Zwischen Tisch und Hoffnung | #zwand20 #umsmeer #anskap

Das einsame Gehöft ist bei Sturm ein unheimlicher Ort. Die schlechte Isolierung der Künstlerbude und die zugigen Ritzen zwischen Türen und Fenstern bescheren einem ein wahrhaft orchestrales Erlebnis, wenn der Wind etwas stärker wird. Ich lebe in einer Ruine, wenn man die Deutung für Normalität heran zieht, die noch bis vor Kurzem als Standard herrschte. Strenger Nordwind klatscht gegen das Fenster, drückt Regen durch Ritzen, die an der Tapete herunter laufen, vorbei am Drucker bis ins kleine Regal, in dem ich dem Druckerpapier vorsorglich mit alten CD-Hüllen etwas Abstand zum Untergrund verschafft habe, damit das Wasser darunter durchfließt. Ein nachmittägliches Decke-auf-den-Kopf-Gefühl macht mich unruhig und ich überlege, eine Runde zu radeln. Der Wind sagt nein. Sagt er das wirklich? Ich muss an das Crask Inn denken, ein einsames Haus im Norden Schottlands an der A 836. A-Straßen sind in England und Schottland so eine Art Bundesstraße. Mindestens. Wenn nicht sogar vom Charakter her wie Autobahnen, also nicht radelbar. Im Norden Schottlands sieht das etwas anders aus. Manchmal sind die A-Straßen dort nur einspurig mit Ausweichstellen, wenig befahren und prima Radelstrecken. Das nationale Radwegnetz Sustrans verzeichnet etliche Radrouten in Großbritannien auf verschlafenen schottischen Hauptstraßen.

Ein atemberaubender Sturm tobt über Schottlands Nordküste. Der Barkeeper des Ben Loyal Hotel, in dem ich mich heute Nachmittag um vier Uhr einquartiert habe, sagt, das sei ein ganz normaler Durchschnittssturm für diese Gegend. Die Bäume auf dem Friedhof haben einen Großteil ihres jungen, Laubs verloren. Hellgrün glänzt die Gosse. Regen prasselt gegen die Glasfront der Hotellounge und kalte Luft dringt durch die Ritzen. Zu Hause hätte ich mich heute nie und nimmer auf die Straße gewagt. So herzlich die Wirtsleute, Kay (Kate) und Mike, im Crask Inn sind, heute morgen war es schwer vorstellbar, dass ich noch einen weiteren Tag dort oben in der Einöde verbringe. Ich hätte nur das kleine Zimmer, das einmal dem Sohn des Hauses gehört hat. Das Hofschild baumelte kontinulierlich gen Norden, in meine Richtung, so dass ich wenigstens keinen expliziten Gegenwind haben würde. Gegen elf schufte ich mich einen halben Kilometer berghoch bei Seitenwind, bis die Straße Richtung Nordost dreht und ich unerwartet durch die Einöde geblasen werde, begegne einem völlig durchnässten holländischen Radler, vollgepacktes Rad, guter Dinge. Ich weiß nicht, ob ich diese Demut aufbringen würde. Er entpuppt sich als Schottlandprofi, hat gewiss schon ganz andere Situationen ausgestanden. Nur kurz schwätzen wir, sonst würden wir auskühlen. Ich überhole einen Marathonläufer, der als Teil einer Staffel einen Weltrekord brechen will: Von Landsend in Cornwall, ganz im Südwesten Englands joggen sie nach John O’Groats und wieder zurück. Begleitet von Wohnmobilen und verfolgt von einem Auto, das mit Warnblinkern vor dem 15 km pro Stunde schnellen Hindernis warnt.

Als selber ein Spinner, darf ich mutmaßen, dass es in der Gegend vor Spinnern nur so wimmelt. Vier klatschnasse Radler kriechen mir auf einer Steigung, die ich gemütlich, den Sturm im Rücken 20 km/h hinauf kurbele mit Schrittgeschwindigkeit entgegen. Ihr hättet ihre strahlenden Gesichter sehen sollen, als ich nach hinten auf ein weißes Häuschen deute, kaum fünf Minuten her, dass ich daran vorbei gesaust bin, und ihnen sage, dass dort ein Pub ist.

Zwischen Tongue und Hope, zwischen Zunge und Hoffnung, schrieb ich diese Zeilen am 14. Mai 2012 während der Liveblogreise rund um die Nordsee.

