Absolut dystopisch schwebt der Mond hinter seichter Nachtwolke. Wie eine Meeresbucht sieht die Wolke aus oder wie eine ausgefranste, halbierte Qualle. Dahinter das winzige Rund hochstehenden Vollmonds. Zwei dreihundert Meter entfernt rauscht die Autobahn, malmendes, niemals stillstehendes Etwas. Das Zelt steht neben einem schmalen Fetzen Wald, ein Terrain, das wie eine Nadel aus Urwuchs in das ansonsten perfekt kultivierte Land ragt. Alles andere Gewächs der Gegend ist in Zeilen angesiedelt. Lauch und etwas Buschiges, von dem ich gedacht hätte, es sei Spargel. Kann ja aber nicht sein um diese Jahreszeit. Nur die eigenartig fein gehäuften Zeilen wären Indiz für Spargel, worus ein buschiges Grün wuchert. Ich weiß verflixt nicht, wie Spargel von oben aussieht.
Die Gegend? Flach, parzelliert, zu 100 Prozent besessen. Hinter mir Haardt und dann der Pfälzer Wald. Gesicht gen Rhein gewandt, der nicht allzufern von hier, vielleicht zehn Kilometer weit weg fließt.
Endlich klappte es gestern früh, mich loszueisen aus dem heimischen, ziemlich durchwirkten Alltag. Eine lange benötigte Abstandstour. Noch letzte Woche hatte ich geliebäugelt, dieser Tage noch ein Stückchen Bayern zu umradeln, was ein Zeitfenster von mindestens einer Woche benötigt hätte. Die Tage gingen dahin und schon war Freitag, und das Wetter war auch nicht nach Knabenmorgenlangstreckenradeln.
Dann gestern zehn Uhr endlich auf dem Radel, das im Prinzip so gepackt ist, dass ich damit Wochen unterwegs sein könnte. Vielleicht liebäugele ich ja unterbewusst mit dem Ausbruch? Wie sonst könnte ich erklären, dass ich für drei Tage auch die Solarzelle eingepackt habe? Sieh es als einen Test, Herr Irgendlink, einen Technik-Test unter realen Bedingungen. Regenklamotten sind auch im Gepäck, Kocher, Essen, Autarkie pur, ein paar Scheine im Geldbeutel. So schaukele ich das sonntägliche Lambsbachtal hinauf zum ersten ‚Stich‘, zum ersten kleinen Pass oberhalb des Dörfchens Lambsborn, von wo sich der Radweg, wenige hundert Meter der Rheinland-Pfalz-Radroute folgend, über einen nassbelaubten Teerweg steil hinabstürzt in den Homburger oder Landstuhler oder Kaiserslauterer Bruch. Weiß gar nicht, wie der Bruch denn nun wirklich heißt, der mal ein Moor war und unterhalb den Hügeln der Sickinger Höhe nordostwärts nach Kaiserslautern führt. Regen. Tse. Kann doch nicht sein, aber nur ein paar Tropfen. Sonntagsradler schließen die Lücke, die findige Schilderaufsteller im Radwegenetzt hinterlassen haben: Da lang, Junge, dann links, Hütschenhausen, Ramstein, Mackenbach.
Alles dominierend die Airbase Ramstein. Kilometerweit führt der Radweg entlang eines Schutzzauns mit viel Stacheldraht und Schildern alle paar zig Meter, auf denen groß geschrieben steht, Schusswaffengebrauch und es rumpeln die Flugzeuge beim Start alles durchdringend und es gleiten die landenden riesigen Transporter ungewöhnlich leise im Sinkflug. Bei Spesbach erreiche ich den Barbarossaradweg. Neunzig Kilometer lang sei er etwa, steht auf einer Infotafel, benannt nach Friedrich Brabarossa. Er verbindet den Glan-Blies-Radweg nördlich des Pfälzer Walds mit der Oberrheinebene, mit dieser Gemüseanbau-Gewalttat, in der ich jetzt zelte. Leidlich beschildert mit roten Kaiser Barbarossa-Symbolen. Meist Waldwege. Viel Sand, herbstliche Feuchte, Matsch, Spritzer. Ein Massaker der feinen Art. Enkenbach-Alsenborn. Dort entspringt das Bächlein Alsenz, in dessen Tal ich aufwuchs, das nach Norden fließt. Ein außergewöhnliches Ensemble ziert einen Kreisverkehr: die Skulptur eines Elefanten. Hinter dem Tier an Riemen ein alter Pflug, der von einer Bauernfigur geführt wird. Ein Infoschild gibt Auskunft. Elefant Sam, der den ersten Weltkrieg ebenso nicht überlebte, wie viele der Artisten eines in Enkenbach-Alsenborn ansässigen Zirkus, wurde während der Kriegsjahre eingesetzt, um die Felder zu pflügen. Genutzt hat es ihm nichts. Zusamen mit einem weiteren Elefanten des Zirkus ist das Tier in der Zeit des Mangels und der Turbulenzen elend verhungert.
Vorbei am kleinen Zirkusmuseum und der Alsenzquelle steigt der Radweg auf Sandwegen durch Wald mächtig an, so dass ich Zuckerphantasien entwickele. Von Himbeertorte träume, während mich gemütlich ein Rentner auf dem Ebike übertholt, mich anfeuert, mir Mut macht, bald geschafft. Dann werde ich das Alsenztal verlassen haben und den – ich glaube, er heißt Eisbach, abwärts rollen. Richtung Rheinebene. Wasserscheide des kleinen Mannes. Stets im Wald, vorbei an einem Weiher namens Eiswoog, einem beliebten Ausflugsziel mit entsprechend vielen Menschen auf dem Weg. Ein Slalom. Kilometerweit folgt der Radweg einer alten Schmalspurbahn Richtung Ramsen. Im Wald stehen Schilder, die die ehemaligen Haltestellen anzeigen. Forsthaus zum Beispiel.
