich die Paktete in die Filiale in der Stadt umleitete und sie selbst abholte. Aber die Filiale ist zu. Die ganze Stadt ist zu. Ich war lange nicht dort. Es muss eine Geisterstadt geworden sein. Morgens noch zeigt das Tracking einen möglichen Shop an, in den ich liefern lassen könnte. In Nürnberg. Mittags sind alle Möglichkeiten ausgegraut, nicht mehr anklickbar. Nur noch die Abstellerlaubnis kann man wählen. Die aber will ich nicht geben, wegen der Unzuverlässigkeit. Als der Zusteller völlig erschöpft am späten Nachmittag kommt, scannt er das Paket und reicht es mit langen Armen, nehmen sie einfach. Kontaktlos. Fern. Ich muss, ich darf, nicht unterschreiben. Der arme Kerl. Das Trinkgeld, frage ich, soll ich es ins Auto werfen? Er nickt ängstlich. Fast als ob man eine Münze in einen Glücksbrunnen wirft. Es ist echt zum Heulen, so grotesk, so bizarr, so bis vor Kurzem unvorstellbar wie noch was. Als er die Kurve kratzt im staubigen Hof, reue ich, dass ich ihm nicht einen Schein ins Auto geworfen habe.
Hinweisschild auf den Campingplatz nahe Preigney, Übernachtungsplatz Nummer vier der Radreise nach Andorra im Jahr 2010.
Hier ist noch Platz für die Frage, die mir den ganzen Tag schon im Kopf herum geht: Kann ich Gibraltar, oder gar nur Andorra, [gelegen auf halber Strecke], überhaupt erreichen, wenn ich weiterhin so viel fotografiere und so viele Umwege mache und ständig irgendwo verharre? Egal. Diese Strecke will von mir fotografiert werden […] 23. 4. 2010. Preigney, Kirchplatz. Eigentlich wollte ich vorbeifahren, liege ich doch mit der Kilometerleistung (im Vergleich zu 2000) weit zurück. Ha! Leistungsdenken. Langsamkeit ist […] viel besser.
Leistungsdenken. Schon 2010 hatte ich dieses Thema auf dem Schirm, war es Teil des Gedankenkonglomerats, das ich streng kurbelnd durch Burgund mit mir herum schleppte. Mit der Vorlage der Reise aus dem Jahr 2000 als groben Leitfaden hatte ich mir eine Messlatte gelegt. Und wie das so ist mit Messlatten, sie wollen überwunden werden und beim nächsten Lauf höher gelegt werden und wieder überwunden werden und so weiter und so fort. Totale Erschöpfung hin oder her. Verdammt zum ewigen Wachstum. Genau wie die menschliche Wirtschaftsgemeinschaft, in der man aufwuchs. Tugenden und wie es denn bitteschön zu laufen hat in der großen Herde sind mächtige Faktoren, denen sich der Einzelne nicht entziehen kann. Müßigang? Ein Skandal. Stehen bleiben? Eine Revolution. Sagen, es ist genug, mehr muss nicht? Eine Katastrophe. Wenn einer stehen bleibt in der sich wie Schlamm durch den Weltmarkt bewegenden Herde, wird er zu Fall gebracht und tot getrampelt. Wenn einer diejenigen, die nicht so schnell sind wie der kollektiv dahintreibende Schlamm, stützt, ihnen ein Teil seiner Kraft spendet, selbst langsamer wird, droht ihm das gleiche Schicksal. Den großen Strom hält keiner auf und auch keine zehn und keinen hundert.