Einsames Gehöft, Pfalz. Nieselregen fast den ganzen Tag. Das Mieswetter ist perfekt, damit die Leute daheim bleiben. Hasardeur, der ich bin, lege ich die Regenkleider an und sattele das Ebike. Der halbvolle Akku sollte noch genug Saft haben, um eine Runde zu drehen. Schlimmer als Schottland kann es nicht werden und als alter Radeltaktiker starte ich gegen den Wind, um am Ende nach Hause gepustet zu werden. Die Landstraße auf der Sickinger Höhe ist kaum befahren. Jenseits dieses Hauptverkehrsstrangs begegnen mir fast gar keine Autofahrer. Vereinzelte Hundegassigänger im Liebestal, eine vierköpfige Familie. Apnoe-Begegnungen mit freundlich bescheidenem Nickgruß. Allenfalls ein ‚Allo‘ ohne H gesprochen rutscht einem hie und da raus. Und so nähere ich mich der Stadt von Norden, werde, des kaumen Verkehrs sei dank, tollkühn. Biege auf die längste Straße der Stadt ein, die von Ost nach West führt. So wenig Autoverkehr tagsüber habe ich hier noch nie erlebt. Die Parkplätze vor den Lebensmittelläden sind mäßig belegt, viel ruhiger als sonst.

Eigentlich hätte ich längst wieder nach Norden abbiegen müssen, um zurück nach Hause zu gelangen, aber die längste Straße der Stadt bereitet mir in ihrem unbefahrensten Moment solch eine Freude, dass ich einfach weiterbrause, großzügig überholt von einigen wackeren Klopapierjägern auf der Suche nach dem knapp gewordenen, schneeweißen Wild.

Geisterbusse drehen die Runde. Null Fahrgäste in rauschenden Ungetümen. Hier ein Taxi, das einen jungen Mann ausspuckt, dort ein Hipster im Kombi, geschlossenen Fensters E-Zigarette qualmend.

Zweibrücken-Andorra ist in diesem Moment unendlich weit weg. Kaum erinnerbar. Tag fünf der Reise führte mich 2000 von Dijon nach Autun. Zunächst ab Campingplatz Lac Kir auf dem Kanalradweg raus aus der Stadt bis Velars-sur-Ouche. Anschließend auf der Landstraße noch ein Gutstück durchs Ouche-Tal und weiter südwärts. In Bligny, wo ich hoffte einkaufen zu können, ändere ich die Richtung, um vor Karfreitag noch ein paar Lebensmittel einkaufen zu können. Arnay-le-Duc, Partnerstadt von Worms ist das Ziel, das man mir empfiehlt, wenn ich denn noch einen offenen Laden finden möchte. 40 Kilometer Nationalstraße nehme ich dafür in Kauf. Man sieht, wir Menschen würden einfach jede Grenze überschreiten, um unsere Gier nach Kaufbarem zu stillen. Zugegeben, das ist als Radler etwas anderes. Aber dennoch, ich glaube, ich hätte damals prima mit meinen Bordlebensmitteln weiterradeln können. Das Osterwochenende wäre halt kulinarisch recht karg gewesen.

Radler mit bepacktem Reiserad hält den Fotoapparat vors Gesicht und fotografiert in eine spiegelverglaste Tür vor einem Hotel. Auf der hellblauen Fassade sind Schilder befestigt, die die Qualität des Hotels auszeichnen.
In (vermutlich) Champlitte entstand dieses Selbstportrait in der spiegelnden Tür eines Hotels.

2010 liege ich einen Tag zurück auf meiner Radeltour und steuere von Nordosten auf Burgund zu. Nahe Orain passiere ich die ‚Ancienne Porte de Bourgogne‘. Wahrscheinlich liegt dieses alte Pforte im Städtchen Champlitte, das alte Tagebuch gibt da nicht so viel her, hält nur den Namen vor und dass die Gegend die ‚ergiebigste Goldader ist‘. Viele Fotos von Gebäuden und Denkmälern und jungen Getreide- und Rapsfeldern finden sich in meinem Bildarchiv.

Am ‚Canal de Bourgogne vers Champagne‘. Rauschende Schleuse. Ich sitze im [Wind]Schatten eines kleinen Häuschens. Leichter Sonnenbrand auf Nase und Händen, trotz Schutzfaktor 30. Zum Fahren ziehe ich Socken über die Hände [so kalt ist es]. Immer noch fasziniert, was ich 2000 alles habe links liegen lassen: Champlitte zum Beispiel. Aber 2000 war das Wetter schlecht, ich hatte noch Illusionen, kannte die Langsamkeit nicht […]

Die Langsamkeit kannte ich auch auf der Reise 2010 noch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie jetzt kenne. Der Stillstand, wie ich ihn drei Artikel zuvor beschrieben habe … 2015 auf dem Weg zum Nordkap, kam ich ihm wohl ziemlich nahe. Und erreichte trotzdem mein Ziel.