Ab Eisenberg wirds flacher, weitet sich das Land, dystopiert der Tag vollends in einer blassen, streng parzellierten Gegend zwischen Weindörfern, Wingertszeilen und viel Gemüseanbau und herbstlich karg daliegenden Feldern. Ein sonntagsoffenes Café am Marktplatz. Es heißt Barbarossa. Der Tag ist gelaufen, sagt die Verkäuferin. Erschöpfte kleine Frau. Kurz vor fünf. Dennoch hat sie noch ein Stück Himbeertorte und einen Kaffee für mich. Draußen röhren die tiefergelegten Karren der Nordpfalzmännlein zu Füßen der kollosalen katholischen Kirche. Entlang der Straße gehts weiter nach Grünstadt.
Irgendwas stimmt hier nicht, denke ich. Mein Gefühl will sich einfach nicht passen in die unheimlich warme Luft und die schon schräg stehende, milchige Sonne. Wie in einer Gebärmutter mag es sich anfühlen. Umlullt von körperwarmer Luft.
In Grünstadt prangt an der Wand eines Wohnblocks eine große Sonnenuhr, darunter die Schrift: Eine von ihnen ist auch Deine. Sie zeigt viertel vor fünf. Es ist viertel vor sechs.
Die Nachtlagersuche in der Dämmerung ist etwas kompliziert. Weit einsehbares Land. Erdig, unzeltbar oft, und ein Campingplatz an einem Badesee, den ich mehr der weniger absichtlich verpasse. Es ist Ferienzeit. Vielleicht viel los, vielleicht rumpeln die Wohnmobile, schallen die Wagenburgen, wer weiß. Auf dem Salierradweg radele ich Richtung Ludwigshafen, unterquere die Autobahn bei Lambsheim, finde diesen spitzen Stachel Natur neben einer Lagerhalle, vor der die Rohre des Bewässerungssystems liegen, die im Sommer zwischen den Zeilen des Kultivierten verlegt werden.
In Bechhofen in einer Straßenbaustelle ging dieses Motiv für meine Moorlander – The Machines-Serie ins Netz.
Endzeitlich martialisch die Werbung für einen Baumarkt auf der Plane eines Kleinlasters. Gefunden in Lambsborn.
Auf für meine Hochsitz-Linie gabs Futter an der Autobahn bei Kaiserslautern. Dystopie inklusive.
Denkmal für Pflugelefant Sam auf einem Kreisverkehr in Alsenborn.
Die katholische Kirche in Eisenberg hinter Fahnen.
Eisenberg war im späten Herbstlichen Abendlicht ein äußerst reizvolles Fotoobjekt.
Die herbstlich kargen Felder zwischen Ludwigshafen und Frankenthal.
Fast voller Mond über Oggersheim.
Danke fürs Mitfahrendürfen auf deinem Gepäckträger. Immer wieder gern.
Ich spür Dich.
Ich schliesse mich an. :)
Die meisten Orte hier kenne ich, habe ja früher Nähe KL gewohnt.
Der Hochsitz ist klasse. Sieht aus, als wäre er über einen zusammen gekrachten neu errichtet worden.
Hab gute Fahrt, ich folge lesend!
Stimmt, da liegen Hochitzreste davor. Hab übrigens einen Hochsitzkalender gestaltet, aber bin noch nicht zufrieden. Liebe Grüße.
Den will ich haben, bitte Bescheid geben!
:-)
Ich arbeite daran. Als Daily-Motiv im Format 12x 12 cm?
(Psst, meint Soja eher den Kalender mit Haben-will?)
Komm ich zu spät? Oder noch rechtzeitig, um Dir weiterhin gutes Radeln zu wünschen —
und dass die Abstände zwischen den Himb*kuchen-Stationen stets klein bleiben mögen?
Weißt Du, was Du damit anrichtest, das Wort Himb*kuchen so unverhohlen und wiederholt auszusprechen bzw. zu tweeten? Seit Montag nun suchen mich himbeerfarbene Kuchen-Phantasien heim, diese Mischung aus weich, süß, fruchtig, säuerlich und glibberig.
Gibts es eine dem Ohrwurm entsprechene Bezeichnung für das, was Du in meine Magen-Synapsen setztest?
Wie auch immer. Wo ich schon mal da bin, könnte ich mich vielleicht zumindest des Kibmib-Wort-Gedanken-Wälzens entledigen. Also Kibmib, lieber Irgenlink und liebe Sofasophia, war ziemlich sicher ein Kurzwort für „Künstler in Bewegung mit Baseball-Mütze“. Ich weiß nur nicht mehr, woher die Baseball-Mütze kam. Aber vielleicht findet sich die ja irgendwo.
Dir, Irgendlink, falls noch akut, gutes Weiterradeln. Falls schon wieder busy mit anderem, Drängendem: Auch dafür alles Gute.
Liebe Wünsche für Dich & Sofasophia
von der ehemaligen Hauptstadtethnologin & dem Hauptstadt-M-ologen.
Du kommst nie zu spät. Es wird immer weitergehen. Hoffe ich. Das mit der Baseballmütze, ich erinnere mich, passierte in Zickeritz. Ich hatte sie einem Jungen geschenkt, der so interessiert war an dem zeltenden Radler und wohin er wollte. Danke fürs Aufklären!