Am wunderschönen gestrigen Tag machte ich einen kleinen Spaziergang auf den Feldern hinter dem Haus. Der Sturm im Februar hatte einen Baum zu Fall gebracht, der nun auf des Nachbars Feld quer lag. Eigentlich hätte ich den Baum schon längst zerkleinert und abtransportiert, aber die Regenfälle hatten den Pfälzer Lehm so sehr aufgeweicht, dass ich es mit dem uralten Porsche-Traktor wahrscheinlich nicht mehr aus dem abschüssigen Gelände zurück geschafft hätte. Der Nachbar kreiste seit Nachmittag auf dem Feld und brachte mit einem Monstrum von Maschine Dünger aus. Er stoppte das Ungetüm, als er mich sah und wir hielten ein Schwätzchen. Steig‘ ein, fahr ein Stück mit. Nein, lieber nicht. Ach sooo, hast ja recht. So redeten wir über den Baum und dass ich ihn bald zerkleinern würde. Freie Fahrt für gutes Wachstum. Und über den zerzausten Wald, wobei mir das Ansichtsgefälle bewusst wurde, das zwischen uns herrscht. Er mokierte sich über die vielen Schäden in unserer Parzelle und dass man doch etwas machen sollte und ich sagte, das geht nicht, ich habe kein Geld, um die Arbeiter zu bezahlen. Plötzlich wurde mir klar, was schief gelaufen ist in den letzten Jahrzehnten. Ich bin nicht mitgewachsen. Ich bin der, der in der Schlammlawine den dummen Mut hatte, zu sagen, es ist genug. Mir reicht das Wenige, das ich habe. Ich bin ja so dumm. Ein dummer kleiner Europenner, der die Not des ewigen Wachsens ignoriert hat. Nun stehe ich da, winzig in Gummistiefeln vor dem Traktor mit den riesigen, mannshohen Reifen, aus dem mein Nachbar mir erklärt, wie das damals lief, als sein Wald zu verkommen drohte und er zwei Fuhren schönstes Buchenholz hatte fällen lassen, nach Wiebke, und die Preise dermaßen im Keller waren, dass am Ende nur 200 Mark hängen geblieben waren. Aber er hatte das gute Gewissen, seinen Wald fein aufgeräumt zu haben. Eine schallende Ohrfeige irgendwie; ein an die Schultafel des Kapitalismus zerren des kleinen verträumten Kunstbübchens durch den gestrengen Herrn Lehrer.
Abenddämmerung. Ich muss, sagt der Nachbar, es wird mir dunkel. Und ich stelle mir vor, er ist ich auf Radeltour und die Dämmerung zwingt ihn, endlich nach einem Lagerplatz für das Zelt zu suchen. Die Scheinwerfer der gigantischen Düngemaschine verlieren sich am südlichen Horizont, zwischen längst angezählten riesigen Pappeln, die irgendwann auf das Feld fallen werden.
Mit Gedanken über die Vorstellung, wie ein Wald auszusehen hat, laufe ich zurück zum einsamen Gehöft. Aus menschlicher Sicht sind schön flach gelegene Wälder mit gesunden, schnell wachsenden Bäumen, durchzogen von einem guten System breiter Waldwege zweifellos vorzuziehen. Das da hinter mir ist alles andere. Eine unzugängliche Schlucht, die man nicht mit modernen Forstmaschinen befahren kann. Am besten würde man den kleinen Fetzen Land mit dem Hubschrauber bewirtschaften. Seil an Baum, unten abschneiden, zum Holzlager fliegen und so weiter und so fort. Der Naturpark Bayerischer Wald kommt mir in den Sinn, den ich letztes Jahr auf dem zweiten Abschnitt des noch immer nicht abgeschlossenen Projekts UmsLand/Bayern sehen durfte. Was für eine Wildnis. Er wird nicht bewirtschaftet. Genau wie unser kleines Stückchen Land. Der einzige Unterschied ist, dass der Bayerische Wald per Gesetz nicht bewirtschaftet werden darf und der Irgendlink’sche per Gesetz eigentlich bewirtschaftet werden müsste. Eigentum verpflichtet, flüstert es in mir. Musst doch was tun, Junge. Schaffen, ranklotzen, wachsen. Da kannst du noch so sehr jammern – ‚es ist genug, es ist genug, mehr will ich gar nicht. Da, nehmt, ist sogar noch etwas übrig‘ – fern wird das Getrappel der Herde leiser und leiser, während sie dich und ein paar wenige halbtot in einer verwüsteten Gegend zurücklassen.