Die längste Straße der Stadt führt einmal quer durch Zweibrücken bis zur saarländischen Grenze. Bei einer Bushaltestelle vor einem Wohnhaus steht ein kleiner Beistelltisch. Die schön gedrechselten Beine gefallen mir. Die Resopalvertäfelung mit Mühlenmotiven ist noch gut in Schuss. Sperrmüll? Sonst steht nichts vor der Türe. Ich bin unsicher. Normalerweise würde ich klingeln und nachfragen. Aber in der Pandemie? Eine Weile lümmele ich vor dem Haus und beäuge das Fenster im Parterre, ob vielleicht jemand im Haus ist, mich bemerkt, ich auf den Tisch deuten kann und eine Diebstahl-Handbewegung machen kann und drinnen wird dann mit Daumen hoch signalisiert, nimm’s mit, ist Müll. Nichts. Es scheint logisch, dass ein kleiner Tisch neben einer Bushaltestelle vor einem Haus Sperrmüll sein muss, oder? Passt er überhaupt aufs Radel. Oder muss ich ihn mir um den Hals hängen und vom Tisch gewürgt den steilen Berg zum einsamen Gehöft hinauf ächzen? Er Passt. Gerade so. Mit dem Spanngummi gut verschnürt. Ein Mann ein Tisch, ich empfinde Glück. Die Jagd war erfolgreich. Die letzten zwei Kilometer muss ich denn doch gegen den Wind ankämpfen. Auf der weißen Triesch ist er besonders stark. Windmühlen drehen unermüdlich, erzeugen den Strom für unsere Computer, mit denen wir in dieser schweren Zeit in Kontakt bleiben. Der Bordcomputer zeigt einen Kilometer Reichweite, als ich zurück im Atelier bin.

Dieser Artikel wird in der Karte beim Crask Inn in Schottland als Marker auftauchen.

 

12 Antworten auf „Zwischen Tisch und Hoffnung | #zwand20 #umsmeer #anskap“

  1. Mir gefällt es so sehr, wie sich deine unterschiedlichen Radreisen hier und jetzt vereinen. Getragen von Erinnerungen aus Schottland, Frankreich und zum Nordkap webst du einen bunten Teppich aus gestern, vorgestern und heute und wirst auch noch mit einem Tischchen für deine Künstlerbude belohnt :o)
    Liebe Grüße
    Ulli

  2. Geht mir wie Ulli, ich genieße das gerade auch sehr, dieses Mitreisen.
    Und dann so Sätze: „Hellgrün glänzt die Gosse“! wunderbar!
    Oder der Hinweis, dass es möglich ist, trotz Stillstand das Ziel zu erreichen.
    Danke dafür
    Elke

    1. Irgendwie wird mir nun bewusst, wie mächtig das Fundament ist, das sich durch regelmäßiges, unermüdliches Bloggen in den letzten 20 Jahren wie von selbst gegossen hat. Ganz einfach war es nicht und es ist auch jetzt nicht einfach. Ich bin froh, dass nach fast einem Jahr kaum etwas schreiben der Motor wieder angesprungen ist. Eben fand ich bei Dir das da: „Ich schreibe zu wenig, weil ich zu wenig lese und dann auch noch das Falsche, und das auf die falsche Art.“ Das hat was. Das könnte es sein, was einen blockiert. Habt es fein heute!

  3. Mitfahren anders. Ganz anders.

    Und obwohl es die Route in Deinem Kopf ist, kommen wir viele der Windungen so seltsam bekannt vor, als ob ich ähnliche, sehr ähnliche hätte, die ich grad nur nicht so gut wie Du beschreiben kann.

    Der Bordcomputer-Satz am Ende läßt mich fragend in der Nase bohrend zurück …

    1. Ha, du auch, Emil? Den Satz habe ich nicht kapiert. In die Stadt ist doch etwa 6km. Welcher Bordcomputer, der innere?

      Und ansonsten schließe ich mich meinen Vorkommentatorinnen an. Wohltuendes Reiselebenlesen hier. Danke für dein unermüdliches Radeln. Auf dich und deine Langsamkeit.

        1. Irgendwie kriegte ich es auch nicht so ganz hin und musste am Ende doch wieder gegen den Wind radeln. Aber das liegt an den Streckenmöglichkeiten momentan mit dem Gehöft mittendrin.

    2. Der Tacho eines Ebikes ist etwa Handteller groß. Neben Geschwindigkeit und Distanz misst er auch die verbleibende Akkukapazität und errechnet ungefähr, wieviele Kilometer man noch schafft mit der Akkuladung.

  4. „als alter Radeltaktiker starte ich gegen den Wind, um am Ende nach Hause gepustet zu werden“
    Lieber Juergen,
    meine Erfahrung ist, dass beim Radeln der Wind IMMER von vorne kommt. Selbst wenn man zuerst absichtlich gegen den Wind startet, dreht er sofort um 180 Grad, wenn man selber umdreht fuer die Rueckfahrt. ;)
    Mach’s gut, und liebe Gruesse,
    Pit

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