Ich habe nun am vierten Tag schon mehr Fotos gemacht als auf der gesamten 2000er Tour.
Vielleicht irre ich. Nicht wachsen kann gar nicht funktionieren. 2000 fotografierte ich mit analoger Kamera auf Schwarz-weiß-Filmen. 2010 mit iPhone und DSLR.
Jeder wächst irgendwie irgendwohin. In der Herde jedoch nur dahin, wo es den Leithammeln beliebt.
Lassen wir das.
Bild aus glücklichen Kindertagen. Irgendlink (links) und seine Cousine.
Abends kam die Cousine vorbei, um ein Hasenklo abzuholen. Irgendwie grotesk. Vor der Tür des Haupthauses standen wir auf der Treppe und redeten. Es gibt eine Fotoserie von uns beiden wie wir als drei-vierjährige nebeneinander auf der Treppe sitzen und in die Kamera lachen. Ein Bild zeigt uns, wie ich ihr einen Schmatzer auf die Backe gebe. Daran muss ich denken, fünfzig Jahre später und muss beinahe weinen. Während wir über das Hasenklo sinnieren und über den Bofrost-Mann, der zu ihnen ins Haus kam und der Cousin, ihr Bruder, habe deshalb die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen, lass, um Himmels Willen den Bofrost-Mann nicht ins Haus. Und sie weiters erzählte, der Cousin habe einen leichten Schlag erlitten, nicht schlimm, zum Gück, er habe keinen Schaden davon getragen, stehe aber unter blutverdünnenden Mitteln.
Der Blogartikel ist in der Karte heute beim toten Baum neben dem urwüchsigen Wald eingetragen.
Nachtrag. Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Artikel veröffentliche. Der Nachbar könnte mitlesen und die Worte könnten zu Missverständnissen führen. Es ist nur ein Bild. Wie alle Protagonistinnen und Protagonisten dieses Blogs, dieser Geschichte sind wir Schattenrisse unserer selbst, die dem Hergang der Geschichte dienen müssen. Auch die werte Cousine möge verzeihen, dass ich sie da mit hineinziehe. Ganz dicker Schmatzer auf die Backe!
Und mir selbst sei gesagt: Noch vor nicht allzu langer Zeit hättest du dich nicht getraut, einen solch intimen Artikel zu publizieren. Wenn du nun mit beklommenem Herzen den Publizieren-Knopf drückst, sei stolz! Du hast eine weitere, höherliegende Messlatte übersprungen auf dem nie endenden Immermehr deines Künstler- und Literatenwerdegangs.
Während der gestrigen, täglichen Blogarbeit wurde mir plötzlich klar, wie sehr in meinem Kunstkonzept alles miteinander verzahnt ist.
„Gerade merke ich, welchen Flickenteppich ich in den letzten zwanzig Jahren als Konzeptkünstler vorbereitet habe“, schrieb ich auf Twitter (nur echt mit Tippfehler).
Ich betreibe ungefähr zehn eigene Webseiten, drei davon sehr intensiv, darunter dieses Blog, meine Schaltzentrale seit zwanzig Jahren, den Shop als geschäftliches Backend und Werksverzeichnis für Bildprodukte und mein verrücktes kleines Steckenpferd, den fiktiven Künstler Heiko Moorlander. Er hat alles, was ich nicht habe, Ruhm, Geld, Groupies; er wird hofiert von Kunstsammlern weltweit, gehassliebt von korrupten Staatschefs, die seine Kunst sammeln, um ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen … ich sehe gerade, ich komme ins Schwätzen. Heiko Moorlander findest Du im Erdversteck.
Zurück zum Flickenteppich: Wie durch ein Zufall war das gestrige, tägliche Shop-Motiv im Irgendlink-Shop eine schwarz-weiß Retro-iPhoneografie der Kirche von Marainviller, jenem kleinen Ort nahe Lunéville bei Nancy in Frankreich, den ich bei der virtuellen Reise nach Andorra als mutmaßlichen Übernachtungsort festgeschrieben hatte. Als ich die Shopbilder im Februar auswählte und ins Backend des Shops lud, konnte ich diesen Zufall nicht ahnen. Es ist geradezu unheimlich.
Heute werde ich erstmals Handschuhe brauchen, zum Fahren. Und lange Unterhosen. Leichter Nachtfrost. Bordthermometer zeigt 0,5 Grad Celsius. Auf den stinkenden Socken, die ich vor’s Zelt gelegt habe, um die Wildschweine abzuschrecken, liegt Raureif.
Geschrieben am 23. April 2010, wild zeltend in der Gemeinde Attigny an der oberen Saône, nicht sehr weit von deren Quelle entfernt. Ich erinnere mich, es war schön dort, eine sehr landwirtschaftliche, grüne, frühlingsfrüh keimende Gegend, kaum Straßenlärm, kaum Lichtschmutz in der Nacht. Das ewig gleiche Bimmeln französischer Kirchturmuhren, stets zwei mal hintereinander im Abstand von etwa fünf Minuten einer Minute, taktete die Nacht. An der Lautstärke und mittels Peilungen auf einer Landkarte, könnte man den eigenen Standort genau bestimmen, Dorf ‚A‘ auf 348 Grad, Dorf ‚B‘ auf 50 Grad und Dorf ‚C‘ auf 269 Grad. Im Schnittpunkt liegt das Zeltchen irgendwo auf feuchtfrüher Wiese. Kühe dampfen stoßweise aus den Nüstern. Ihr scharrendes Grasen.
Schlaflos im Zelt. 0:45 Uhr. Mittwoch, 18. 4. 2000. Dieses Montigny! So still. Das ist paradox, dass ich hier nicht schlafen kann. Hier hört man wirklich überhaupt nicht das Übliche: Hintergrundrauschen der Straße, Menschenstimmen, Technomusik aus nahenden Autos […] hab noch den Ein-Uhr-Glockenschlag gehört. Zur vollen Stunde schlägt die Uhr immer zwei Mal. […] Ein harter Fahrtag heute (eigentlich gestern). Statistik 115,67 km. Durchschnitt 18,0 […]
Im Verlauf des ziemlich langen, handschriftlichen Tagebucheintrags komme ich aufs Kunststraßenkonzept zu sprechen und mache mir meine nächtlich fröstelnden Gedanken über das unbequeme Zeltlager. Alles ist Konzept. Alles ist Weg. Nichts ist ohne das Davor und ohne das Jetzt gibt es kein Danach.
Ormoy liegt auf halber Strecke der dritten Etappenziele 2000 (Montigny) und 2010 (Attigny). Attigny und Montigny sind Luftlinie etwa 30 Kilometer voneinander entfernt.
Dazu verdammt, die dritte Reise nach Andorra wegen der Pandemie auf dem heimischen Bürostuhl auszusitzen, mische ich die Gegenwart und die beiden Vergangenheiten 2010 und 2000. Was ich im obigen Tweet schrieb, das Projekt „#zwand20 hätte nicht produktiver scheitern können“, ist Programm. Es sprießen die Ideen. Ich absolviere meinen Alltag, weiß mich glücklich zu schätzen als freilaufender Künstler auf einem Hof weit außerhalb der Stadt. Ich kann in den Garten gehen und auf einem Stuhl sitzend dem Lauf der Sonne folgen. Atmen, denken, schreiben, versuchen, die wirklich erheblichen Sorgen und Ängste, die auf mich eindreschen ein bisschen zu dimmen. Der verpassten, physischen Reise nach Andorra, weine ich keine Träne nach. Ehrlich. Ich hatte mich im Vorfeld ohnehin gefragt, welchen Sinn es denn hätte. Ich meine, ich verdiene seit dreißig Jahren kein Geld mit Kunst (zumindest nicht so viel, dass ich den Felgaufschwung zur Mittelschicht wagen könnte), führe stattdessen ein komisches Leben wie nicht von dieser Welt, wie behördlich keinesfalls vorgesehen und folge meinen für die kapitalistische Verwertungskette völlig nutzlosen Künstlermorgenblütenträumchen … mittags ergreift mich eine unglaubliche Nervosität. Weder denken, noch schlafen, noch sitzen und starren ist angenehm. Das Herz rast. Ich bin schlapp. Ich muss etwas tun, überlege, das Radel zu satteln und eine Runde zu drehen, kann mich nicht überwinden, greife den Spaten und beackere den Garten. Die Anbaufläche will ich ein bisschen vergrößern und ich steche das sture Gras ab, das seit 2015, seit mein Vater den Garten großflächig mit Pferdemist düngte, wuchert ohne Gnade. Im Mist waren die Samen des robusten Grüns enthalten und sie gingen auf und sie wuchsen und das Gras ging nieder, nur um im nächsten Frühling noch stärker wiederzukehren und wir gaben einen Teil der Gartenfläche auf, überließen das Land dem Gras. Faszinierend, wie alles wächst und vergeht und wächst und vergeht. In spatenbreiten Stichen hole ich unser Land zurück, höre plötzlich ein Brummen. Hinter mir ist ein großes Areal mit lila blühenden Pflänzchen, das ich im Begriff bin, umzugraben. Ich beobachte die Hummeln, wie sie fleißig sammeln und fressen und es bricht mir fast das Herz und ich halte ein und umspate die lila Wiese und konzentriere mich auf das Gras, das sicher auch für jemanden oder etwas einen Nutzen hat und Nahrung ist, aber nun geht es ja um uns hier, mich, meine Familie, die vielen Freundinnen und Freunde. Wer weiß, wie sich die Seuche entwickelt. Mehr Lebensmittel sind besser als weniger und das selbst gesäte Zeug, da weiß man was man hat. Im schweren Boden winden sich Würmer und Kerbentiere. Wie ich deren Welt nun durcheinander bringe! Ach wenn das Virus doch ein Herz hätte und sich auch darüber Gedanken machen könnte, wie es die Welt der Menschen gerade durcheinander bringt.
Und noch abstrusere Gedanken kommen mir: Der Spaten ist vielleicht 30 Zentimeter lang. Stich um Stich reiße ich die Erde auf, wie oft? Tausend mal? Ich zähle nicht. Tausend Spatenstiche mal 0,3 Meter ist gleich 300 Meter. Wenn ich alle Spatenstiche senkrecht übereinander rechne, würde ich mich dreihundert Meter in den Pfälzer Lehm eingraben, bis weit unter die Brunnensohle des Trinkwasserbrunnens hier auf dem einsamen Gehöft. Ich spiele mit Gedanken, während ich geradezu mantrisch spate. Ich sollte diese Spatenstich-Vertikalität einmal vormerken für ein weiteres Projekt, eine weitere, noch zu befüllende Webseite, bauesoterik.de (da gibt es nichts zu sehen). Die Bauesoterik behandelt Phänomene und Verrücktheiten vertikaler, horizontaler und zirkulativer Natur. Mir schwebt ein Buch vor im Stil von Flann O’Brians ‚Der dritte Polizist‘.
Nachdem ich den Garten durchwühlt habe und zufrieden auf die schön geebnete, bepflanzbare Fläche blicke, ist die Unruhe etwas gewichen. Die Gedankenmühle läuft trocken. Die Sorgen immer noch unterschwellig, insbesondere zum Freund Journalist F., den ich tagsüber mehrfach versucht hatte zu erreichen. Donnerstags wird er gegen 11 Uhr abgeholt zur Dialyse und wenn er in der Dialyse liegt, geht er eigentlich immer ans Telefon. Horrorvorstellungen ergießen sich in mein Hirn. Was, wenn er daheim zusammengebrochen ist? Was, wenn der Taxidienst, vor verschlossener Tür stehend, dachte, juhu, frei, ist sowieso mühsam, den Kerl mit dem ultraschweren Rollstuhl immer rein und raus zu wuchten?
Ich sattele das Radel und fahre zum nahen Klinikum. Viele Joggerinnen und Jogger, Radlerinnen und Radler. Elender Begegnungsverkehr, trotz großzügigen Abstands. Ich frage mich, ob es die Anderen genauso machen wie ich, kurz vor der Begegnung noch einmal tief Luft holen, Luft anhalten, möglichst den Gegenüber auf der Luvseite, der Wind zugewandten Seite passieren. Es ist windstill. Apnoeradeln.
Das Großklinikum, ist abgeriegelt. An allen Zufahrtsstraßen sitzen Pförtner, die nach einem Passierschein fragen. Längst hat sich in meinem Hirn das Gespinst ausgebreitet, Journalist F. liegt tot in seiner Wohnung. Der Pförtner sagt, er habe keinen Kontakt, um in der Dialyse anzurufen, um nachzuforschen, ob ein Herr F. heute da war und er erinnert sich auch nur an einen Dialysepatienten, der heute mit Taxi gebracht wurde, ein Kerl mit blauem Holzfällerhemd und Bürstenschnitt. Ne. Das isser nicht. Schließlich winkt er mich durch, ich könne in der Zentrale mal fragen, ob der Herr F. heute da war. Puh. Pochenden Herzens weiter, im Kopf schon die Treppe zur Information hochhechtend, aber so weit kommt es gar nicht, denn unten vor dem Dialysegebäude erkenne ich schemenhaft eine Gestalt im Rollstuhl sitzend, eine Zigarette rauchend, könnte Freund F. sein. Ich kneife die Augen zusammen. Sehkraft im Alter ist ja doch ein kleines Problem und dann erkenne ich ihn. Frisch dialysiert, auf das Taxi wartend.
Es geht ihm besser, sagt er. Nur die Psyche. Das Alleinesein, mache ihm zu schaffen. So verspreche ich ihm, dass ich ihn besuchen würde am heutigen Freitag. Ich weiß nicht, ob ich mich das traue. Das Virus hat eine unheimliche Macht über unsere Psychen erlangt. Niemand weiß, was richtig ist, was falsch, was echt ist oder nur ein Hirngespinst. Niemand weiß, ob er infiziert ist oder nicht, ob ihm der Tod droht oder nicht. Die tausend Spatenstiche von Sars-Cov-2 wühlen im dichten Lehm des Gesellschaftsgefüges.
Das einzig erfreuliche an dieser Situation, für mich persönlich, ist der kleine Arschtritt ins eigene Hirn, der es zu Höchstleistungen auflaufen lässt und Texte wie diese ermöglicht. Erstmals seit dreißig Jahren schreiben, habe ich ein tiefes Gefühl, ein Schriftsteller zu sein. Glaube ich daran, etwas Bedeutungsvolles hervorbringen zu können. Ideen gibt es zur Nöche. Der Kern ist sicher diese direkte, ungefilterte, ungehobelte Art, live, von unterwegs zu bloggen. Ich hoffe, ich halte es durch.
Campingplatz Bayon an der Mosel […] (unterwegs) kein einziger Laden, keine Bäckerei, nur Landwirtsdörfer. Musste deshalb einen Umweg über Lunéville (bei Nancy) machen, um endlich einkaufen zu können. Im Intermarché vor den Toren der Stadt ist meine Laune etwas besser geworden.
Das ‚Phänomen‘, das ich im gestrigen Blogbeitrag zu erklären versuchte, scheint mich auch schon im Jahr 2000 betroffen zu haben. Der unbändige Drang einzukaufen, der Wille zum Ladenbetreten. Am 18. April 2000 notierte ich weiters:
Gelüste: entwickele ich extrem nach Nahrungsmitteln, ganz bestimmten Nahrungsmitteln, Markenprodukten ‚Yop Lait‘ Trinkjoghurt und ‚Knackis‘, Würstchen […]
Das Tagebuch der Radreise Zweibrücken-Andorra des Jahres 2010, zehn Jahre später, tönt hingegen etwas reifer. Am zweiten Tourtag, dem 22. April notierte ich auf meinem Wildzeltplatz hinter dem Sportplatz von Marainviller nahe der Stadt Lunéville:
Was habe ich alles links liegen lassen auf der Tour im Jahr 2000! Langsam dämmert mir, dass das eigentliche Ziel allen Vorankommens vielleicht ‚Stillstand‘ heißt.
Nur noch wenige Kilometer bis Bayon an der Mosel erklimmt man auf der D9 zwischen Lamath und Bayon den Rand des Moseltals.
Stillstand? Kannst du haben. Frankreich ist geschlossen. Es herrscht Ausgangssperre. Wie zum Hohn jusquement in den Tagen, in denen ich die Tour nach Andorra ein drittes Mal wagen wollte, wurde eine Sperre auf unbestimmte Zeit verhängt. Ich hänge fest. Und das ist auch gut so. In diesen harten Zeiten müssen wir alle ein bisschen auseinander rücken, um zusammen zu kommen, müssen stillstehen, um vorwärts zu kommen. Nur noch das Nötigste erledigen, die Häuser nicht verlassen. Klar.
Den gestrigen Tag hätte ich noch vor zwei Wochen als Horrortrip bezeichnet. Morgens flattert die Einkaufsliste von Freund Journalist F. ins Mailpostfach. Seit letzten Oktober assistiere ich dem Freund einmal wöchentlich mit unbedingt notwendigen Einkäufen, stopfe die Waschmaschine, fülle den Trockner. Das Sofa ist mittlerweile sein Kleiderschrank geworden. Erst dachte ich, muss man doch zusammenlegen alles und in den Schrank räumen, aber dann wurde mir klar, dass es mit starker Gehbehinderung einfacher ist, sich auf dem Ecksofa liegend einzukleiden, statt mit Rollator bis vor den Schrank zu humpeln und die Türen aufzumachen, ins Schwanken zu geraten, hinzufallen womöglich.
Journalist F. geht es schlecht. Mit fahriger Stimmer erzählt er von der Dialyseärztin, die ihm – sein wundes Bein betrachtend, im Tonfall der gutmütigen Märchentante – erzählte, es war einmal eine Patientin, die hatte ganz ähnliche Probleme mit dem Bein. Wir haben ihr den Unterschenkel amputiert und seitdem waren die Probleme wie von Zauberhand verschwunden. Mir kommen fast die Tränen, wie er so da sitzt, mir gegenüber an seinem Esstisch, der schon viel bessere Zusammenkünfte, Feste mit Freunden, leckere Essen, gemeinsames Lachen erlebt hat. Schwankende Stimme, gegen den niedrigen Blutdruck anredend, sich selbst auffordernd, bloß nicht lallen jetzt. Er lallt. Versucht aufs Handy zu schauen, die Uhrzeit abzulesen. Die Augen wollen nicht. Auch nicht mit Brille. Er legt das Blutdruckmessgerät an. 60 zu 40. Normalerweise wäre ich zu Tode erschrocken, aber eine ähnliche Situation in der Woche zuvor, hatte mich, hatte uns, abgehärtet. Damals packte ich seine Krankenhaustasche und wir überlegten, zur Dialysestation ins nahe Uniklinikum zu fahren. Nach ein bisschen Schlaf ging es ihm besser. Am gestrigen Tag sah die Sache dank der Pandemie schon schlechter aus. Wenn wir den Notarzt riefen, würde man ihn in ein anderes Krankenhaus bringen, nicht in die Klinik mit seiner Dialysestation. Wenn es uns gelänge, die Treppen hinunter zu humpeln und mit meinem Auto zur Dialysestation zu fahren, wäre uns womöglich die Einfahrt zur Klinik verwehrt. Alle Zufahrten werden kontrolliert. Nur noch Personal und Notfallpatienten per Krankentransport werden eingelassen. Was für ein Horror. Ich bleibe lange in der Wohnung und wir reden. Zwei Mal fällt der Freund vom Stuhl, rappelt sich wieder auf. Wir essen. Ich räume Küche und Wohnzimmer auf. Wir schwätzen. Das Lallen wird besser. Der Blutdruck steht bei 80 zu 40. Wieder und wieder pumpt das Gerät, piepst, zeigt Fehlermeldungen, zeigt Blutdrücke. Wir plaudern weiter. Die Spülmaschine surrt. Wir messen. Unter 100 zu nochwas kann ich hier nicht weg, denke ich, beschließe so lange zu bleiben wie es nur irgend geht. Ich taue zwei Brötchen auf in der Mikrowelle. Dazu Fleischkäse. Das hatte in der Woche zuvor gewirkt. Das und der Schlaf. Und tatsächlich, nach dem Essen klingt F.s Stimme klarer, kann er besser sehen, wir albern über die bitterböse Comedy Little Britain, in der zwei Brüder vorkommen, einer im Rollstuhl, der andere assistiert. Immer wenn der assistierende Bruder wegschaut, stellt der, der im Rollstsuhl sitzt irgendwelchen Unfug an, steht etwa auf, als wäre nichts, macht einen Kopfsprung ins Schwimmbecken, zieht eine Bahn, setzt sich tropfnass zurück in den Rollstuhl und sein Bruder wundert sich dann über die nassen Haare. Ach wäre es doch so einfach!
Der Blutdruckmesser klettert langsam und steht irgendwann bei 116 zu 70. Bilderbuchblutdruck. Früher Nachmittag. Ich packe die Wäsche in den Trockner, schalte ihn ein und fahre nach Hause durch eine zunehmend gespenstische Welt. Weit weit weg bin ich von dem, was ich eigentlich – hätte hätte Fahrradkette – jetzt in diesen Tagen gerne tun würde. Das Andorra, das ich in den Jahren 2000 und 2010 mühelos in zwei bis drei Wochen per Fahrrad erreichte, gibt es nicht mehr. Sechzig Kilometer per Auto war ich auf engstem Raum mulmigen Gefühls unterwegs und bin am Abend genau dort wo tags zuvor und zwei Tage zuvor … mir wird bewusst, dass das lange so weiter gehen wird. Was bleibt, ist dieser Bürostuhl, der PC und, welch‘ Segen, ein riesiger Garten direkt hinter der Künstlerbude.
Der heutige Markierung in der Landkarte Zweibrücken–Andorra zeigt auf eine Apotheke. Am gestrigen Tag, an dem ich für Freund F. zahlreiche Rezepte einlöste und für über 100 Euro einkaufte, standen die Kundinnen und Kunden Schlage auf der Straße. Die Regel lautete, dass immer nur zwei Personen den Raum betreten dürfen. Die beiden Verkaufstheken, die noch vor einer Woche ungeschützt waren, hatte man mit Spritzschutzglas verkleidet. Die Apothekerinnen trugen Handschuhe und desinfizierten die Theken nach jedem Verkauf. Das winzige Wartezimmer der Arztpraxis gegenüber, in der ich Rezepte abholte, ist normalerweise mit etwa 20 Menschen voll besetzt. Dieses Mal war es Gott sei Dank leer. Ganz leer.